S. 153 / Nr. 35 Organisation der Bundesrechtspflege (d)

BGE 70 I 153

35. Urteil vom 21. Juni 1944 i. S. Einwohnergemeinde Bolligen gegen
Einwohnergemeinde Zuzwil und Regierungsrat des Kantons Bern.

Regeste:
Legitimation zur staatsrechtlichen Beschwerde (OG Art. 178 Ziff. 3). Eine
Gemeinde kann mit der staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung
verfassungsmässiger Rechte nicht einen

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Entscheid anfechten, durch den festgestellt wird, dass sie und nicht eine
andere Gemeinde einen Bedürftigen zu unterstützen habe.
Qualité pour former un recours de droit public (art. 178 ch. 3 OJ).
Une commune n'est pas recevable à former un recours de droit public pour
violation des droits constitutionnels contre une décision constatant que c'est
elle et non pas une autre commune qui doit supporter les frais d'assistance
d'un indigent.
Veste per interporre un ricorso di diritto pubblico (art. 178 cifra 3 OGF).
Un comune non ha veste per interporre un ricorso di diritto pubblico per
violazione dei diritti costituzionali contro una decisione, secondo cui esso e
non un altro comune deve sopportare le spese d'assistenza d'un indigente.

A. ­ Der bisher in seiner Heimatgemeinde Zuzwil (Kanton Bern) niedergelassene
Friedrich Rufer trat Ende Juli 1941 eine Stelle in Bolligen (Kanton Bern) an,
hinterlegte dort seinen Heimatschein und wurde am 24. August 1941 in das
Wohnsitzregister eingetragen. Im September 1941 verliess er Bolligen ohne
Abmeldung und meldete sich zum Arbeitsdienst. Als er in der Folge straffällig
wurde, ordnete das Obergericht des Kantons Bern durch Urteil vom 12. Juni 1942
seine Verwahrung in der Anstalt Thorberg an. Die Gemeinde Bolligen will hievon
wie auch von den Vorstrafen Rufers erst Kenntnis erhalten haben, als sie am
30. September 1943 um Bezahlung der Verwahrungskosten ersucht wurde.
Am 23. Oktober verfügte der Armeninspektor des Kreises 11, dass Rufer in das
Verzeichnis der dauernd Unterstützungsbedürftigen (Armenétat) der Gemeinde
Bolligen einzutragen sei. Darauf stellte die Gemeinde beim
Regierungsstatthalter II von Bern das Begehren, diese Eintragung sei auf den
1. Januar Bolligen für ihre Unterstützungsleistungen auf die frühere
Wohnsitzgemeinde Zuzwil Rückgriff nehmen könnte; § 104 des bernischen Gesetzes
über das Armen- und Niederlassungswesen vom 28. November 1897).
Der Regierungsstatthalter wies das Begehren der Gemeinde Bolligen wegen
fehlender

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Prozessvoraussetzung zurück, der Regierungsrat dagegen, an den die Gemeinde
rekurrierte, wies es nach materieller Prüfung als unbegründet ab.
B. ­ Gegen diesen am 2. Mai 1944 ergangenen Entscheid hat die Gemeinde
Bolligen rechtzeitig staatsrechtliche Beschwerde erhoben mit dem Begehren, der
angefochtene Entscheid sei wegen Verletzung von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV (Willkür) aufzuheben
und das Begehren der Rekurrentin um Rückdatierung der Etat-Auftragung Rufer
und nachherige Rückschreibung nach Zuzwil zu schützen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Die Legitimation der Rekurrentin zur Erhebung der vorliegenden
staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV (die als rein
kassatorisches Rechtsmittel nur zur Aufhebung des angefochtenen Entscheides
führen könnte) bestimmt sich nicht danach, ob der Rekurrentin im kantonalen
Verfahren Parteistellung zukam, sondern ausschliesslich nach den Vorschriften
des OG (BGE 59 I 80, 65 I 131 E. 1).
Da die verfassungsmässigen Freiheitsrechte mit Einschluss der Rechtsgleichheit
ihrem Wesen nach dazu bestimmt sind, die einzelnen Bürger und Korporationen
gegen die öffentliche Gewalt zu schützen, kann die Gemeinde, die selbst
Trägerin öffentlicher Gewalt ist, nur insoweit als Inhaberin
verfassungsmässiger Rechte und damit zur staatsrechtlichen Beschwerde
legitimiert gelten, als ein Erlass oder Entscheid sie in gleicher Weise
rechtlich trifft wie eine Privatperson oder sie in ihrer Autonomie verletzt
(KIRCHHOFER, ZSR 55 S. 176). Das ist nicht der Fall bei einem Entscheid der
nach dem kantonalen Recht zuständigen Behörde über Steueransprüche der
Gemeinde (BGE 65 I 131 ff.). Nicht anders verhält es sich, wenn die Abgrenzung
der öffentlichrechtlichen Kompetenzen und Lasten einer Gemeinde gegenüber
denjenigen einer andern Gemeinde streitig sind. Das Bundesgericht hat daher
einer Gemeinde die Befugnis

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abgesprochen, einen die Steuerhoheit zweier Gemeinden gegeneinander
abgrenzenden Entscheid durch staatsrechtliche Beschwerde anzufechten (BGE 68 I
85
). Dasselbe muss auch gelten gegenüber einer Verfügung, wodurch die
zuständige Behörde darüber entscheidet, welche von zwei Gemeinden einen
Bedürftigen zu unterstützen habe (nicht veröffentlichtes Urteil des
Bundesgerichtes vom 15. April 1943 i. S. Vissoie und Grimentz). Die
Armenpflege ist nicht in das Belieben der Gemeinden gestellt, sondern eine
öffentliche Aufgabe, zu deren Erfüllung sie. nach kantonalem Recht
verpflichtet sind und an deren Kosten der kantonale Staat regelmässig Beiträge
leistet (vgl. Art. 91
SR 131.212 Verfassung des Kantons Bern, vom 6. Juni 1993
KV/BE Art. 91 - Der Regierungsrat kann ohne gesetzliche Grundlage Massnahmen ergreifen, um eingetretenen oder unmittelbar drohenden Störungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sowie sozialen Notständen zu begegnen. Verordnungen sind sofort durch den Grossen Rat genehmigen zu lassen; sie fallen spätestens ein Jahr nach ihrem Inkrafttreten dahin.
bern. KV und §§ 38 ff. ANG). Durch den Entscheid, der
die Armenunterstützungspflicht einer Gemeinde dem Bestand oder Umfang nach
festsetzt, wird die Gemeinde somit nicht gleich einer Privatperson betroffen,
sondern als mit der Erfüllung einer Staatsaufgabe betrauter öffentlicher
Verband. In dieser Eigenschaft stehen ihr aber keine verfassungsmässigen
Individualrechte zu, die durch einen von der zuständigen Behörde gefällten
Entscheid verletzt sein könnten; streitig ist lediglich die Anwendung
objektiven Rechts, nämlich der massgebenden verwaltungsrechtlichen
Vorschriften.
Demnach erkennt das Bundesgericht . Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 70 I 153
Datum : 01. Januar 1943
Publiziert : 20. Juni 1944
Quelle : Bundesgericht
Status : 70 I 153
Sachgebiet : BGE - Verwaltungsrecht und internationales öffentliches Recht
Gegenstand : Legitimation zur staatsrechtlichen Beschwerde (OG Art. 178 Ziff. 3). Eine Gemeinde kann mit der...


Gesetzesregister
BV: 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
StV/BE: 91
SR 131.212 Verfassung des Kantons Bern, vom 6. Juni 1993
KV/BE Art. 91 - Der Regierungsrat kann ohne gesetzliche Grundlage Massnahmen ergreifen, um eingetretenen oder unmittelbar drohenden Störungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sowie sozialen Notständen zu begegnen. Verordnungen sind sofort durch den Grossen Rat genehmigen zu lassen; sie fallen spätestens ein Jahr nach ihrem Inkrafttreten dahin.
BGE Register
59-I-77 • 65-I-129 • 68-I-84 • 70-I-153
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
gemeinde • staatsrechtliche beschwerde • bundesgericht • grundrecht • privatperson • legitimation • kantonales recht • wiese • regierungsrat • entscheid • unterstützungspflicht • bundesrechtspflegegesetz • beendigung • öffentlichrechtliche aufgabe • sozialhilfe • sozialhilfeleistung • stelle • kenntnis • eigenschaft • kv
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