S. 109 / Nr. 26 Obligationenrecht (d)

BGE 66 II 109

26. Urteil der I. Zivilabteilung vom 8. Mai 1940 i. S. Michel gegen Erben
Ackermann.

Regeste:
Werkhaltung, Art. 58
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 58 - 1 Der Eigentümer eines Gebäudes oder eines andern Werkes hat den Schaden zu ersetzen, den diese infolge von fehlerhafter Anlage oder Herstellung oder von mangelhafter Unterhaltung verursachen.
1    Der Eigentümer eines Gebäudes oder eines andern Werkes hat den Schaden zu ersetzen, den diese infolge von fehlerhafter Anlage oder Herstellung oder von mangelhafter Unterhaltung verursachen.
2    Vorbehalten bleibt ihm der Rückgriff auf andere, die ihm hierfür verantwortlich sind.
OR. Geringfügige Vertiefungen im Bodenbelag einer
Privatwohnung sind keine Werkmängel.
Responsabilité du propriétaire pour les défauts de l'ouvrage, art. 58 CO.
De légers enfoncements qui se sont produits dans le sol d'un appartement
particulier ne constituent pas des défauts de l'ouvrage.
Responsabilità del proprietario di un'opera (art. 58 CO).
Leggere incavature del pavimento di un appartamento privato non sono difetti
dell'opera.

A. - Der Beklagte Michel ist Eigentümer des Hauses Scheuchzerstrasse 164 in
Zürich 6. Anfangs 1935 vermietete er die Parterrewohnung mit Ladenlokal an
Arnold

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Ackermann, der mit seiner Schwester Hedy zusammen ein Milchgeschäft betrieb.
Zwischen dem Ladenlokal und der Wohnung befindet sich ein ziemlich dunkler,
mit einem Inlaid-Belag versehener Korridor. Der Bodenbelag weist an zwei nahe
beieinander liegenden Stellen Vertiefungen auf, die ca. 2 Hand gross und ca.
2-3 mm tief sind. Am 29. März 1935, wenige Tage nach dem Mietantritt, kam die
Mutter der Mieter, Frau Rosa Ackermann, erstmals zu diesen zu Besuch. Als die
45 Jahre alte, etwas beleibte Frau aus dem Laden durch den Korridor nach der
Küche ging, glitt sie bei den erwähnten Vertiefungen aus und kam zu Fall,
wobei sie sich einen Bruch des rechten Oberschenkels zuzog. Im Verlaufe der
langwierigen Behandlung erkrankte sie an einem Nierenleiden, dem sie am 23.
Dezember 1937 erlag.
B. - Mit Klage vom 25. März 1936 hatte die Verunfallte den Beklagten Michel
als Eigentümer des Hauses aus Werkhaftung auf Ersatz des ihr aus dem Unfall
erwachsenen Schadens belangt. Nach ihrem Tode traten ihre Erben, nämlich ihr
Ehemann, der Sohn und die Tochter, in den Prozess ein. Sie verlangen Bezahlung
von Fr. 25000.-, nämlich rund Fr. 13000.- für Heilungskosten, Fr. 8000.-
Entschädigung für gänzliche Arbeitsunfähigkeit der Verunfallten vom Unfall bis
zum Todestage, sowie Fr. 6000.- Genugtuung, zusammen Fr. 27000.-, herabgesetzt
auf Fr. 25,000.-.
C. - Der Beklagte beantragte Abweisung der Klage, im Wesentlichen mit der
Begründung, es fehle an einem haftungsbegründenden, für den Unfall kausalen
Werkmangel.
D. - Sowohl das Bezirksgericht, wie das Obergericht Zürich hiessen die Klage
im Betrage von Fr. 20089.35 nebst 5% Zins seit 25. März 1936 gut.
E. - Gegen das Urteil des Obergerichts vom 24. Januar 1940 ergriff der
Beklagte die Berufung an das Bundesgericht mit dem Antrag auf Abweisung der
Klage. Die

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Kläger beantragen Abweisung der Berufung und Bestätigung des angefochtenen
Urteils.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Die Vorinstanz hat festgestellt, dass Frau Ackermann infolge der
geschilderten Vertiefungen des Bodenbelages ausgeglitten ist und nicht etwa,
wie der Beklagte behauptet hat, weil der Boden überhaupt glatt und gewichst
war. Diese Feststellung der Vorinstanz bezieht sich auf den tatsächlichen
Unfallhergang und ist daher für das Bundesgericht verbindlich. Rechtsfrage und
daher vom Bundesgericht frei zu überprüfen ist dagegen, ob diese Unebenheit
des Bodenbelages, welche zu dem Unfall Anlass gegeben hat, als Werkmangel im
Sinne von Art. 58
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 58 - 1 Der Eigentümer eines Gebäudes oder eines andern Werkes hat den Schaden zu ersetzen, den diese infolge von fehlerhafter Anlage oder Herstellung oder von mangelhafter Unterhaltung verursachen.
1    Der Eigentümer eines Gebäudes oder eines andern Werkes hat den Schaden zu ersetzen, den diese infolge von fehlerhafter Anlage oder Herstellung oder von mangelhafter Unterhaltung verursachen.
2    Vorbehalten bleibt ihm der Rückgriff auf andere, die ihm hierfür verantwortlich sind.
OR anzusehen ist, für den der Beklagte einzustehen hat.
2.- a) Die Vertiefungen bildeten zusammen mit der Glätte des Bodens eine
gewisse Gefahrenquelle; wie die Vorinstanz auf Grund verschiedener
Zeugenaussagen festgestellt hat, sind an der betreffenden Stelle schon
wiederholt andere Personen, frühere Mieter, Dienstmädchen, ausgeglitten.
Entgegen der Meinung der Vorinstanz darf jedoch hieraus nicht ohne weiteres
gefolgert werden, dass die Vertiefungen haftungsbegründende Werkmängel
darstellen. Die grundsätzliche Pflicht des Eigentümers, für einen
einwandfreien Zustand des Werkes besorgt zu sein, ist nicht unbegrenzt. Der
Eigentümer darf von denjenigen, die mit dem Werk in Berührung kommen, die
Beobachtung eines gewissen Mindestmasses von Vorsicht erwarten. Geringfügige
Mängel, die bei Anwendung dieser Vorsicht normalerweise nicht Anlass zu
Unfällen geben, braucht er nicht zu beseitigen. Um einen Mangel solcher Art
handelte es sich aber bei den hier in Frage stehenden Vertiefungen. Ob deren
Entstehungsursache in einer normalen Abnützung des Bodenbelages zu suchen ist
oder darin, dass sich der Boden geworfen hat, kann dahingestellt bleiben. Auf
jeden Fall war der Belag als solcher überhaupt nicht oder doch ganz
unbedeutend durch

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Bruch beschädigt, da die Vertiefungen nur 2-3 mm betrugen. Die Verpflichtung
zur Behebung aller derartiger untergeordneter Mängel, zu denen z.B. auch
abgetretene Türschwellen, ausgetretene Treppenstufen und dergl. gezählt werden
müssen, wie sie im Laufe der Zeit bei jedem Gebäude notwendigerweise
entstehen, würde vor allem bei älteren Häusern zu einer unerträglichen
Belastung des Eigentümers führen, die zum Gebäudewert und dem Ertrag in keinem
Verhältnis stünde. Dass die Reparatur des einzelnen Mangels für sich allein
betrachtet nicht mit grossen Kosten verbunden wäre, ist unerheblich; denn es
ist die Lage in Betracht zu ziehen, die durch die Verpflichtung zur
Beseitigung aller Mängel von entsprechender Bedeutung geschaffen würde.
b) Die Vorinstanz stützt sich für die Bejahung der Mangelhaftigkeit auf die
beiden Entscheide Band 57 II 47 ff. und 60 II 341 ff. Im ersten Falle hat das
Bundesgericht die Kombination von Marmorplatten mit gewichstem Linoleum für
einen Fussboden in einem kantonalen Obergerichtsgebäude wegen der Gefahr des
Ausgleitens als mangelhaft erklärt. Die Vorinstanz übersieht jedoch, dass es
sich hier im Gegensatz zu jenem Fall nicht um ein öffentliches Gebäude,
sondern um eine Privatwohnung handelt. An den Fussboden eines öffentlichen
Gebäudes müssen erheblich strengere Anforderungen gestellt werden, weil er
nicht nur von den Mietern und gelegentlichen Besuchern, sondern von einer
unbeschränkten Anzahl von Personen jeglichen Alters und Standes begangen
werden muss und zwar unter Umständen, in denen die Aufmerksamkeit der Benützer
durch andere Dinge, wie den Zweck ihres Aufenthaltes im betreffenden Gebäude,
vollauf in Anspruch genommen wird. Aus Erwägungen ähnlicher Art kann auch der
zweite von der Vorinstanz erwähnte Entscheid, 60 II 341 ff., nicht zum
Vergleich herangezogen werden. Wenn das Bundesgericht dort das Fehlen einer
ausreichenden Treppenhausbeleuchtung in einem städtischen Miethause als
Werkmangel betrachtete,

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so hatte das seinen Grund ebenfalls darin, dass es sich auch dort um eine
einer weiteren Öffentlichkeit zugängliche Örtlichkeit handelte, hinsichtlich
deren Beschaffenheit ebenfalls grössere Anforderungen gerechtfertigt sind.
3.- Fehlt der Unebenheit des Bodens der Charakter eines Werkmangels, so kann
dahingestellt bleiben, ob Frau Ackermann zufolge eigener Unvorsichtigkeit oder
wegen eines unglücklichen Zufalles ausgeglitten ist. Denn selbst falls
letzteres zutreffen sollte, vermöchte dies die Haftbarkeit des Beklagten nicht
herbeizuführen. Es sei lediglich bemerkt, dass der Auffassung der Vorinstanz,
wer eine fremde Wohnung betrete, dürfe sich in derselben so frei und unbesorgt
bewegen wie zu Hause, nicht beigepflichtet werden kann. Wer einen halbdunkeln
Korridor in einer ihm nicht vertrauten Wohnung betritt, hat sich gegenteils
einer besondern Vorsicht zu befleissen. Er darf nicht, wie dies an einem
öffentlichen oder sonst allgemein zugänglichen Ort der Fall sein mag, davon
ausgehen, es sei keinerlei Gefahr vorhanden. Er hat vielmehr darauf Rücksicht
zu nehmen, dass ihm Möbelstücke im Wege stehen, dass Treppenstufen vorhanden
sein könnten usw.
4.- Die Verneinung eines Werkmangels zieht die vollumfängliche Abweisung der
Klage nach sich, ohne das das Vorliegen des adäquaten Kausalzusammenhanges
zwischen dem Unfall und dem Tod der Frau Ackermann, sowie die Frage der
Schadenshöhe geprüft zu werden brauchen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich
vom 24. Januar 1940 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 66 II 109
Date : 01. Januar 1940
Published : 07. Mai 1940
Source : Bundesgericht
Status : 66 II 109
Subject area : BGE - Zivilrecht
Subject : Werkhaltung, Art. 58 OR. Geringfügige Vertiefungen im Bodenbelag einer Privatwohnung sind keine...


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