S. 89 / Nr. 21 Erbrecht (d)

BGE 66 II 89

21. Urteil der II. Zivilabteilung vom 30. Mai 1940 i. S. Bucella gegen
Cortabatti u. Gen.

Regeste:
Öffentliches Testament (Art. 500-502): Das Vorlesen der Urkunde kann das Lesen
durch den Erblasser nur dann ersetzen, wenn es vom Urkundsbeamten und in
Gegenwart der Zeugen besorgt wird
· gleichgültig ob der Erblasser unterschreibt und ob er in der Sehfähigkeit
beeinträchtigt ist oder nicht.
Testament public (art. 500-502): La lecture à haute voix du testament ne peut
remplacer celle que le testateur fait lui-même

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que si l'officier public y procède en personne et par devant les témoins.
· Il n'importe, à cet égard, que le testateur signe lui-même et que sa vue
soit faible ou non.
Testamento pubblico (art. 500-502): La lettura ad alta voce del testamento può
sostituire la lettura da parte del testatore stesso soltanto nel caso in cui
il funzionario vi proceda personalmente e in presenza dei testimoni, nulla
importando che il testatore firmi e che abbia o no una vista debole.

Fräulein Caterina Bucella, gestorben 1938, hat ein am 5. August 1935
errichtetes öffentliches Testament hinterlassen. Die Urkunde trägt ihre
Unterschrift, war jedoch nach den daran anschliessenden Bescheinigungen des
Urkundsbeamten und der Zeugen nicht von ihr selbst gelesen, sondern ihr durch
den Beamten in Abwesenheit der Zeugen vorgelesen worden. Mit Urteil vom 19./
20. Dezember 1939 hat das Kantonsgericht von Graubünden das Testament wegen
Formmangels ungültig erklärt. Der Beklagte beantragt mit der vorliegenden
Berufung neuerdings Abweisung der Ungültigkeitsklage.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Das ZGB kennt zwei Arten der Errichtung einer letztwilligen Verfügung mit
öffentlicher Beurkundung. Nach Art. 500 und 501 hat der Erblasser die Urkunde
zu lesen und zu unterzeichnen, ohne dass die Zeugen hiebei anwesend zu sein
brauchen; er hat dann den Zeugen eine entsprechende Erklärung abzugeben,
worauf deren Bescheinigung gemäss Art. 501 II folgt. Art. 502 gestattet statt
des Lesens und Unterzeichnens durch den Erblasser das Vorlesen durch den
Urkundsbeamten, aber nur in Gegenwart der Zeugen, deren Bescheinigung
dementsprechend anders zu lauten hat. Hier ist nach der zutreffenden
Entscheidung der Vorinstanz weder der einen noch der andern Errichtungsform
genügt worden. Weder hat die Erblasserin die Urkunde gelesen, noch haben die
Zeugen dem Vorlesen beigewohnt, was durch ihre Bescheinigung bestätigt sein
müsste (BGE 42 II 203).

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Die Unterschrift der Erblasserin ändert an diesem Ergebnis nichts. Nach den
Art. 500 und 501 käme sie nur in Verbindung mit dem Lesen der Urkunde durch
den Erblasser in Betracht, woran es hier fehlt. Nach Art. 502 ist sie unnötig
und anderseits nicht geeignet, die vom Gesetz geforderte Anwesenheit der
Zeugen beim Vorlesen überflüssig zu machen, entgegen der vom Beklagten
angerufenen Lehrmeinung. Das Gesetz stellt dem Lesen durch den Erblasser das
Vorlesen durch eine andere Person nicht ohne weiteres gleich, wie denn die
Art. 500 und 501 vom Vorlesen nichts wissen wollen. Damit das Vorlesen als
Form der Kenntnisnahme bei der Beurkundung anerkannt werde, muss es einmal vom
Urkundsbeamten, nicht von jemand anderm besorgt werden, und sodann müssen die
Zeugen zugegen sein. Ihnen liegt ob, nach Möglichkeit auf richtiges und
deutliches Vorlesen, dem der Erblasser folgen kann, zu achten und die
Identität des zu beurkundenden und auch von ihnen zu unterzeichnenden
Schriftstückes mit dem vorgelesenen und vom Erblasser genehmigten
festzustellen. Diese Art der Mitwirkung beim Vorlesen ist nach Art. 502
unerlässlich, gleichgültig ob auch der Erblasser selbst mehr oder weniger
imstande ist, zum Rechten zu sehen. Kann zwar die Errichtungsform des Art. 502
nicht nur von Blinden und Schwachsichtigen benutzt werden, so ist sie
anderseits für alle, die sie benutzen, dieselbe. Vollends findet die Ansicht,
die Unterzeichnung durch den Erblasser biete schon an und für sich Ersatz für
die vorgeschriebene Anwesenheit der Zeugen, im Gesetze keinen Halt. Aus
solcher Unterzeichnung folgt denn auch nichts für eine korrekte Durchführung
des Vorleseaktes.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Kantonsgerichts von Graubünden
vom 19. / 20. Dezember 1939 bestätigt.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 66 II 89
Datum : 01. Januar 1940
Publiziert : 29. Mai 1940
Quelle : Bundesgericht
Status : 66 II 89
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Öffentliches Testament (Art. 500-502): Das Vorlesen der Urkunde kann das Lesen durch den Erblasser...


BGE Register
42-II-203 • 66-II-89
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