S. 203 / Nr. 44 Motorfahrzeugverkehr (d)

BGE 66 II 203

44. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 24. September 1940 i. S.
Tobler-Meier gegen «Zürich», Allg. Unfall- und Haftpflichtsversicherungs-A.-G.

Regeste:
Motorfahrzeughaftpflicht. Verhältnis von Art. 46 MFG zu Art. 81 OG. Die
tatsächlichen Feststellungen des kantonalen

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Richters sind für das Bundesgericht unter den allgemeinen Vorbehalten des Art.
81 OG auch in Streitsachen aus dem MFG verbindlich.
Responsabilité de l'automobiliste. Rapports de l'art. 46 LA avec l'art. 81 OJ.
Dans les litiges qui appellent l'application de la LA, les constatations de
fait du juge cantonal lient aussi le Tribunal fédéral, sauf les cas réservés
par l'art. 81 OJ.
Responsabilità dell'automobilista. Relazione tra l'art. 46 LCAV e l'art. 81
OGF. Nelle contestazioni relative alla LCAV gli accertamenti di fatto del
giudice cantonale sono vincolanti anche pel Tribunale federale, eccettuati i
casi di cui all'art. 81 OGF.

Die Klägerin wurde am 24. Juli 1934 beim Zusammenstoss zweier
Personenautomobile verletzt. Die volle Verantwortung für den Unfall traf
unbestrittenermassen den Halter des einen Fahrzeugs, E. Ganz. Dieser war für
seine Haftpflicht bei der «Zürich», Allg. Unfall- und
Haftpflichtversicherungs-AG, versichert; daneben bestand noch eine persönliche
Unfallversicherung für die Klägerin bei der nämlichen
Versicherungsgesellschaft.
Die Klägerin leitete gegen die «Zürich» auf Grund der Haftpflicht- und der
Unfallversicherung vorliegenden Prozess ein.
Das Bezirksgericht St. Gallen schätzte die dauernde Invalidität der Klägerin
auf Grund einer Expertise von Dr. R. Brun in Zürich auf 25%.
Das Kantonsgericht, an welches beide Parteien appellierten, holte eine neue
Expertise bei Dr. H. Brenk in Basel ein. Dieser gelangte im Gegensatz zum
erstinstanzlichen Experten dazu, eine dauernde Invalidität bei der Klägerin zu
verneinen. Durch Urteil vom 25. April 1940 setzte darauf das Kantonsgericht
die Forderung der Klägerin auf Fr. 2900.- fest.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin die Berufung an das Bundesgericht
erklärt.
Aus den Erwägungen:
Das Urteil der Vorinstanz steht und fällt mit den auf das Gutachten von Dr.
Brenk gestützten Feststellungen über die Unfallfolgen. Hievon geht auch die
Klägerin aus,

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indem sie mit ihrem Berufungsantrag verlangt, die Sache sei zur Durchführung
einer Oberexpertise an die Vorinstanz zurückzuweisen. Allein die tatsächlichen
Feststellungen der Vorinstanz sind für das Bundesgericht nach Massgabe von
Art. 81 OG verbindlich. Das schliesst eine Kritik der Beweiswürdigung
grundsätzlich aus; vorbehalten bleibt nach Art. 81 nur die Rüge von
Aktenwidrigkeiten und von Verstössen gegen bundesrechtliche
Beweisvorschriften. Wenn die Vorinstanz, übrigens auf Grund sorgfältiger
Abwägung, das Gutachten von Dr. Brenk für zuverlässiger und schlüssiger
befunden hat als dasjenige von Dr. Brun, muss es deshalb für das Bundesgericht
bei diesem Ergebnis unter den genannten Vorbehalten sein Bewenden haben.
In der heutigen Verhandlung hat freilich der Vertreter der Klägerin gegenüber
den vorerwähnten, in ständiger Praxis anerkannten Grundsätzen den Standpunkt
vertreten, Art. 46 MFG gebe auch dem Bundesgericht die Möglichkeit freier
Beweiswürdigung. Abgesehen davon, dass dies hier nur für den Haftpflicht-
(bezw. Haftpflichtversicherungs-) und nicht auch für den
Unfallversicherungsanspruch der Klägerin von Bedeutung wäre, kann aber von
einer solchen Tragweite des Art. 46 MFG nicht die Rede sein. Art. 46 bestimmt,
dass der Richter die Tatsachen beurteilt, ohne an die Beweisregeln des
kantonalen Prozessrechtes gebunden zu sein (franz. Text: le juge apprécie
librement les faits de la cause, sans être lié par les règles de la procédure
cantonale sur la preuve; ital. Text: il giudice apprezza liberamente i fatti.
Esso non è legato dalle disposizioni della procedura cantonale in materia di
prove). Nach ihrem klaren Wortlaut und Inhalt wendet sich die Bestimmung also
an denjenigen Richter, dem die Beweiswürdigung nach der allgemeinen, in Art.
81 OG festgesetzten Ordnung zusteht; nichts lässt darauf schliessen, dass auch
an jener Ordnung selbst und damit am Umfang der bundesgerichtlichen
Kognitionsbefugnis etwas habe geändert werden wollen. In der Tat wäre nicht
einzusehen, warum diese

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Befugnis bei Streitsachen aus dem MFG weiter gehen sollte als in Prozessen aus
andern Gebieten des Bundeszivilrechts. Für das Bundesgericht stellt sich nur
die Frage, ob der kantonale Richter Art. 46 MFG beachtet hat. Wenn dies nicht
zutrifft, liegt ein Verstoss gegen eine bundesrechtliche Beweisvorschrift im
Sinne von Art. 81 OG vor, was dazu führt, dass der Tatbestand im Verfahren
nach Art. 82 neu festgestellt werden muss. Sind dagegen die Beweise
vorschriftsgemäss frei gewürdigt worden, so bleibt es endgültig bei den darauf
gestützten Feststellungen des kantonalen Richters.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 66 II 203
Datum : 01. Januar 1940
Publiziert : 23. September 1940
Quelle : Bundesgericht
Status : 66 II 203
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Motorfahrzeughaftpflicht. Verhältnis von Art. 46 MFG zu Art. 81 OG. Die tatsächlichen...


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