S. 243 / Nr. 40 Obligationenrecht (d)

BGE 69 II 243

40. Urteil der I. Zivilabteilung vom 29. Juni 1943 i. S. Louis Willen A.-G.
gegen RURO A.-G.


Seite: 243
Regeste:
Positive Vertragsverletzung beim zweiseitigen Vertrag.
Die vor der Fälligkeit ihrer Verpflichtung von einer Partei abgegebene
Erklärung, sie werde den Vertrag nicht erfüllen, stellt eine positive
Vertragsverletzung dar, auf Grund deren der Gegenpartei die Rechte aus Art.
107 ff
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 107 - 1 Wenn sich ein Schuldner bei zweiseitigen Verträgen im Verzuge befindet, so ist der Gläubiger berechtigt, ihm eine angemessene Frist zur nachträglichen Erfüllung anzusetzen oder durch die zuständige Behörde ansetzen zu lassen.
1    Wenn sich ein Schuldner bei zweiseitigen Verträgen im Verzuge befindet, so ist der Gläubiger berechtigt, ihm eine angemessene Frist zur nachträglichen Erfüllung anzusetzen oder durch die zuständige Behörde ansetzen zu lassen.
2    Wird auch bis zum Ablaufe dieser Frist nicht erfüllt, so kann der Gläubiger immer noch auf Erfüllung nebst Schadenersatz wegen Verspätung klagen, statt dessen aber auch, wenn er es unverzüglich erklärt, auf die nachträgliche Leistung verzichten und entweder Ersatz des aus der Nichterfüllung entstandenen Schadens verlangen oder vom Vertrage zurücktreten.
. OR analog zustehen. Anforderungen an die Unverzüglichkeit der
Wahlerklärung.
Violation positive d'un contrat bilatéral.
La partie qui déclare avant l'exigibilité de son obligation qu'elle ne
l'exécutera point, viole positivement le contrat et permet à la partie adverse
d'agir analogiquement selon les art. 107 et sv. CO. Exigence du choix
immédiat.
Violazione positiva d'un contratto bilaterale.
La parte che, prima dell'esigibilità della sua obbligazione, dichiara che non
l'adempirà, viola positivamente il contratto e dà alla controparte il diritto
di agire analogicamente secondo gli art. 107 e seg. CO. Necessità della scelta
immediata.

Aus dem Tatbestand:
Die Firma Louis Willen A.-G. verpflichtete sich, von der Firma RURO A.-G.
während bestimmter Zeit jährlich 200 Stück eines Spezialapparates für
Schönheitspflege zu beziehen. Sie nahm jedoch schon im ersten Jahr nur einen
Teil ab mit der Begründung, der Apparat sei mangelhaft, und wenn die
Lieferantin die Mängel nicht behebe, werde sie den Vertrieb einstellen und bei
gerichtlichem Vorgehen der Lieferantin gegen sie Widerklage auf Ersatz ihrer
Aufwendungen erheben. Die RURO A.-G. setzte der Willen A.-G. Nachfrist zur
Abnahme an, nach deren Ablauf sie unter Berufung auf Art. 107 ff
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 107 - 1 Wenn sich ein Schuldner bei zweiseitigen Verträgen im Verzuge befindet, so ist der Gläubiger berechtigt, ihm eine angemessene Frist zur nachträglichen Erfüllung anzusetzen oder durch die zuständige Behörde ansetzen zu lassen.
1    Wenn sich ein Schuldner bei zweiseitigen Verträgen im Verzuge befindet, so ist der Gläubiger berechtigt, ihm eine angemessene Frist zur nachträglichen Erfüllung anzusetzen oder durch die zuständige Behörde ansetzen zu lassen.
2    Wird auch bis zum Ablaufe dieser Frist nicht erfüllt, so kann der Gläubiger immer noch auf Erfüllung nebst Schadenersatz wegen Verspätung klagen, statt dessen aber auch, wenn er es unverzüglich erklärt, auf die nachträgliche Leistung verzichten und entweder Ersatz des aus der Nichterfüllung entstandenen Schadens verlangen oder vom Vertrage zurücktreten.
. OR vom
Vertrage zurücktrat und Klage auf Ersatz des entgangenen Gewinnes erhob. Die
Beklagte beantragte Abweisung der Klage und verlangte widerklageweise Ersatz
ihrer Aufwendungen für Reklame und Propaganda, sowie des entgangenen Gewinns.
Das Bezirksgericht Zürich wies die Klage ab, da die Beklagte wegen
Mangelhaftigkeit des Apparates zu weiterer Abnahme nicht verpflichtet gewesen
sei, und schützte die Widerklage grundsätzlich. Auf Berufung der Klägerin hin
bestätigte das Obergericht Zürich das Urteil hinsichtlich der Hauptklage, wies
aber die Widerklage ebenfalls ab.

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Das Bundesgericht heisst die Berufung der Beklagten gut und stellt das Urteil
der 1. Instanz wieder her.
Aus den Erwägungen:
4.- Die von der Berufungsbeklagten vor der Fälligkeit ihrer Verpflichtung
erklärte Erfüllungsverweigerung stellte, wie die Vorinstanz zutreffend
angenommen hat, eine positive Vertragsverletzung dar, nämlich eine Verletzung
der allgemeinen Pflicht jeder Vertragspartei, alle Handlungen zu unterlassen,
welche geeignet sind, den Vertragszweck zu gefährden oder zu vereiteln. Zur
Gefährdung oder Vereitelung des Vertragszwecks geeignet war die zum
vorneherein erklärte Erfüllungsverweigerung der Berufungsbeklagten deshalb,
weil durch sie das Vertrauen des Beklagten in die Vertragstreue der
Gegenpartei notgedrungen zerstört werden musste.
Im Anschluss hieran führt die Vorinstanz sodann aus, nach der Lehre von der
positiven Vertragsverletzung habe der Berufungsklägerin gemäss analoger
Anwendung von Art. 107
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 107 - 1 Wenn sich ein Schuldner bei zweiseitigen Verträgen im Verzuge befindet, so ist der Gläubiger berechtigt, ihm eine angemessene Frist zur nachträglichen Erfüllung anzusetzen oder durch die zuständige Behörde ansetzen zu lassen.
1    Wenn sich ein Schuldner bei zweiseitigen Verträgen im Verzuge befindet, so ist der Gläubiger berechtigt, ihm eine angemessene Frist zur nachträglichen Erfüllung anzusetzen oder durch die zuständige Behörde ansetzen zu lassen.
2    Wird auch bis zum Ablaufe dieser Frist nicht erfüllt, so kann der Gläubiger immer noch auf Erfüllung nebst Schadenersatz wegen Verspätung klagen, statt dessen aber auch, wenn er es unverzüglich erklärt, auf die nachträgliche Leistung verzichten und entweder Ersatz des aus der Nichterfüllung entstandenen Schadens verlangen oder vom Vertrage zurücktreten.
/108
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 108 - Die Ansetzung einer Frist zur nachträglichen Erfüllung ist nicht erforderlich:
1  wenn aus dem Verhalten des Schuldners hervorgeht, dass sie sich als unnütz erweisen würde;
2  wenn infolge Verzuges des Schuldners die Leistung für den Gläubiger nutzlos geworden ist;
3  wenn sich aus dem Vertrage die Absicht der Parteien ergibt, dass die Leistung genau zu einer bestimmten oder bis zu einer bestimmten Zeit erfolgen soll.
OR ein Rücktrittsrecht und nach Art. 109
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 109 - 1 Wer vom Vertrage zurücktritt, kann die versprochene Gegenleistung verweigern und das Geleistete zurückfordern.
1    Wer vom Vertrage zurücktritt, kann die versprochene Gegenleistung verweigern und das Geleistete zurückfordern.
2    Überdies hat er Anspruch auf Ersatz des aus dem Dahinfallen des Vertrages erwachsenen Schadens, sofern der Schuldner nicht nachweist, dass ihm keinerlei Verschulden zur Last falle.
OR ein
Anspruch auf das negative Vertragsinteresse zugestanden. Sie hat dann jedoch
den Anspruch der Berufungsklägerin abgewiesen mit der Begründung, diese habe
in ihren Rechtsschriften nirgends geltend gemacht, dass sie den Rücktritt
erklärt habe, was zum Fundament der Widerklage gehört hätte.
Diese Argumentation der Vorinstanz beruht jedoch auf der rechtlich
unzutreffenden Voraussetzung, dass die unberechtigte Erfüllungsverweigerung
der einen Vertragspartei der andern nur das Recht zum Rücktritt vom Vertrag
verschaffe, während dieser auf Grund der analogen Anwendbarkeit von Art. 107
ff
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 107 - 1 Wenn sich ein Schuldner bei zweiseitigen Verträgen im Verzuge befindet, so ist der Gläubiger berechtigt, ihm eine angemessene Frist zur nachträglichen Erfüllung anzusetzen oder durch die zuständige Behörde ansetzen zu lassen.
1    Wenn sich ein Schuldner bei zweiseitigen Verträgen im Verzuge befindet, so ist der Gläubiger berechtigt, ihm eine angemessene Frist zur nachträglichen Erfüllung anzusetzen oder durch die zuständige Behörde ansetzen zu lassen.
2    Wird auch bis zum Ablaufe dieser Frist nicht erfüllt, so kann der Gläubiger immer noch auf Erfüllung nebst Schadenersatz wegen Verspätung klagen, statt dessen aber auch, wenn er es unverzüglich erklärt, auf die nachträgliche Leistung verzichten und entweder Ersatz des aus der Nichterfüllung entstandenen Schadens verlangen oder vom Vertrage zurücktreten.
. OR die sämtlichen dort genannten Rechtsbehelfe zu Gebote stehen, soweit
wenigstens die besonderen Verhältnisse ihre Anwendung gestatten. Die Partei,
deren Vertragsgegner vorzeitig erklärt, dass er den Vertrag nicht erfüllen
werde, kann daher entweder vom Vertrag zurücktreten und das negative Interesse
geltend

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machen, oder statt dessen auf der Erfüllung des Vertrags beharren - (aber
nicht Schadenersatz wegen Verspätung verlangen, solange die Verpflichtung des
Gegners noch nicht fällig ist) - oder sie kann endlich auf die Erfüllung
verzichten und an ihrer Stelle Schadenersatz wegen Nichterfüllung verlangen,
worunter nach allgemein anerkannter Auffassung das positive Vertragsinteresse
oder Erfüllungsinteresse zu verstehen ist.
Von diesem Wahlrecht hat nun die Berufungsklägerin dadurch Gebrauch gemacht,
dass sie auf die Klage der RURO A.-G. hin Widerklage erhob, mit der sie Ersatz
des entgangenen Gewinns verlangte. Da der entgangene Gewinn nur im Rahmen des
Erfüllungsinteresses, niemals dagegen im Rahmen des negativen Interesses
gefordert werden kann, gab die Berufungsklägerin durch diese Formulierung
ihres Begehrens unmissverständlich zu erkennen, dass sie auf die Erfüllung
verzichten und an deren Stelle Schadenersatz wegen Nichterfüllung verlangen
wolle. Eine solche Abgabe der Wahlerklärung durch konkludentes Verhalten ist
durchaus zulässig und genügend.
5.- Art. 107
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 107 - 1 Wenn sich ein Schuldner bei zweiseitigen Verträgen im Verzuge befindet, so ist der Gläubiger berechtigt, ihm eine angemessene Frist zur nachträglichen Erfüllung anzusetzen oder durch die zuständige Behörde ansetzen zu lassen.
1    Wenn sich ein Schuldner bei zweiseitigen Verträgen im Verzuge befindet, so ist der Gläubiger berechtigt, ihm eine angemessene Frist zur nachträglichen Erfüllung anzusetzen oder durch die zuständige Behörde ansetzen zu lassen.
2    Wird auch bis zum Ablaufe dieser Frist nicht erfüllt, so kann der Gläubiger immer noch auf Erfüllung nebst Schadenersatz wegen Verspätung klagen, statt dessen aber auch, wenn er es unverzüglich erklärt, auf die nachträgliche Leistung verzichten und entweder Ersatz des aus der Nichterfüllung entstandenen Schadens verlangen oder vom Vertrage zurücktreten.
OR verpflichtet den Anspruchsberechtigten, seine Wahlerklärung
«unverzüglich» abzugeben. Auch diesem Erfordernis genügt die in der Erhebung
der Widerklage liegende Erklärung. Zwar hatte die Berufungsklägerin schon am
11. Juli 1938 Kenntnis von der Erfüllungsverweigerung der Berufungsbeklagten.
Allein da sie gemäss ihrem Schreiben vom 7. April 1938 auf die Erhebung von
Gegenansprüchen verzichtet hätte, wenn die Berufungsbeklagte nicht ihrerseits
ihre Drohung, den Rechtsweg zu beschreiten, in die Tat umgesetzt hätte, so
durfte die Berufungsklägerin zunächst abwarten, ob die Gegenpartei wirklich
Klage einreichen werde. Als dies dann mit der am 3. Oktober 1938 erfolgten
Anhängigmachung der Klage beim Bezirksgericht geschah, hat die
Berufungsbeklagte ihrerseits mit der Erhebung der Widerklage in dem vom
Prozessrecht vorgesehenen Zeitpunkt, d. h. mit der Einreichung der Antwort auf
die Hauptklage, die

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Wahlerklärung abgegeben. Diese Erklärung mit Rücksicht auf die besondern
Umstände des Falles als rechtzeitig abgegeben zu betrachten, bestehen um so
weniger Bedenken, als die Gefahr einer Spekulation der Berufungsklägerin mit
der Entwicklung der Verhältnisse, wie Fluktuation des Marktes und dergleichen,
zum vorneherein ausser Betracht fällt. Zur Abwendung dieser Gefahr vor allem
wurde aber die Vorschrift in das Gesetz aufgenommen, dass die Wahlerklärung
unverzüglich abgegeben werden müsse.
Unter diesen Umständen ist es daher selbstverständlich, dass die
Berufungsklägerin weder vor dem Prozess eine Rücktrittserklärung abgegeben
noch in den der Vorinstanz eingereichten Rechtsschriften die Abgabe einer
solchen behauptet hat. Sie hätte sich ja dadurch in einen unvereinbaren
Widerspruch mit ihrer durch die Formulierung der Widerklage bekundeten
eindeutigen Willenserklärung gesetzt.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 69 II 243
Date : 01. Januar 1942
Published : 28. Juni 1943
Source : Bundesgericht
Status : 69 II 243
Subject area : BGE - Zivilrecht
Subject : Positive Vertragsverletzung beim zweiseitigen Vertrag.Die vor der Fälligkeit ihrer Verpflichtung...


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BGE-register
69-II-243
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