S. 385 / Nr. 61 Erbrecht (d)

BGE 69 II 385

61. Urteil der II. Zivilabteilung vom 11. November 1943 i. S. Rychen und
Genossen gegen Bolinger.


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Regeste:
Bäuerliches Erbrecht, Art. 620 ff . ZGB.
Art. 621 Abs. 2: Selbstbetrieb liegt vor bei persönlicher Leitung, auch wenn
diese zur Leitung eines andern landwirtschaftlichen Gewerbes tritt und die
beiden Gewerbe zu einer Betriebsgemeinschaft verbunden werden.
Art. 621 Abs. 3: Die Söhne haben das Vorrecht vor allen andern, männlichen
sowie weiblichen, nachkommen des Erblassers.
Art. 2: Ist die Ausübung des Vorrechts missbräuchlich, wenn der Ansprecher
bereits ein Landgut besitzt, das ihm eine reichliche Existenz bietet?
Jedenfalls nicht bei blossem Pachtbesitz.
Partage successoral. Exploitations agricoles. Art. 620 et suiv. et 2 CC.
Celui qui dirige personnellement l'exploitation la fait valoir lui-même, dans
le sens de l'art. 621 al. 2 CC, lors même qu'à cette direction est jointe
celle d'une autre exploitation et que les deux exploitations constituent une
unité économique.
Art. 621 al. 3: Les fils ont un droit de préférence sur tous les autres
descendants mâles ou femelles du défunt.
Art. 2: Y a-t-il abus dans l'exercice du privilège lorsque celui qui
revendique l'attribution du domaine possède déjà un bien rural qui lui assure
une large existence? En tout cas pas lorsqu'il ne le possède qu'en qualité de
simple locataire.
Divisione ereditaria. Aziende agricole. Art. 620 e 2 CC.
Colui che dirige personalmente l'azienda, la esercita ai sensi dell'art. 621
op. 2 CC anche se a questa direzione si aggiunga quella d'un'altra azienda e
le due aziende formino un'unità economica.
Art. 621 op. 3 CC: I figli hanno un diritto preferenziale rispetto a tutti gli
altri discendenti maschi o femmine del defunto.
Art. 2 CC: Esiste abuso nell' esercizio del diritto preferenziale, qualora chi
pretende l'attribuzione dell'azienda possegga già un fondo agricolo che gli
assicura largamente l'esistenza? La risposta dev'essere negativa quando lo
possiede soltanto come affittuario.

A. ­ Am 8. Juli 1937 starb der Landwirt Jakob Rychen-Wenger in Kaiseraugst. Er
hinterliess als Erben zwei Töchter aus erster und drei Söhne und zwei Töchter
aus zweiter Ehe. Er hatte als Pächter ein Landgut von 80 Jucharten, den
Asphof, bewirtschaftet. Im Jahre 1930 hatte er dann ein kleineres Gut, den
jetzt im Streite liegenden Violenhof von 12 1/2 Jucharten, etwa 800 Meter vom
Asphof entfernt und von dort aus in zehn Minuten erreichbar, zu Eigentum
erworben und sich dorthin

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zurückgezogen, während ihm sein Sohn Jakob, geboren 1898, als Pächter des
Asphofes nachgefolgt war.
B. ­ Dieser Sohn erhob nach Eintritt des Erbfalles Anspruch auf den Violenhof
nach bäuerlichem Erbrecht. Neben ihm trat als Ansprecherin eine Tochter aus
erster Ehe des Erblassers, Anna Bolinger-Rychen, auf. Sie starb indessen vor
rechtskräftiger Erledigung des Streites, und ein Eintritt ihrer Erben oder
einzelner von ihnen in den Prozess wurde vom Obergericht des Kantons Aargau
als unzulässig abgelehnt.
C. ­ Nun klagte ihr ältester Sohn Oswald Bolinger, geboren 1918, gegen den
erwähnten ersten Ansprecher Jakob Rychen-Rickli. Er stützte sich auf
Zustimmungserklärungen seines Vaters und seiner Geschwister und richtete die
Klage anderseits auch gegen die Geschwister des Jakob Rychen. Diese
beantragten gemeinsam mit Jakob Rychen die Zuweisung des Violenhofes an
diesen. Das Bezirksgericht Rheinfelden und das Obergericht des Kantons Aargau
schützten indessen den Anspruch des Klägers, im wesentlichen aus dem Grunde,
dass dieser auf den Violenhof ziehen und sich dort eine Existenz schaffen
wolle, während der Beklagte die Pacht des Asphofes zu behalten und dort
weiterhin zu wohnen wünsche.
D. ­ Mit der vorliegenden Berufung erneuern die Beklagten und Widerkläger den
Antrag auf Zuweisung des Violenhofes mit dem landwirtschaftlichen Inventar an
Jakob Rychen. Dieser lässt sich wie schon in den kantonalen Instanzen dabei
behaften, dass er sich Fr. 56000.- abzüglich der Pfandschulden von Fr. 40000.-
anrechnen lassen werde, auch wenn der Ertragswert niedriger geschätzt würde.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. ­ (Prozessuales.)
2. ­ Die Entscheidung des Obergerichtes, wonach der Kläger den Vorzug
verdient, stützt sich auf Art. 621 Abs. 2 ZGB. Darnach haben Anspruch auf
ungeteilte Zuweisung

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eines landwirtschaftlichen Gewerbes in erster Linie solche Erben, die es
selbst betreiben wollen. Das Obergericht findet, dies treffe beim Kläger,
nicht aber beim Beklagten Jakob Rychen zu. Die von diesem beabsichtigte Art
der Betriebsführung könne nicht als Selbstbetrieb gelten. Es ist richtig, dass
der Betrieb auf eigene Rechnung und Gefahr, also ohne Verpachtung, noch nicht
den Selbstbetrieb im Sinne des Gesetzes ausmacht. So wäre der Selbstbetrieb zu
verneinen in dem von TUOR, ZU Art. 620 N. 18, geschilderten Falle, dass «der
Erbe durch einen Verwalter und Angestellte den Betrieb führt, selbst darin
sich nicht betätigt, sondern etwa weit davon entfernt in der Stadt wohnt, von
den Renten lebt oder einem andern Beruf sich hingibt». In diesem Falle
befindet sich aber Jakob Rychen nicht. Er gedenkt neben dem Pachtgut Asphof
auch den Violenhof unter seine persönliche Leitung zu nehmen. Dazu ist er als
erfahrener Landwirt befähigt. Die geringe Entfernung ermöglicht die gemeinsame
Betriebsleitung. Auch ist nicht einzusehen, dass sich die Arbeit nicht sollte
so organisieren lassen, dass die Leitung beider Heimwesen durch denselben
Landwirt tatsächlich ausgeübt werden kann. Es steht daher nicht entgegen, dass
Jakob Rychen weiterhin auf dem Asphofe wohnen will, während den untern Stock
des Violenhofes nach seiner Absicht die ledige Schwester Marie, geboren 1896,
bewohnen soll, die schon mit dem Vater auf dem Violenhof lebte, und die
Vermietung des obern Stockes an Hausleute vorgesehen ist. Die Leitung, wie sie
Jakob Rychen vorhat, genügt dem Begriffe des Selbstbetriebes. Endlich
verschlägt es nichts, dass er vermutlich aus den beiden Höfen eine innige
Betriebsgemeinschaft machen will; denn Selbstbetrieb bedeutet nur Betrieb
durch den Übernehmer selbst, nicht notwendig Betrieb als selbständiges, mit
keinem andern zusammenhängendes Gewerbe.
3. ­ In der erörterten Beziehung sind also die Voraussetzungen zur Übernahme
des Violenhofes in der Person des einen wie des andern Ansprechers gegeben.
Sodann

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ist unbestritten, dass beide zum Betriebe geeignet sind, was nach Art. 620 ZGB
erste Voraussetzung eines Anspruches auf Zuweisung ist. Wäre angesichts dieser
Sachlage (beim Fehlen eines bestimmten Ortsgebrauches) einfach nach den
persönlichen Verhältnissen der Erben zu entscheiden (Art. 621 Abs. 1), so
erschiene allerdings die Zuweisung an den Kläger gerechtfertigt. Er möchte auf
dem Violenhof wohnen und sich dort eine landwirtschaftliche Existenz schaffen,
während der Beklagte Jakob Rychen bereits eine solche Existenz als Pächter des
Asphofes hat und vermutlich behalten wird (vgl. BGE 56 II 253). Allein einer
solchen Entscheidung steht das bessere Anrecht entgegen, das dem Jakob Rychen
auf Grund von Art. 621 Abs. 3 zusteht.
Vorerst ist fraglich, ob der Kläger überhaupt als Erbe seines Grossvaters
auftreten kann, um das bäuerliche Erbrecht für sich in Anspruch zu nehmen.
Beim Eintritt dieses Erbfalles lebte ja noch seine Mutter. Diese, dagegen
nicht ihre Kinder gehörten zu den von Vater Rychen-Wenger hinterlassenen
Erben. Der Erbanteil der Frau Bolinger-Rychen ist freilich nun auf ihre
eigenen Erben übergegangen, zu denen der Kläger gehört. Daraus folgt aber
nicht ohne weiteres, dass diese Erben nun auch Erben des Vaters Rychen-Wenger
geworden seien. Würde dies angenommen, so müsste als solcher Erbe auch der
Ehemann der Frau Bolinger anerkannt werden, der nicht hätte Erbe des Vaters
Rychen werden können, wenn Frau Bolinger diesem im Tode vorausgegangen wäre.
Zudem würde sich fragen, ob das Vorrecht des Beklagten Jakob Rychen-Rickli, so
wie es nach Art. 621 Abs. 3 gegenüber seiner Schwester Frau Bolinger
offenkundig bestand, nach deren Tode nun nicht auch gegenüber deren Erben
anzuerkennen sei. Das Obergericht lässt diese Fragen unerörtert, und gewiss
bestehen Gründe für eine freiere Anwendung des Gesetzes. Dieses zieht in den
Art. 620 ff. die Erbenstellung, die Fähigkeiten und sonstigen Verhältnisse der
die Übernahme des landwirtschaftlichen Gewerbes begehrenden

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Erben als solcher in Betracht, nicht die Verhältnisse ihrer Vorfahren. Daraus
möchte gefolgert werden, es komme einfach auf die jetzt, zur Zeit der
Erbteilung, bestehende Sachlage an. So könnte der Kläger allenfalls einen
Anspruch auf Zuweisung des Violenhofes unter den gleichen Voraussetzungen
erheben, wie wenn seine Mutter vor dem Grossvater gestorben und er (neben
seinen Geschwistern) direkt dessen Erbe geworden wäre. Es mag dahingestellt
bleiben, ob solche Betrachtungsweise zulässig sei. Auch auf dieser Grundlage
wäre nämlich das Anrecht des Beklagten Jakob Rychen stärker als dasjenige des
Klägers.
Aus Art. 621 Abs. 3 ZGB ergibt sich zwar unmittelbar nur ein Vorrecht der
Söhne des Erblassers gegenüber den Töchtern. Wie weit dieser Vorschrift auch
gegenüber entfernteren Nachkommen Bedeutung zukomme, ist umstritten. TUOR (ZU
Art. 621 N. 19) will nur zugeben, dass wie eine Tochter so auch eine Enkelin
einem Sohn im Rang nachgehen müsse. «Höchstens könnte vielleicht dem Sohne
auch gegenüber Söhnen einer vorverstorbenen Tochter der Vorrang eingeräumt
werden» (was gerade hier in Frage kommt). BOREL (Das bäuerliche Erbrecht des
schweizerischen ZGB, 3. Auflage Seiten 88 ff.) und ESCHER (zu Art. 621 N. 12
ff.) folgern dagegen aus Art. 621 Abs. 3 ein Recht der Töchter, das allen
entfernteren Erben vorgehe und nur vor dem Vorrecht der Söhne zu weichen habe
(abgesehen von der hier nicht zu erörternden Stellung des überlebenden
Ehegatten). Dieser Auffassung geben auch einige Entscheidungen des
Bundesgerichtes Raum (BGE 42 II 426, 44 II 237, 50 II 459). Geht man von einem
solchen Recht der Töchter aus, so muss natürlich auch das noch stärkere Recht
der Söhne den Ansprüchen entfernterer Nachkommen im Range vorgehen. Letzteres
würde aber auch dann zutreffen, wenn man die erwähnte Vorschrift dahin
auslegen wollte, den Töchtern stehe, wenn kein dazu geeigneter Sohn das
Gewerbe zum Selbstbetrieb übernehmen wolle, ein Recht auf Übernahme zu, ohne
dass ihnen damit grundsätzlich ein Vorrecht gegenüber entfernteren

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Nachkommen zuerkannt wäre. Das würde bedeuten, nicht nur Töchter, sondern mit
gleichem Recht auch entferntere Nachkommen seien befugt, das Gewerbe für sich
zu beanspruchen, aber eben nur im Nachgang zum Recht der Söhne. Die Annahme,
entferntere, etwa alle männlichen Nachkommen, seien den Söhnen gleichgestellt,
ist mit dem Text des Gesetzes nicht zu vereinbaren. Den Söhnen kommt darnach
das erste Anrecht vor allen andern Nachkommen zu, Eignung und Wille zum
Selbstbetrieb vorausgesetzt, wie sie nach den früheren Ausführungen beim
Beklagten Jakob Rychen gegeben sind.
Der gesetzlichen Rangfolge nach Art. 621 Abs. 3 können, wie längst entschieden
wurde, abweichende Ortsgebräuche oder Billigkeitsgründe, nämlich Rücksichten
auf die persönlichen Verhältnisse der Erben (Art. 621 Abs. 1) nicht
entgegengehalten werden (BGE 42 II 426).
4. ­ Etwas anderes aber vermag der Kläger zu seinen Gunsten nicht anzuführen.
Die Einrede des Rechtsmissbrauches (Art. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
1    Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
2    Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.
ZGB) ist nicht begründet. An der
Übernahme des Violenhofes hat der Beklagte Jakob Rychen zweifellos ein
Interesse. Der Kläger meint, dieses Interesse halte den Vergleich mit dem
seinigen nicht aus; das bäuerliche Erbrecht sei nicht dazu da, um einem
Landwirt, der bereits eine ausreichende, ja gute landwirtschaftliche Existenz
habe, noch ein weiteres Landgut zu verschaffen, jedenfalls nicht in Konkurrenz
mit einem andern geeigneten Bewerber, der mit der Übernahme des betreffenden
Gutes erst zu einer bescheidenen Existenz käme. Zu dieser Einwendung ist
indessen nicht Stellung zu nehmen. Sie erledigt sich damit, dass Jakob Rychen
eben nur ein Pachtgut bewirtschaftet. Am Erwerb eigenen Landes hat er nicht
nur etwelches, sondern ein erhebliches Interesse, was die Einrede des
Rechtsmissbrauches ausschliesst. Es ist ihm übrigens vor allem darum zu tun,
durch solchen Landerwerb für seine derzeit noch unmündigen Söhne zu sorgen,
was gleichfalls als schutzwürdiges Interesse zu gelten verdient.

Seite: 391
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichtes des Kantons
Aargau vom 17. September 1943 aufgehoben, die Klage abgewiesen und die
Widerklage zugesprochen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 69 II 385
Datum : 01. Januar 1942
Publiziert : 11. November 1943
Quelle : Bundesgericht
Status : 69 II 385
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Bäuerliches Erbrecht, Art. 620 ff. ZGB.Art. 621 Abs. 2: Selbstbetrieb liegt vor bei persönlicher...


Gesetzesregister
ZGB: 2 
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
1    Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
2    Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.
620  621
BGE Register
42-II-426 • 44-II-237 • 50-II-459 • 56-II-249 • 69-II-385
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
erbe • beklagter • nachkomme • vorrecht • vater • bäuerliches erbrecht • wille • landwirt • geschwister • erblasser • aargau • bundesgericht • frage • betriebsleitung • rang • tod • vermutung • persönliche verhältnisse • rechtsmissbrauch • mutter • ehe • ehegatte • pacht • entscheid • kind • landwirtschaftsbetrieb • arbeitnehmer • dauer • unternehmung • vorfahre • einwendung • ertragswert • erbrecht • ortsgebrauch • widerklage • eigentum • inventar • maler • hinterlassener • richtigkeit • biene • treffen
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