S. 121 / Nr. 19 Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr (d)

BGE 66 I 121

19. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofs vom 18. März 1940 i. S. Pfister
gegen Polizeirichteramt Zürich.


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Regeste:
Vortrittsrecht von rechts (Art. 27 MFG): Abzulehnen die Auffassung, wonach der
Vortrittsunberechtigte in jedem Fall bis an die Mittellinie der andern Strasse
heranfahren, also deren zunächstliegende Hälfte für sich beanspruchen dürfe.
Vorsichtiges «Hineintasten» des Unberechtigten bei beschränkter Sicht in die
vortrittsberechtigte Strasse.
Örtliche Ausdehnung der «Kreuzung».
Priorité de passage (art. 27 LA): Celui qui n'a pas la priorité de passage n'a
pas non plus le droit de s'avancer en tout cas jusqu'à la ligne médiane de la
route qu'emprunte le titulaire de la priorité.
Droit de celui qui n'a pas la priorité de s'avancer prudemment lorsque sa vue
est gênée.
Quel espace le carrefour comprend-il?
Diritto di precedenza (art. 27 LCAV): Colui cui non stetta la precedenza, non
ha nemmeno il diritto di avanzarsi in ogni caso sino alla linea mediana della
strada sulla quale circola il titolare del diritto di precedenza, ma tutt'al
più può avanzarsi prudentemente, allorchè la sua visibilità è limitata.
Raggio normale del crocevia.

Am 12. Dezember 1938 kurz nach 20 Uhr stiess der Beschwerdeführer mit seinem
Auto von Oerlikon die Hofwiesenstrasse stadteinwärtsfahrend am Bucheggplatz
mit dem von rechts aus der Bucheggstrasse einbiegenden Motorradfahrer Klöti
zusammen, wobei das Motorrad beschädigt wurde. Das Bezirksgericht Zürich hat
den Autoführer wegen zu schnellen Fahrens (Art. 25 MFG) und Verletzung des
Vortrittsrechts des Klöti (Art. 27) mit Fr. 20.­ gebüsst; Klöti hatte die ihm
wegen Schneidens der Kurve auferlegte Busse von Fr. 15.­ angenommen. Nach den
Feststellungen der Vorinstanz hat der Beschwerdeführer seine Geschwindigkeit
von ca. 50 km auf die Strassenkreuzung zu, an der sich zugleich eine Tram- und
eine Autobushaltestelle befinden, nicht vermindert, sondern erst brüsk
gestoppt, als der Motorradfahrer von rechts, die Kurve sehr kurz nehmend, auf
ihn zufuhr.

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Mit der vorliegenden Nichtigkeitsbeschwerde beantragt der Beschwerdeführer
seine Freisprechung. Er bestreitet, zu weit in die Strassenkreuzung
eingefahren zu sein und dem Motorradfahrer den Vortritt abgeschnitten zu
haben. Er habe nicht mehr als 30 km Geschwindigkeit gehabt, seinen Wagen
beherrscht und rechtzeitig, nämlich 7 m vor der Trottoirlinie der
Bucheggstrasse, zum Stehen gebracht.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
Soweit die Vorinstanz den Beschwerdeführer einer Verletzung des
Vortrittsrechts des von rechts kommenden Motorradfahrers schuldig erklärt hat,
kann ihr nicht beigepflichtet werden. Zwar ist die Auffassung entschieden
abzulehnen, wonach der Vortrittsunberechtigte beim Einfahren in eine
Strassenkreuzung bezw. -Einmündung in jedem Fall bis dicht an die Mittellinie
der andern Strasse heranfahren, also die ihm zunächstliegende Strassenhälfte
in Anspruch nehmen dürfe und dem Vortrittsberechtigten nur dessen rechte
Strassenhälfte zu überlassen brauche. Hingegen kann für den Unberechtigten ein
teilweises Einfahren in die Kreuzung nötig werden. Ist ihm z.B. durch die
Gestaltung der Örtlichkeit die Sicht um die Ecke in die vortrittsberechtigte
Strasse benommen, so muss er sich ­ mit grösster Vorsicht ­ in die Kreuzung
soweit «hineintasten», bis er die Übersicht gewinnt. Im vorliegenden Falle
aber hat der Beschwerdeführer weder erst in der Kreuzung noch gar erst vor der
Mittellinie der Bucheggstrasse angehalten, sondern mehrere Meter vor der ihm
zunächstliegenden Trottoirlinie derselben.
Wenn die Vorinstanz gegenteils bemerkt, der Beschwerdeführer habe erst nach
Einfahren in die Kreuzung angehalten, so rechnet sie offenbar schon die sich
durch die Abrundung der Strassenecken ergebende trichterartige Ausweitung der
Strasse zur Kreuzung, aber zu Unrecht; als solche kommt nur die Fläche
zwischen den geraden Verbindungs- (bezw. Fortsetzungs-) linien der Ränder der

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zusammenkommenden Strassen in Betracht. So wie der Beschwerdeführer angehalten
hat, wäre der Motorradfahrer, wenn er die Linkskurve korrekt weit genommen
hätte, bequem vor ihm durchgekommen.
Was dagegen den Vorwurf der Geschwindigkeitsüberschreitung anbelangt, ist der
Kassationshof an die Feststellung der Vorinstanz gebunden, wonach der
Beschwerdeführer ohne zu verlangsamen mit ca. 50 km auf die Kreuzung
zugefahren sei. Die von ihm für seine gegenteilige Behauptung angeführten
Indizien können vom Bundesgericht gemäss Art. 275 BStrP nicht in Würdigung
gezogen werden. Eine Herabsetzung der Geschwindigkeit war umso mehr geboten,
als die Verkehrsverhältnisse an dieser Strassenkreuzung zufolge des
Vorhandenseins der Tramgeleiseschleife, des Autobus und der Trottoirinseln
nicht ganz einfache und übersichtliche waren. Dass es dem Beschwerdeführer
dank energischem Abbremsen noch gelang, vor der Kreuzungslinie anzuhalten, und
dass der Zusammenstoss bei korrektem Ausfahren der Kurve seitens des
Motorradfahrers wahrscheinlich nicht passiert wäre, entlastet den
Beschwerdeführer von dem Fehler der Geschwindigkeitsüberschreitung nicht, zu
welchem ein Kausalzusammenhang mit einem Unfall nicht erforderlich ist.
Da nicht nur Art. 25 MFG, sondern auch Art. 27 eine ausdrückliche Vorschrift,
zu verlangsamen, enthält, liegt trotz Verneinung einer Verletzung des
Vortrittsrechts kein Anlass vor, den Beschwerdeführer von der Anklage der
Übertretung des Art. 27 freizusprechen, abgesehen davon, dass die Busse von
Fr. 20.­ in Art. 25 immer noch genügend Begründung fände.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 66 I 121
Datum : 01. Januar 1940
Publiziert : 18. März 1940
Quelle : Bundesgericht
Status : 66 I 121
Sachgebiet : BGE - Verwaltungsrecht und internationales öffentliches Recht
Gegenstand : Vortrittsrecht von rechts (Art. 27 MFG): Abzulehnen die Auffassung, wonach der...


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66-I-121
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