S. 317 / Nr. 53 Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr (d)

BGE 66 I 317

53. Urteil des Kassationshofs vom 7. Oktober 1940 i. S. Reinert gegen
Staatsanwaltschaft Schwyz.


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Regeste:
Einmündung einer Hauptstrasse in eine andere Hauptstrasse. Vortrittsrecht
durch Vortrittsignal (Nr. 7) geregelt. Langsames und vorsichtiges Einfahren
aus der Hauptstrasse mit aufgehobenem Vortrittrecht. - Begriff der
Gleichzeitigkeit. - Wenn der Vortrittsberechtigte in der durch den Fehler des
andern herbeigeführten Gefahrsituation nicht sofort anhalten kann oder nicht
die objektiv zweckmässigste Notmassnahme ergreift, bildet das keine
Nichtbeherrschung des Fahrzeugs im Sinne des Art. 25 MFG. (Art. 27 MFG, Art. 6
BRB über Hauptstrassen mit Vortrittsrecht).
Jonction de deux routes principales. Priorité de passage réglée par un signal
routier (No 7). Devoir de celui qui débouche de la route dont la priorité est
supprimée de ne s'engager sur l'autre chaussée que lentement et prudemment. -
Notion de la simultanéité. - Lorsque le titulaire de la priorité, dans la
situation dangereuse où l'a mis la faute de l'autre usager de la route, ne
peut s'arrêter immédiatement ou n'effectue pas la manoeuvre objectivement la
plus indiquée, on ne saurait conclure de ce fait même qu'il n'était pas maître
de sa machine conformément à l'art. 26 LA (art. 27 LA, art. 6 ACF sur les
routes principales avec priorité de passage).
Sbocco di una strada principale in un'altra strada principale. Diritto di
precedenza indicato da un segnale stradale (No 7). Colui che sbocca dalla
strada, il cui diritto di precedenza è soppresso, è tenuto ad inoltrarsi
sull'altra strada lentamente e prudentemente. Nozione della simultaneità. Se
il titolare del diritto di precedenza, trovandosi nella situazione pericolosa
ove l'ha messo l'altro utente della strada, non può fermarsi immediatamente o
non effettua la manovra oggettivamente più indicata, non se ne può concludere
ch'egli non era padrone del suo veicolo conformemente all'art. 26 LCAV (art.
27 LCAV; art. 6 DCF concernente le strade con diritto di precedenza).


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Am 18. September 1938 um 13 Uhr stiessen bei der Einmündung der Seedammstrasse
in die Kantonsstrasse Lachen-Pfäffikon der am Steuer eines Personenautos von
Rapperswil mit Bestimmung Lachen einbiegende R. Strässle und der mit seinem
Motorrad mit einer Geschwindigkeit von über 60 km von Lachen her Richtung
Pfäffikon fahrende A. Reinert zusammen, nachdem das Auto bereits die
jenseitige Strassenhälfte vor dem Restaurant Schweizerhof erreicht hatte.
Reinert und seine Mitfahrerin Frl. Lüthi wurden erheblich verletzt und beide
Fahrzeuge beschädigt.
Das Bezirksgericht Höfe verurteilte Strässle wegen Übertretung des Art. 27 MFG
und fahrlässiger Körperverletzung zu einer Busse von Fr. 100.- und Reinert
wegen Übertretung des Art. 25 MFG zu einer solchen von Fr. 20.-. In teilweiser
Gutheissung der Berufung des Strässle hat das Kantonsgericht Schwyz dessen
Busse auf Fr. 50.- herabgesetzt und diejenige des Reinert auf Fr. 50.- erhöht,
von der Annahme ausgehend, es treffe beide Fahrzeugführer ein ungefähr
gleiches Verschulden an dem Unfall. Dasjenige des Reinert bestehe darin, dass
er mit der übersetzten Geschwindigkeit von über 60 km auf die am Wegweiser
erkennbare Strasseneinmündung zugefahren sei und daher beim Auftauchen des
Autos sein Motorrad nicht beherrscht habe.
Mit der vorliegenden Nichtigkeitsbeschwerde beantragt Reinert seine
Freisprechung mit Entschädigung, eventuell Rückweisung der Sache zu diesem
Zwecke an die Vorinstanz. Strässle und das Kantonsgericht tragen auf Abweisung
der Nichtigkeitsbeschwerde an.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.- Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer mit einer Geschwindigkeit von
mehr als 60 km gegen die Einmündung der Seedammstrasse gefahren sei, ist
tatsächlicher Natur und für das Bundesgericht daher verbindlich. Eine
Beanstandung wegen willkürlicher

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Beweiswürdigung im Wege der Kassationsbeschwerde gibt es nicht (BGE 62 I 61).
Darauf, dass das Kantonsgericht von einer Annahme und nicht von einer
Feststellung spricht, kommt nichts an, denn eine Annahme ist auch eine
Feststellung im Sinne des Art. 275 BStrP.
Dagegen ist die weitere Feststellung, dass der Beschwerdeführer die Einmündung
der Seedammstrasse am Wegweiser von weitem habe erkennen können, nicht
verbindlich. Sie widerspricht sowohl der Planskizze und sehr deutlich der
Photographie act. 18 Nr. 2 als auch der Feststellung des Kassationshofes im
Urteil i. S. Meier (BGE 65 I 345).
2.- Eine Geschwindigkeit zwischen 60 und 70 km ist auf einer weithin geraden,
gutausgebauten Durchgangsstrasse ausserorts an sich nicht übersetzt. Ob sie es
im Hinblick auf die Einmündung der Seedammstrasse von rechts wäre, kann
dahingestellt bleiben, da nicht festgestellt ist, dass Reinert diese
Einmündung kannte, und aus den Akten hervorgeht, dass sie zur Zeit des Unfalls
für den Ortsunkundigen nichts weniger als leicht erkennbar war, da deren
damals einziges Anzeichen, die kleine Verkehrsinsel mit dem Wegweiser,
jenseits der Strassenrandlinie ganz auf dem Boden der Seedammstrasse liegt und
der Wegweiser sich auf dem unruhigen Hintergrund des dahinter stehenden
Wohnhauses nicht abhebt. Auf die Einmündung hinweisende Kreuzungssignale sind
erst seit dem Unfall angebracht worden. Vor allem aber besass Reinert als auf
der Hauptstrasse Fahrender das Vortrittsrecht gegenüber einer einmündenden
Strasse, selbst wenn diese von rechts kam und ebenfalls Hauptstrasse war, wie
das bei der Seedammstrasse der Fall ist; damit er dieser gegenüber das
Vortrittsrecht nicht gehabt hätte, hätte es auf der Hauptstrasse
Lachen-Pfäffikon durch ein Vortrittssignal 50 m vor der Einmündung aufgehoben
sein müssen.
Die Ursache des Zusammenstosses liegt vielmehr ausschliesslich in der
Nichtbeachtung dieses Vortrittsrechts

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durch Strässle. Das an sich auch auf der Seedammstrasse als Hauptstrasse
geltende Vortrittsrecht ist vorschriftsgemäss durch ein Vortrittssignal (Nr.
7) rechts der Seedammstrasse am Ende der Bahnüberführung aufgehoben. Aus dem
Briefe, den Strässle am 27. September 1938 an Reinert richtete, geht klar
hervor, dass er die Vortrittsregelung zwischen Hauptstrassen (gemäss Art. 6
des BRB über die Hauptstrassen mit Vortrittsrecht) auch 10 Tage nach dem
Unfall noch nicht kannte, sondern der Meinung war, zwischen Hauptstrassen
gelte wieder das Vortrittsrecht von rechts. Zufolge des Vortrittssignals war
er verpflichtet, jedem auf der durch diese Signalisierung bevorrechteten
Strasse Lachen-Pfäffikon, sei es von rechts oder von links, gleichzeitig
daherkommenden Fahrzeug den Vortritt zu lassen, was erforderte, langsam in
jene einzufahren, d. h. sich unter intensiver Beobachtung nach beiden Seiten,
insbesondere nach links (weil Fahrzeuge aus dieser Richtung auf der ihm näher
liegenden Strassenseite kamen) in die Schwenkung hineinzutasten und
nötigenfalls vor einem vortrittsberechtigten Fahrzeug, in casu dem Motorrad
Reinert, anzuhalten.
Die für die Anwendung der Vortrittsregeln nach Art. 27 MFG notwendige
Voraussetzung der Gleichzeitigkeit kann nicht deswegen als fehlend betrachtet
werden, weil Strässle bereits die rechte Strassenseite gewonnen hatte, als die
Kollision erfolgte. Sie wäre erst dann nicht mehr gegeben, wenn Strässle
genügend zeitlichen Vorsprung gehabt hätte, um seine rechte Fahrbahn zu
gewinnen, ohne den Vortrittsberechtigten in der gleichmässigen Fortsetzung
seiner Fahrt zu stören (BGE 62 I 195); könnte dieser nur gerade noch knapp
oder dank einem geschickten Manöver durchschlüpfen, so liegt Gleichzeitigkeit
vor. Dass dann Reinert, durch das vorschriftswidrige Einfahren Strässles
plötzlich in die Gefahrssituation versetzt, nicht mehr anhalten konnte und von
den sonst noch möglichen Notmassnahmen im Moment nicht die objektiv
zweckmässigste ergriff, sondern vor dem von

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rechts kommenden Auto instinktiv nach links auswich, bildet keine
Nichtbeherrschung des Fahrzeuges im Sinne des Art. 25 MFG und kann ihm nicht
zum Verschulden angerechnet werden (BGE 61 I 222 Erw. 4; 63 I 59); er durfte
sich auf sein Vortrittsrecht verlassen und er hat, als er dessen Verletzung
durch den Unberechtigten erkannte, getan was er noch konnte (BGE 66 I 119).
Durch die Bestrafung beider Beteiligten bei solcher Sach- und Rechtslage würde
die Vortrittsrechtsregelung weitgehend entwertet werden.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil
bezüglich des Beschwerdeführers aufgehoben, dieser von der Anschuldigung der
Übertretung des MFG freigesprochen und die Sache zur Freisprechung desselben
von der Anschuldigung der fahrlässigen Körperverletzung an die Vorinstanz
zurückgewiesen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 66 I 317
Datum : 01. Januar 1940
Publiziert : 06. Oktober 1940
Quelle : Bundesgericht
Status : 66 I 317
Sachgebiet : BGE - Verwaltungsrecht und internationales öffentliches Recht
Gegenstand : Einmündung einer Hauptstrasse in eine andere Hauptstrasse. Vortrittsrecht durch Vortrittsignal (Nr...


BGE Register
61-I-218 • 62-I-193 • 62-I-60 • 63-I-53 • 65-I-341 • 66-I-114 • 66-I-317
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
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