S. 61 / Nr. 10 Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr (d)
BGE 67 I 61
10. Urteil des Kassationshofs vom 12. März 1941 i. S. Kühne gegen Zürich,
Staatsanwaltschaft.
Seite: 61
Regeste:
Radfahrer fährt einem andern vor: Bemessung des seitlichen Abstandes nach der
gesamten Verkehrssituation (Art. 25 Abs. l MFG, 46 Abs. 3 MFV).
Dépassement d'un cycliste par un autre: Appréciation de l'espace latéral que
le cycliste dépassant doit laisser à l'autre selon les circonstances du cas
concret (art. 25 al. l LA; 46 al. 3 RA).
Valutazione dello spazio laterale che il ciclista che sorpassa un altro deve
lasciare a quest'ultimo (art. 25 cp. 1 LCAV; 46 cp. Ord LCAV).
A. - Am 24. August 1939 ca. 17 Uhr fuhr in Winterthur L. Rechenmacher auf
seinem Fahrrad von der Einmündung der Stadthausstrasse her durch die
Grabenstrasse auf dem 60 cm breiten Fahrbahnstreifen zwischen der äusseren
Tramschiene und dem Trottoirrande rechts gegen das Tramhäuschen zu. Ca. 9 m
von diesem entfernt holte ihn der Radfahrer A. Kühne, zwischen den
Tramschienen fahrend, ein und wollte jenen links überholen, als Rechenmacher
mit Rücksicht auf die dort auf dem Trottoirrand stehenden Leute etwas nach
links ausbog, um auch zwischen den Tramschienen zu fahren. Es kam zur
Kollision, wobei Rechenmacher zu Fall kam und sich schwere Verletzungen zuzog.
B. - Bezirksgericht und Obergericht verurteilten Kühne wegen fahrlässiger
Körperverletzung zu einer Busse von Fr. 70.-, bedingt erlassen mit einer
Probezeit von 2 Jahren. Eine Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten wies das
Kassationsgericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 30. Dezember 1940 ab. Die
Vorinstanzen erblicken die Fahrlässigkeit in einer Übertretung des Art. 25
Abs. 1 MFG, begangen dadurch, dass Kühne beim Überholen des Rechenmacher
keinen angemessenen seitlichen Abstand von diesem beobachtet habe, trotzdem er
habe voraussehen müssen, dass der Vordermann im nächsten Moment wegen der hart
am Trottoirrand
Seite: 62
vor dem Tramhäuschen stehenden Personen nach links halten müsse.
C. - Mit der vorliegenden Nichtigkeitsbeschwerde beantragt der Verurteilte
Aufhebung des Urteils des Kassationsgerichtes, weil Art. 25 MFG verletzend,
und Freisprechung. Zur Begründung wird ausgeführt, die Vorinstanz nehme zu
Unrecht an, der Beschwerdeführer habe beim Vorfahren keinen genügenden Abstand
eingehalten und er habe voraussehen müssen, dass das Überholen an jener Stelle
zur Gefährdung des andern Radfahrers führen müsse. In letzterem Zusammenhang
sei die obergerichtliche und vom Kassationsgericht übernommene Annahme, «es
befänden sich im Protokoll über die Einvernahme des Angeklagten keine
Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte die Voraussehbarkeit der brüsken
Linksbewegung nicht vorausgesehen habe», aktenwidrig. Zu Unrecht nehme die
Vorinstanz ferner an, der Beschwerdeführer sei verpflichtet gewesen, seine
Vorfahrabsicht durch ein Glockenzeichen kundzutun, obwohl der andere Radfahrer
2-3 m vor dem Überholen sich umgeschaut und ihn erblickt habe. Der Unfall sei
ausschliesslich dadurch verursacht worden, dass Rechenmacher in
vorschriftswidriger Weise plötzlich, brüsk und ohne Zeichengabe mit der Hand
nach links abgebogen habe.
Die Staatsanwaltschaft verzichtet auf Vernehmlassung.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
Eine Aktenwidrigkeit in dem in BGE 62 I 61 umschriebenen Sinne liegt nicht
vor. Ob der Inhalt des Einvernahmeprotokolls Anhaltspunkte für eine bestimmte
Annahme biete oder nicht, ist Beweiswürdigungsfrage, wie aus der betreffenden
Erwägung des Kassationsgerichts (S. 10, d) klar hervorgeht. Das
obergerichtliche Urteil bildet übrigens nicht Gegenstand der vorliegenden
Nichtigkeitsbeschwerde.
Der einem andern vorfahrende Radfahrer muss nicht nur nach Art. 25 Abs. 1 MFG
(in Verbindung mit Art.
Seite: 63
30) «einen angemessenen Abstand einhalten», sondern nach Art. 46 Abs. 3 (Art.
70 Abs. 4 ) MFV ganz allgemein besonders vorsichtig fahren und auf die übrigen
Strassenbenützer Rücksicht nehmen». Dazu gehört, dass der Vorfahrende - ausser
dem zu überholenden Fahrzeug selber - die ganze momentane Verkehrssituation
überblicke und berücksichtige, auch Umstände, die auf das Verhalten des zu
Überholenden von Einfluss sein können. Mit Recht mutet die Vorinstanz dem
Beschwerdeführer zu, er hätte damit rechnen müssen, dass Rechenmacher an den
bei der Tramstation wartenden Leuten vorbei wahrscheinlich nicht auf dem 60 cm
breiten Streifen zwischen Schiene und Trottoirrand bleiben, sondern etwas mehr
links halten werde. Ob der Beschwerdeführer diese Überlegung gemacht und nicht
entsprechend gehandelt, oder sie nicht gemacht hat, ist nicht von Belang, da
das eine wie das andere eine schuldhafte Unterlassung darstellt. Ein
besonderer Grund, beim Vorfahren den Abstand reichlich zu nehmen, lag aber vor
allem in dem Umstande, dass Rechenmacher dicht an der rechten Tramschiene
fuhr. Also konnte und musste sich der Beschwerdeführer sagen, dass der vordere
Radfahrer, wenn er sich veranlasst sehen werde, etwas vom Trottoir abzurücken
und links zu halten, dies nicht allmählich tun könne, sondern die
Rillenschiene mit einer scharfen Schwenkung queren müsse, um nicht in ihr
hängen zu bleiben. Der seitliche Abstand genügte umso weniger, als der
Beschwerdeführer selber zwischen den Tramschienen fuhr, also auch eine
Rillenschiene zu seiner Linken hatte, mithin in seiner Manövrierfreiheit
ebenfalls behindert war. Es war unvorsichtig, den hart neben der rechten
Schiene fahrenden Vordermann ausgerechnet zwischen den Schienen zu überholen,
während links vom Geleise bis zur Strassenmitte noch 2,60 m freie Fahrtahn zur
Verfügung stand. Der Umstand, dass Rechenmacher einige Augenblicke vor der
Kollision zurückgeschaut und den nachfolgenden Beschwerdeführer gesehen hatte,
entband
Seite: 64
den letztern nicht von der Einhaltung eines angemessenen Überholungsabstandes;
denn wenn der Vordermann ihn gesehen hatte, so brauchte er - in dem kurzen
Augenblick des Zurückschauens - nicht seine Vorfahrabsicht erkannt zu haben.
Das leichte Linkshalten des Rechenmacher lag noch innerhalb der Marge, in der
sich der Fahrzeugführer seitlich bewegen kann, ohne dies mit Zeichen anzeigen
zu müssen. Das Handzeichen (Art. 75 Abs. 2 MFV) muss der Radfahrer geben, wenn
er von der bisherigen Fahrbahn abschwenken, nicht aber, wenn er bloss in
seiner Fahrbahn etwas zur Seite rücken will.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.