S. 285 / Nr. 58 Eisenbahnhaftpflicht (d)
BGE 66 II 285
58. Urteil der II. Zivilabteilung vom 28. November 1940 i. S. Beerle c.
Politische Gemeinde St. Gallen.
Regeste:
Tramhaftpflicht. Selbstverschulden im Sinne des Art. 1 EHG setzt ein
leichtsinniges Benehmen voraus. Ein solches liegt nicht darin, dass der
Tramfahrgast nach gänzlichem Anhalten des Tramzugs, aber vor dem im Anhänger
gelegentlich auftretenden Rückstoss, sich am Griff festhaltend auf das
Trittbrett hinabsteigt.
Responsabilité des entreprises de tramways. La faute de la victime (art. 1 de
la loi sur la responsabilité des entreprises de chemins de fer) implique une
conduite imprudente de la part de celle-ci. Cette condition n'est pas remplie
lorsqu'après l'arrêt total de la voiture, mais avant le contre-coup qui peut
éventuellement provenir de la remorque, la victime est descendue sur le
marchepied en se tenant à la main-courante.
Responsabilità delle imprese tramviarie. La colpa della vittima (art. 1 della
legge sulla responsibilità civile delle imprese di strade ferrate) presuppone
un comportamento imprudente da parte sua. Questo presupposto non si verifica
quando l'utente del tram, dopo che la vettura si è completamente fermata ma
prima del contraccolpo che può eventualmente provenire dal rimorchio. è
disceso sul predellino tenendosi alla ringhiera.
A. - Am 9. Oktober 1937 kam die damals 59jährige Frau Beerle-Segin in St.
Gallen auf der städtischen Strassenbahn an der Haltestelle Stahl beim
Verlassen des Anhängewagens vom Trittbrett zu Fall und erlitt am linken Bein
einen Schenkelhalsbruch.
Die Beklagte bestritt ihre Haftung mit der Behauptung, der Unfall sei von der
Klägerin selbst verschuldet, indem
Seite: 286
sie vor dem gänzlichen Anhalten auf das untere Trittbrett hinabgestiegen sei,
obwohl ihr als regelmässigem Fahrgast habe bekannt sein müssen, dass es beim
Anhalten des Tramzuges, besonders im Gefälle, im Anhängerwagen einen gewissen
Ruck gebe, der aber bei der fraglichen Fahrt weder ein unerwartet plötzlicher
noch sonst abnormaler Art gewesen sei, insbesondere auch nicht etwa durch
brüskes Abbremsen des Motorwagens entstanden.
B. - Sowohl das Bezirksgericht St. Gallen als das Kantonsgericht mit Urteil
vom 27. Oktober 1939 wiesen die Klage ab. Als Veranlassung des Unfalls
betrachtet die Vorinstanz den beim Anhalten eintretenden Ruck, der aber eine
alltägliche, jedem Tramfahrer bekannte Erscheinung sei, gegen die sich der
Passagier sehr leicht durch besseres Standfassen oder durch Festhalten an
einer der zahlreich vorhandenen Haltegelegenheiten sichern könne. Da der
fragliche Ruck nach der eigenen Darstellung der Klägerin in der
Appellationsbegründung «einen Moment nach dem Anhalten», also wie immer und
nicht verspätet eingetreten sei, hätte die Klägerin mit ihm rechnen und vor
dem Aussteigen ihn zuerst abwarten oder sich gegen ihn besser sichern sollen.
Sie sei jedoch vor dessen Eintritt, also eben zu früh ausgestiegen und habe
damit den Unfall selbst verschuldet, ohne dass von einem Mitverschulden des
Trampersonals gesprochen werden könne.
C. - Gegen dieses Urteil legte die Klägerin Berufung ein mit dem Antrag auf
Gutheissung der Klage, eventuell grundsätzliche Gutheissung und Rückweisung
der Sache an die Vorinstanz zur Festsetzung des Schadens und der Kosten. In
der Begründung wird ausgeführt, nachdem die Vorinstanz die klägerische
Tatbestandsdarstellung angenommen habe und der auf der Plattform hinter den
Eheleuten Beerle stehende Kondukteur, nach seinem Dienstrapport, den Vorgang
im einzelnen nicht habe beobachten können, fehle der Beweis für die Behauptung
der Beklagten, die Klägerin sei schuldhafterweise zu früh ausgestiegen,
weshalb die Klage nach Art. 1 EHG begründet
Seite: 287
sei. Die gegenteilige, von der Vorinstanz ohne Beweis und im Widerspruch mit
der eigenen Tatbestandsfeststellung gemachte Annahme entbehre mithin der
aktenmässigen Grundlage und beruhe auf bundesrechtswidriger Würdigung des
Beweisergebnisses und sei daher vom Bundesgericht gemäss Art, 81 OG zu
berichtigen. Zudem liege Willkür vor, weil die Vorinstanz damit zugunsten der
beweispflichtigen Beklagten deren unbewiesene Behauptung berücksichtigt habe.
Diese Mängel hafteten auch der weitern Annahme der Vorinstanz an, dass bei
jedem Anhalten ein solcher Ruck auftrete, wie er die Klägerin betroffen habe.
Der Augenschein der ersten Instanz habe gegenteils ergeben, dass der dem
Anhalten des Motorwagens folgende Ruck des Anhängers gewöhnlich kaum
wahrnehmbar sei und auch einer nur auf dessen Trittbrett stehenden Person
unmöglich gefährlich werden könne.
Die Beklagte trägt auf Abweisung der Berufung an.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- .....
2.- Nach der tatsächlichen Feststellung der Vorinstanz ist davon auszugehen,
dass die Klägerin auf der Plattform beim Ausgang mit der linken Hand am linken
Aussteigegriff das völlige Aufhören der Vorwärtsbewegung des Tramzuges
abwartete, bevor sie auf das untere Trittbrett herabstieg. Ihr
Selbstverschulden erblickt die Vorinstanz darin, dass sie nicht auch noch den
Ruck des Anhängewagens abwartete, bevor sie mit dem Aussteigen begann, mithin
in diesem Sinne zu früh ausgestiegen sei. Diese letztere Annahme ficht die
Klägerin zu Unrecht als auf bundesrechtswidriger Beweiswürdigung beruhend an.
Eine Meinungsverschiedenheit in tatbeständlicher Hinsicht liegt überhaupt
nicht vor. Denn die Vorinstanz stellt fest, dass die Klägerin nach dem
Anhalten des Tramzuges, jedoch vor dem Eintritt des Vor- und Rückstosses des
Anhängewagens, auf das Trittbrett trat, und letzteres bestreitet ja die
Klägerin gar nicht; sonst müsste sie vom
Seite: 288
Ruck noch oben auf der Plattform überrascht worden und direkt von dieser auf
die Strasse gefallen sein, was sie nicht behauptet.
Streitig ist mithin nur die Rechtsfrage, ob das Herabsteigen aufs Trittbrett
nach dem Anhalten, aber vor dem Ruck des Anhängers sich als ein schuldhaft
vorzeitiges Absteigen qualifiziert. Mag in diesem Verhalten der Klägerin auch
eine gewisse Unachtsamkeit liegen, so genügt sie doch nicht, um ein
Selbstverschulden im Sinne des Art. 1 EHG zu begründen; denn dieses setzt,
sollen die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht, sich selbst vor Schaden zu
bewahren, nicht überspannt werden, ein leichtsinniges Benehmen voraus, das von
vernünftigen Menschen im eigenen Interesse vermieden wird oder werden sollte.
Eine Unvorsichtigkeit liegt zunächst nicht darin, dass der Trampassagier im
Interesse des beim Trambetrieb erforderlichen, auch von der Beklagten in den
Verkehrsregeln ihres Fahrplans empfohlenen raschen Ein- und Aussteigens sich
kurz vor der Haltestelle auf die Plattform zum Ausgang begibt und sich dort
mit der linken Hand am linken Aussteigegriff festhält, um zum Aussteigen
bereit zu sein. Dass die Klägerin nach dem völligen Anhalten, d. h. dem
Aufhören der kontinuierlichen Vorwärtsbewegung des Tramzuges, sich auf das
untere Trittbrett begab, ohne dabei, was weder behauptet noch bewiesen ist,
den Aussteigegriff loszulassen, lässt ihr Verhalten nicht schon deshalb als
leichtfertig erscheinen, weil sie den beim Anhängewagen noch eintretenden Ruck
nicht abwartete, gegen den sie sich durch das Festhalten am Griff gesichert
glauben durfte. Wenn sie dann trotz Festhaltens am Griff infolge des
nachträglichen Ruckes auf dem Trittbrett ausglitt bezw. das Gleichgewicht
verlor oder sonstwie zu Fall kam, so ist daraus nicht mit Notwendigkeit auf
eine Nachlässigkeit der Klägerin zu schliessen. Das Trittbrett ist keine
gewöhnliche Treppe, und seine Benutzung bietet wegen der Enge und der Höhe der
Stufen immer ein gewisses Risiko (BGE 60 II 374). Ein
Seite: 289
Ausgleiten ist hierbei keine Seltenheit und auch ohne Unachtsamkeit zumal
unter dem Einfluss eines plötzlichen, nicht erwarteten Ruckes des Wagens
leicht möglich. Der genaue Hergang des Unfalls in seiner entscheidenden Phase
ist nicht erstellt; ein Verhalten, das als Selbstverschulden der Klägerin zu
beurteilen wäre, dürfte nur angenommen werden, wenn sich der Unfall ohne ein
solches Verhalten schlechterdings nicht erklären liesse. Dies kann aber nicht
gesagt werden, und das allein festgestellte Herabsteigen der Klägerin auf das
Trittbrett nach erfolgtem Anhalten, aber vor Eintritt des Rucks kann, wie
dargetan, nicht als in Betracht fallendes Selbstverschulden angesehen werden.
Es ist auch keineswegs erstellt, dass der Unfall mit dem Alter der Klägerin
von 59 Jahren irgendwie zusammenhängt. Was die Vorinstanz auf S. 8 in dem
Konditionalsatz: «Wenn die Klägerin dies (scil: sich zu sichern) nicht getan
hat oder wegen ihres Alters nicht mehr hat tun können...», in Erwägung zieht,
ist keine tatsächliche Feststellung; bleibt es doch dahingestellt, ob diese
nur bedingte Annahme wirklich eingetreten ist.
3.- .....
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird gutgeheissen, die Klage grundsätzlich geschützt und die
Sache zur Festsetzung des Schadenersatzes und der Kosten an die Vorinstanz
zurückgewiesen.