BGE 66 I 27
4. Urteil vom 8. März 1940 i. S. Canonica gegen Basel-Stadt.
Seite: 27
Regeste:
Den auf Art. 13 des Konkordates über die wohnörtliche Unterstützung
gegründeten Beschluss des Wohnsitzkantons zur Heimschaffung des Angehörigen
eines Konkordatskantons kann der Betroffene nur wegen Verletzung
verfassungsmässiger Rechte anfechten (Erw. 1);
Beschliesst die Vormundschaftsbehörde des Wohnsitzes gestützt auf Art. 284 ZGB
die Versorgung von Kindern eines ausserkantonalen Niedergelassenen und kann
dieser für die entstehenden Kosten nicht aufkommen, ohne der öffentlichen
Wohltätigkeit zur Last zu fallen, so liegt in der Erklärung des Heimatkantons,
dass er die Versorgung auf seine Kosten in einer dafür geeigneten Anstalt
vornehmen wolle, ein genügendes Unterstützungsangebot im Sinne von Art. 45
Abs. 3
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 45 Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes - 1 Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung. |
|
1 | Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung. |
2 | Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend über seine Vorhaben; er holt ihre Stellungnahmen ein, wenn ihre Interessen betroffen sind. |
Lorsqu'un canton signataire du concordat relatif à l'assistance au domicile
décide, en vertu de l'art. 13 dudit concordat, de rapatrier un confédéré
établi sur son territoire et ressortissant d'un autre canton concordataire,
l'intéressé ne peut attaquer cette décision que pour violation de ses droits
constitutionnels (consid. 1).
Lorsque l'autorité tutélaire du domicile décide de placer (art. 284 CC) les
enfants d'un confédéré et que celui-ci ne peut payer le coût du placement sans
tomber à la charge de l'assistance publique, le canton d'origine fait une
offre d'assistance suffisante (art. 45 al. 3 CF) en déclarant qu'il placera
les enfants à ses frais dans un établissement convenable (consid. 2).
Se un cantone che ha aderito al concordato concernente l'assistenza nel luogo
di domicilio decide, in virtù dell'art. 13 di questo concordato, il rimpatrio
di un confederato domiciliato sul suo territorio e oriundo di un altro cantone
concordatario, l'interessato può impugnare questa decisione soltanto per
violazione dei suoi diritti costituzionali (consid. 1).
Se l'autorità tutoria del domicilio decide di ricoverare i figli di un
confederato (art. 284 CC) e questi non può sopportare le spese di ricovero
senza cadere a carico della pubblica assistenza, il cantone di origine fa
un'offerta di proporzionato sostentamento (art. 45 cp. 3 CF) dichiarando che a
sue spese ricovererà i figli in un istituto appropriato (consid. 2).
A. Der Rekurrent Carlo Canonica, Maurer, von Corticiasca (Kt. Tessin) ist
seit 1929 in Basel niedergelassen. Im Jahr 1932 verheiratete er sich mit
Frieda geb. Mathys. Zur Zeit besteht die Familie aus den
Seite: 28
Ehegatten und sechs Kindern, geb. 1931, 1932, 1934, 1935, 1937 und 1939. Es
ist unbestritten, dass der Rekurrent in den Jahren 1932-1939 in Basel von der
staatlichen Arbeitslosenkasse Fr. 2860. und an «Notunterstützungen» Fr.
4495.50 bezogen hat.
Die Leistungen der staatlichen Arbeitslosenkasse beruhten auf dem kantonalen
Gesetz vom 11. Februar 1926 betreffend Versicherung gegen die Folgen der
Arbeitslosigkeit, die «Notunterstützungen» auf den Grossratsbeschlüssen vom
12. März 1931 und vom 10. November 1932 betreffend Notunterstützung von
Arbeitslosen und betreffend Weiterführung dieser Einrichtung. § 1 des
letztgenannten Beschlusses lautet:
«Bedürftige Bürger und Einwohner, die arbeitslos sind und sich deshalb in
einer Notlage befinden, sollen nach Massgabe der folgenden Bestimmungen und
der vom Regierungsrat zu erlassenden Ausführungsvorschriften unterstützt
werden, ohne dass ihnen die gewährte Hilfe als Armenunterstützung anzurechnen
ist.»
In den nämlichen Jahren ist der Rekurrent von der Allgemeinen Armenpflege
Basel mit Fr. 599.15 (wovon auf 1939 Fr. 55. entfallen) und bis 1938 von der
Heimatbehörde mit Fr. 1297.25 unterstützt worden.
Am 29. Juni 1939 beschloss der Vormundschaftsrat des Kantons Basel-Stadt
gestützt auf Art. 284 ZGB, die vier ältesten Kinder Canonica - Carlo, Bruno,
Renato und Frieda - den Eltern wegzunehmen und sie in Familien oder Anstalten
zu versorgen, da sie sonst der leiblichen und geistigen Verwahrlosung
ausgesetzt wären und verkommen würden. Einen Rekurs des Ehemannes Canonica
gegen diese Verfügung hat der Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt durch
Entscheid vom 4. August 1939 abgewiesen.
Die Vormundschaftsbehörde ersuchte hierauf die Allg. Armenpflege Basel um
Übernahme der
Seite: 29
Versorgungskosten im Betrage von ungefähr Fr. 2500.jährlich. Die Armenpflege
gab ihrerseits am 2. September 1939 dem Departement des Innern des Kantons
Tessin (Armendepartement) Kenntnis von den Beschlüssen des Vormundschaftsrats
und Regierungsrates Basel-Stadt vom 29. Juni und 4. August 1939 und erklärte,
dass sie genötigt sei, den Fall «ausser Konkordat zu stellen» und die
wohnörtliche Unterstützung abzulehnen, da die Versorgungsbedürftigkeit der
Kinder auf schuldhaftes Verhalten der Eltern zurückgehe (Misswirtschaft; Art.
13 I des Konkordats vom 16. Juni 1937 über wohnörtliche Unterstützung). Mit
Schreiben vom 3. Oktober 1939 antwortete das tessinische Departement des
Innern, dass die Heimatgemeinde nicht imstande sei, einen so hohen Betrag für
die Versorgung der Kinder in Basel zu zahlen; dagegen sei das Departement
bereit, für die ganzen Versorgungskosten aufzukommen, falls die Kinder im Heim
«von Mentlen» in Bellinzona untergebracht würden; die Eltern mit den beiden
jüngsten Kindern wären alsdann in Basel zu belassen, wo sie ihr Auskommen
hätten; wenn Basel-Stadt mit dieser Lösung einverstanden sei, so könnten die
älteren Kinder ohne weiteres in das genannte Heim gebracht werden.
Am 7. November 1939 beschloss jedoch der Regierungsrat von Basel-Stadt auf den
Antrag der dortigen Armenpflege und des Polizeidepartements, der ganzen
Familie (Ehegatten und Kinder) gestützt auf Art. 45 III und V BV und Art. 13
des vorerwähnten Konkordats die Niederlassung im Kanton zu entziehen und das
Polizeidepartement mit der Heimschaffung zu beauftragen. Der Beschluss wurde
dem Staatsrat des Kantons Tessin mit Schreiben vom 8. November 1939 angezeigt.
Darin wurde ausgeführt: die Familie Canonica habe seit 1932 mit über Fr.
9000. unterstützt werden müssen. Im Haushalte der Familie herrschten wegen
des Unverstandes und der Unbotmässigkeit des Mannes sowie wegen der
Untüchtigkeit und Misswirtschaft der Frau unhaltbare Zustände.
Seite: 30
Die Kostengarantie für die von der Vormundschaftsbehörde verfügte Versorgung
eines Teils der Kinder habe die Heimatbehörde abgelehnt. Dem Vorschlage, die
Familie aufzuteilen, könne vom fürsorgerischen Standpunkte nicht zugestimmt
werden. Denn dadurch würde das gegenseitige Verhältnis der geistig nicht
vollwertigen Eltern nicht geändert und die Misswirtschaft nicht behoben.
Andererseits dürften die ländlichen Verhältnisse des Heimatkantons für die
Kindererziehung von Vorteil sein. Das Departement des Innern von Tessin
ersuchte mit Zuschrift vom 18. November 1939 um Mitteilung über Zahl und Alter
der von der Ausweisung betroffenen Kinder, ohne gegen die Massnahme selbst
Einspruch zu erheben.
B. Mit rechtzeitiger staatsrechtlicher Beschwerde haben die Ehegatten
Canonica-Mathys für sich und ihre Kinder die Aufhebung des vom Regierungsrat
Basel-Stadt am 7. November 1939 beschlossenen Niderlassungsentzuges beantragt.
Es wird angebracht: die Verfügung verstosse gegen Art. 45
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 45 Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes - 1 Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung. |
|
1 | Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung. |
2 | Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend über seine Vorhaben; er holt ihre Stellungnahmen ein, wenn ihre Interessen betroffen sind. |
Canonica und seine Familie nicht dauernd der öffentlichen Wohltätigkeit des
Niederlassungskantons zur Last gefallen seien. Wollte man diese Voraussetzung
noch als gegeben ansehen, so würden jedenfalls die besonderen Voraussetzungen
des Konkordats (Art. 13) für die Ablehnung der wohnörtlichen Unterstützung und
die Heimschaffung fehlen (was näher ausgeführt wird). Hier liege aber infolge
Erfüllung der Karenzfrist des früheren Konkordats von 1923 an sich
unbestrittenermassen ein konkordatsmässiger Unterstützungsfall vor.
C. Der Regierungsrat von Basel-Stadt hat auf Abweisung der Beschwerde
geschlossen und zur Begründung auf die Akten und das Schreiben vom 8. November
1939 an den Staatsrat Tessin verwiesen. Ergänzend und berichtigend wird
beigefügt, die Zahlungen der staatlichen Arbeitslosenkasse und die
«Notunterstützungen» seien freilich als Versicherungsleistungen und nicht
Seite: 31
als Armenunterstützung anzusehen. Doch komme darauf nichts an. Denn der
Nachweis, dass die Familie dauernd der öffentlichen Wohltätigkeit am Wohnorte
zur Last falle, sei trotzdem erbracht. Dazu komme, dass nach dem
rechtskräftigen Beschluss des Vormundschaftsrats vier Kinder versorgt werden
sollten, wodurch sich die Unterstützungsbedürftigkeit noch erhöhen werde. Die
Übernahme der Kosten dieser Versorgung sei von der Heimatbehörde verweigert
worden, sodass sie ganz zu Lasten der baselstädtischen Armenpflege fallen
würden.
D. Da die Beschlüsse des Vormundschaftsrats und Regierungsrats über die
Versorgung der vier älteren Kinder, das daraufhin ergangene Schreiben der
Allg. Armenpflege an das tessinische Departement des Innern vom 2. September
und dessen Antwort vom 3. Oktober 1939 der Beschwerdeantwort nicht beigelegt
waren, sind sie vom Instruktionsrichter eingefordert worden. Im
Übermittlungsschreiben hat der Regierungsrat von Basel-Stadt den Antrag auf
Abweisung der Beschwerde erneuert und auf eine beigelegte Vernehmlassung der
Allg. Armenpflege vom 17. Januar 1940 verwiesen. Darin werden die schon früher
geltend gemachten Gründe wiederholt, welche die Allg. Armenpflege bestimmt
hätten, die von der Heimatbehörde angeregte Teilung der Familie abzulehnen;
bei der Untüchtigkeit der Frau würden Schuldenmachen und Misswirtschaft
fortgedauert haben, ebenso wäre eine Besserung der Beziehungen zwischen den
Ehegatten nach den bisherigen Erfahrungen nicht zu erwarten gewesen. Rechtlich
sei die Stellungnahme des Heimatkantons der Verweigerung der verlangten
Unterstützung gleichgekommen und infolgedessen die Voraussetzung zum
Niederlassungsentzug nach Art. 45
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 45 Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes - 1 Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung. |
|
1 | Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung. |
2 | Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend über seine Vorhaben; er holt ihre Stellungnahmen ein, wenn ihre Interessen betroffen sind. |
sich denn auch dieser Massnahme nicht widersetzt, sondern im Schreiben des
Departements des Innern vom 18. November 1939 nur die getrennte Heimschaffung
von Eltern und Kindern vorgeschlagen, wenn dies wegen Widersetzlichkeit der
ersteren nötig sein sollte.
Seite: 32
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Nach Art. 1 des Konkordats vom 16. Juni 1937 verzichtet der Wohnkanton in
den dem Konkordat unterstellten Fällen darauf, dem Unterstützungsberechtigten
wegen Inanspruchnahme der öffentlichen Wohltätigkeit die Wohnberechtigung zu
entziehen; er unterstützt ihn vielmehr gleich einem eigenen Bürger und teilt
sich in bestimmter Weise mit dem Heimatkanton in die Fürsorgekosten. Die
Heimschaffung ist nur zulässig, wenn einer der in Art. 13 umschriebenen
besonderen Tatbestände vorliegt, insbesondere (Art. 13 I) wenn die
Unterstützungsbedürftigkeit vorwiegend die Folge fortgesetzter schuldhafter
Misswirtschaft, Verwahrlosung, Liederlichkeit oder Arbeitsscheu ist. Dem
Inhalt, wenn nicht genau dem Wortlaut nach übereinstimmende Bestimmungen
enthielt schon das frühere Konkordat vom 15. Juni 1923 (Art. 13). Wie das
Bundesgericht im Falle Bähler-Troller (BGE 61 I 194) erkannt hat, liegt darin
indessen nur eine interne Ordnung im Verhältnis zwischen den
Konkordatskantonen selbst in dem Sinne, dass sie sich gegenseitig der
Unterstützungslast, die sie als Wohnkanton konkordatsmässig trifft, nicht
durch Ausweisung des Unterstützungsbedürftigen entledigen können, ausser in
jenen Ausnahmefällen. Der von einem Heimschaffungsbeschluss betroffene Bürger
kann diesen nach wie vor nur wegen Verletzung seiner verfassungsmässigen
Rechte anfechten, also weil die Voraussetzungen von Art. 45
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 45 Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes - 1 Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung. |
|
1 | Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung. |
2 | Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend über seine Vorhaben; er holt ihre Stellungnahmen ein, wenn ihre Interessen betroffen sind. |
oder wegen Verstosses gegen eine andere Verfassungsnorm (z. B. gegen Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
BV, wenn gesetzliche Vorschriften des Niederlassungskantons selbst über die
Materie willkürlich missachtet worden sein sollten). Nur diese Bedeutung hat
insbesondere das Bundesgericht dem Art. 20 des früheren Konkordats
beigemessen, der neben der schiedsrichterlichen Entscheidung des Bundesrats
(eidg. Justiz- und Polizeidepartements) bei Streitigkeiten unter den
Vertragskantonen selbst über Anwendung und
Seite: 33
Auslegung der Übereinkunft die «staatsrechtliche Beschwerde von Angehörigen
solcher Kantone gemäss Art. 175 Ziff. 3
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
Anlass, die Frage für das heute geltende neue Konkordat verschieden zu lösen,
nachdem der erwähnte Art. 20 darein wörtlich gleichlautend wieder aufgenommen
worden ist. Hätte man damit einen anderen erweiterten Sinn verbunden, so wäre
dies nach dem Urteil BGE 61 I 194 zweifellos ausgesprochen worden. Soweit die
vorliegende Beschwerde den Niederlassungsentzug wegen Verletzung von Art. 13
des Konkordats anficht (Fehlens der hier aufgestellten besonderen
Erfordernisse für die Heimschaffung), ist demnach darauf nicht einzutreten.
2. Zur Entziehung der Niederlassung auf Grund von Art. 45 genügt es nicht,
dass die Person für sich oder ihre Familie in einem früheren, mehr oder minder
zurückliegenden Zeitraum die öffentliche Wohltätigkeit des
Niederlassungskantons in mehr als vorübergehender Weise in Anspruch genommen
hatte (BGE 22 I 362; BLOCH, Niederlassungsrecht ZSR N. F. 23 S. 393). Dieser
Tatbestand muss entweder auch noch zur Zeit der Ausweisungsverfügung
fortgedauert haben oder es müssen doch besondere Umstände eingetreten sein,
aus denen sich mit Notwendigkeit oder Sicherheit ergibt, dass von nun an die
Person der öffentlichen Armenunterstützung am Niederlassungsorte anheimfallen
würde (BGE 56 I 14 mit Zitaten, Urteil vom 1. Dezember 1939 i. S. Clerc gegen
Genf S. 10). Der Betrag von Fr. 55., den der Rekurrent Canonica im Jahre 1939
allein noch von der baselstädtischen Armenpflege bezogen hat, ist offenbar zu
gering, um eine zur Zeit des Niederlassungsentzuges noch fortbestehende
tatsächliche dauernde Belastung der öffentlichen Armenkassen des
Niederlassungskantons anzunehmen; die Leistungen der staatlichen
Arbeitslosenkasse und die als «Notunterstützung» ausgerichteten Beträge fallen
in diesem Zusammenhang ausser Betracht, wie der Regierungsrat von Basel-Stadt
heute anerkennt (s. auch
Seite: 34
BGE 64 I 239 ff., insbes. 243 unter b; Urteil vom 1. Dezember 1939 i. S. Clerc
E. 2 d; Konkordat von 1937 Art. 8 III). Dagegen müsste eine von jetzt an für
die Zukunft notwendig eintretende dauernde Unterstützungsbedürftigkeit
freilich als gegeben angesehen werden, wenn der Kanton Tessin auf den
Beschluss des baselstädtischen Vormundschaftsrats vom 29. Juni 1939 hin sich
geweigert hätte, für die von dieser Behörde angeordnete Versorgung der vier
älteren Kinder Canonica aufzukommen. Die staatsrechtliche Beschwerde selbst
gibt den möglichen Jahresverdienst des Ehemanns Canonica unter der
Voraussetzung fortgesetzter Beschäftigung (ohne Arbeitslosigkeit) mit Fr.
3720. an: es ist ausgeschlossen, dass daraus neben dem Unterhalt der
Ehegatten und der nicht versorgten Kinder die Kosten jener Versorgung
bestritten werden könnten, auch wenn sie nicht den vollen von der
Vormundschaftsbehörde angenommenen Betrag erreichen sollten. Doch hat sich der
Kanton Tessin nach Mitteilung der Versorgungsverfügung bereit erklärt, die
daraus erwachsenden Kosten auf sich zu nehmen, wenn die Kinder in der von ihm
bezeichneten tessinischen Anstalt untergebracht würden (Heim von Mentlen in
Bellinzona), und er hat diese Erklärung auch seither nicht zurückgenommen.
Darin ist aber, entgegen der Ansicht der baselstädtischen Behörden, ein
genügendes Unterstützungsangebot i. S. von Art. 45 III BV zu erblicken. Es ist
nicht einzusehen, warum die hier geforderte angemessene heimatliche
Unterstützung in einem Falle, wo die Vormundschaftsbehörde des Wohnsitzes
beschlossen hatte, die Kinder den Eltern wegzunehmen und sie anderwärts zu
versorgen, nicht auch dadurch sollte geschehen können, dass der Heimatkanton
diese Versorgung durch Unterbringung in einer auf seinem Gebiet befindlichen
geeigneten Anstalt auf seine Kosten übernimmt, und weshalb sie nur in der
Zusicherung bestehen könnte, die für die Unterbringung im Niederlassungskanton
erforderlichen Geldbeiträge an diesen zu leisten. Ein Einspracherecht der
Seite: 35
Eltern kommt nicht in Betracht, weil durch die Wegnahmeverfügung der
Vormundschaftsbehörde die häusliche Gemeinschaft mit den betreffenden Kindern
ohnehin aufgelöst und den Eltern die Befugnis genommen ist, deren Aufenthalt
zu bestimmen, sodass die Unterstützung sich von vorneherein praktisch auf
nichts anderes als die Tragung der Versorgungskosten erstrecken kann. Die
öffentliche Armenpflege des Niederlassungskantons aber wird so finanziell ganz
gleich entlastet, wie wenn der Heimatkanton dem Niederlassungskanton die
Aufwendungen für die Versorgung hier vergütete. Hat einmal die
Vormundschaftsbehörde auf Grund von Art. 284 ZGB beschlossen, Kinder den
Eltern wegzunehmen, so ist sie freilich auch allein zuständig, die Art der
Unterbringung zu bestimmen; der Armenbehörde kommt eine Verfügung oder
Mitverfügung in dieser Hinsicht alsdann auch dann nicht zu, wenn sie wegen
Unvermögens der Eltern und unterstützungspflichtigen Verwandten die
Versorgungskosten zu tragen hat, sie kann sich höchstens gemäss Art. 420
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 420 - Werden der Ehegatte, die eingetragene Partnerin oder der eingetragene Partner, die Eltern, ein Nachkomme, ein Geschwister, die faktische Lebenspartnerin oder der faktische Lebenspartner der betroffenen Person als Beistand oder Beiständin eingesetzt, so kann die Erwachsenenschutzbehörde sie von der Inventarpflicht, der Pflicht zur periodischen Berichterstattung und Rechnungsablage und der Pflicht, für bestimmte Geschäfte die Zustimmung einzuholen, ganz oder teilweise entbinden, wenn die Umstände es rechtfertigen. |
bei der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde gegen einen Beschluss der
Vormundschaftsbehörde beschweren, der den Interessen der Armenkasse ohne
hinreichende fürsorgerische Gründe keine Rechnung trägt (BGE 52 II 416 E. 2;
EGGER zu Art. 283 Nr. 7 und 8). Örtlich zuständige Vormundschaftsbehörde
bliebe aber auch bei Unterbringung der Kinder im Kanton Tessin diejenige von
Basel-Stadt, da durch diese Versorgung am Wohnsitz der Kinder nichts geändert
würde (ZGB Art. 25, 26; EGGER zu Art. 26 Nr. 5). Weder beruft sich indessen
der Regierungsrat von Basel-Stadt für die Ablehnung des Angebots des
tessinischen Departements des Innern vom 3. Oktober 1939 auf einen Beschluss
des zuständigen baselstädtischen Vormundschaftsorgans (Vormundschaftsrats),
wodurch die Zustimmung zu dieser Lösung versagt worden wäre weil sie dem mit
der Versorgung verfolgten Zweck der Fürsorge für die Kinder nicht entspreche,
noch macht er für die Ablehnung seinerseits solche Gründe
Seite: 36
geltend (dass in der Unterbringung in dem vom genannten Departement
bezeichneten Heim keine geeignete Versorgung i. S. von Art. 284 ZGB liegen
würde). Vielmehr führt er ausschliesslich Gründe an, die hiemit
augenscheinlich nichts zu tun haben, nämlich dass die Verhältnisse in dem
nicht von der Versorgung betroffenen Teil der Familie dadurch nicht gebessert
und die Misshelligkeiten unter den Ehegatten und deren anfechtbare
Wirtschaftsführung fortdauern würden. Erwägungen dieser Art können aber für
die angefochtene Ausweisung nicht ausreichen, wenn die verfassungsmässige
Voraussetzung dazu fehlt, nämlich die Verweigerung einer angemessenen
Unterstützung durch den Heimatkanton. Der Kanton Basel-Stadt wendet auch nicht
etwa ein, dass er sich der in Frage stehenden Teilung der Familie auf Grund
von Art. 14 IV des Konkordats von 1937 nicht zu unterziehen brauche, wonach
einzelne Glieder einer Unterstützungseinheit nur mit Zustimmung des
Wohnkantons heimgerufen werden können. Es ist deshalb nicht zu untersuchen,
welche Wirkung dieser Bestimmung gegenüber einer staatsrechtlichen Beschwerde
der nicht vom «Heimruf» betroffenen Familienglieder zukommen könnte, wodurch
sie sich der Erstreckung der Ausweisung auf sie wegen Nichtzutreffens der
verfassungsmässigen Erfordernisse widersetzen. Ebenso kann offen bleiben, wie
es sich verhielte, wenn die Unterstützungsbedürftigkeit nur aus dem Unvermögen
des Familienhauptes hervorginge für die Kinder aufzukommen, ohne dass eine
Verfügung der Vormundschaftsbehörde des Wohnsitzes nach Art. 284 ZGB ergangen
wäre, d.h. ob auch dann der Heimatkanton die Ausweisung dadurch abwenden
könnte, dass er die Kinder in einer seiner Anstalten auf seine Kosten
unterbringt (Es würde darin eine armenpolizeiliche Wegnahme der Kinder liegen,
EGGER zu Art. 282
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 420 - Werden der Ehegatte, die eingetragene Partnerin oder der eingetragene Partner, die Eltern, ein Nachkomme, ein Geschwister, die faktische Lebenspartnerin oder der faktische Lebenspartner der betroffenen Person als Beistand oder Beiständin eingesetzt, so kann die Erwachsenenschutzbehörde sie von der Inventarpflicht, der Pflicht zur periodischen Berichterstattung und Rechnungsablage und der Pflicht, für bestimmte Geschäfte die Zustimmung einzuholen, ganz oder teilweise entbinden, wenn die Umstände es rechtfertigen. |
zur Vollstreckung einer solchen polizeilichen Verfügung eines anderen Kantons
auf seinem Gebiet Hand bieten müsste).
Seite: 37
Ob der Kanton Tessin der Ausweisungsverfügung nicht widersprochen hat, ist für
die verfassungsmässige Rechtsstellung der davon betroffenen Personen
unerheblich. Sollte sich herausstellen, dass der Rekurrent Canonica auch bei
dem herabgesetzten Familienbestande, wie er nach Unterbringung der vier
älteren Kinder im Kanton Tessin bleibt, wiederum gezwungen sein wird, die
öffentliche Wohltätigkeit in Basel dauernd zu beanspruchen, so steht es dem
Kanton Basel-Stadt frei, die Ausweisung dannzumal neuerdings zu verfügen. Zur
Zeit liegen hiefür keine genügenden Anhaltspunkte vor bei dem unbedeutenden
Betrage, der im Jahre 1939 allein noch bezogen worden ist.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Regierungsrates des
Kantons Basel-Stadt vom 7. November 1939 im Sinne der Erwägungen aufgehoben.