S. 190 / Nr. 32 Motorfahrzeug- Fahrradverkehr (d)

BGE 65 I 190

32. Urteil des Kassationshofs vom 26. Juni 1939 i. S. Lustenberger gegen
Statthalteramt Luzern-Stadt.

Regeste:
Wiederanfahren des Motorfahrzeugs aus dem Halt: Betätigung des
Fahrtrichtungszeigers (Art. 75 lit. b MFV), Rückwärtsbeobachtung (Art. 25
MFG).
Obligation d'actionner l'indicateur de direction (art. 75 lit. b RA) et de
regarder en arrière (art. 25 LA) lorsqu'on remet en marche un véhicule à
moteur arrêté?
Obbligo di azionare l'indicatore di direzione (art. 75 lett. b OrdCAV) e di
guardare indietro (art. 25 LCAV) allorchè un autoveicolo fermo è rimesso in
marcia?

A.- Am 19. Februar 1939 gegen 21 Uhr kam es auf dem Schweizerhofquai in Luzern
vor dem Luzernerhof,

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wo die Fahrbahn durch eine lange schmale Trottoirinsel halbiert ist, zu einem
Zusammenstoss zwischen dem vom Beschwerdeführer Lustenberger gelenkten
städtischen Autobus und einem von Franz Lingg gesteuerten Personenauto. Nach
den Akten fuhr der Autobus unter Verlangsamung der Fahrt auf seine rechts
liegende Haltestelle Luzernerhof zu, um dort anzuhalten. Er näherte sich mit
seiner Längsseite dem Randstein bis auf ca. 80 cm, fuhr jedoch, da der
Billeteur vor dem gänzlichen Stillstehen dem Führer das Zeichen zur
Weiterfahrt gegeben hatte, ohne anzuhalten wieder weiter. Dabei musste
Lustenberger, um an einem ca. 4-6 m vor ihm hart am Randstein stillstehenden
andern Autobus vorbeizukommen und die normale Fahrbahn zu gewinnen, etwas nach
links einbiegen, was er ziemlich scharf tat, ohne den Richtungszeiger links zu
stellen oder nach hinten zu beobachten.
Während Lustenberger auf die Haltestelle zufuhr, wollte der hinter ihm
herfahrende Lingg den Autobus überholen, was wegen der Trottoirinsel nur mit
geringem gegenseitigem Abstand geschehen konnte. Als Lingg etwa mit seiner
Wagenmitte die Höhe des Kühlers des Autobus erreicht hatte, erfolgte die
Linksschwenkung des letztern und unmittelbar darauf die Kollision, indem der
Autobus mit seinem vordern linken Kotflügel gegen den hintern rechten
Kotflügel des Personenwagens fuhr.
B. - Auf Antrag des Statthalteramtes wurde der Beschwerdeführer vom
Amtsgericht Luzern-Stadt wegen Übertretung der Art. 25 MFG und 75 lit. b MFV
mit Fr. 15 gebüsst. Die Vorinstanz sieht den Fehler des Beschwerdeführers
darin, dass er vor der Linksbiegung den Richtungszeiger nicht gestellt und
dass er sich nicht im Rückspiegel darüber orientiert habe, ob allenfalls
andere Autos die Zeit seines Anhaltens zur Vorfahrt benutzen würden...
Gegen dieses Urteil richtet sich die vorliegende Nichtigkeitsbeschwerde
Lustenbergers.

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Der Kassationshof zieht in Erwägung:
Die einzige Bestimmung, die über den Gebrauch des Fahrtrichtungsanzeigers
etwas sagt, Art. 75 lit. b MFV, schreibt dessen Betätigung summarisch bei
«Abbiegen» vor. Darunter ist das Verlassen der bisher eingehaltenen Fahrbahn
zu verstehen, sei es dass das Fahrzeug in eine seitlich abzweigende Strasse,
Einfahrt usw. abschwenken, sei es dass es auf seiner Strasse wenden oder sich
zwecks Anhaltens auf die linke Strassenseite begeben will; auch vor einer
Strassengabelung, wo nicht von einem eigentlichen Abbiegen gesprochen werden
kann, soll der Zeiger betätigt werden. Dagegen kann die Vorschrift nicht so
weit interpretiert werden, dass für das blosse Überholen eines andern,
fahrenden oder stillstehenden, Fahrzeuges der Zeiger zu stellen wäre. Wer
vorfahren will, gibt das, wo nötig, dem vordern Fahrer durch ein kurzes
Hupzeichen - bezw. nachts durch Lichtsignale - zu verstehen. Eine vernünftige
und begrüssenswerte automobilistische Gepflogenheit geht indessen, über Art.
75 lit. b hinaus, dahin, dass das Fahrzeug, das sich aus dem Halt wieder in
Bewegung setzt, wenn es am linken Strassenrande stand den rechten, oder wenn
es, vom rechten Strassenrande anfahrend, an einem vor ihm stehenden Wagen
vorbei muss, den linken Zeiger stellt. Nach dieser Regel hätte allerdings der
Beschwerdeführer, wenn er nach einem Anhalten am rechten Trottoir an dem vor
ihm stehenden andern Autobus vorbei wieder anfuhr, den linken Zeiger stellen
sollen. Aber eine gesetzliche Vorschrift hiefür besteht nicht.
Entscheidend fällt jedoch in Betracht, dass nach seiner von der Vorinstanz
nicht bestrittenen Darstellung der Beschwerdeführer seinen Autobus nicht
angehalten hat, sondern nach Empfang des Abfahrtszeichens gleich
weitergefahren ist. Unter diesen Umständen konnte der Beschwerdeführer in
guten Treuen der Auffassung sein, da er nicht angehalten habe, brauche er auch
- selbst

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wenn er grundsätzlich sich an die erwähnte Regel der Fahrpraxis hielt - den
Zeiger nicht zu stellen. Von der gleichen Voraussetzung hängt ab, ob ein
Verstoss gegen Art. 25 MFG anzunehmen wäre, indem der Beschwerdeführer sein
Fahrzeug nicht hätte wieder in Bewegung setzen und auf die Fahrbahn
hinauslenken dürfen, ohne sich zuvor nach hinten zu orientieren, ob er dies
ohne Störung eines bereits im Vorfahren begriffenen Fahrzeugs tun könne.
Verkehrstechnisch war allerdings die Situation - sowohl hinsichtlich der
Zeigerbetätigung als der Rückwärtsbeobachtung - gleich, wie wenn der
Beschwerdeführer angehalten hätte. Der nachkommende Führer Lingg konnte ohne
weiteres annehmen, der Autobus halte an. Es ginge aber zu weit, den
Beschwerdeführer deswegen zu strafen, weil er im Moment die Überlegung nicht
anstellte, er könnte durch sein unklares Verhalten in einem hinter ihm
herkommenden Fahrer jenes Missverständnis hervorgerufen haben. Es war seitens
des Beschwerdeführers ein kleiner Irrtum, wie er jederzeit vorkommt; aber eine
schuldhafte, strafrechtlich zu ahndende Unterlassung kann darin, ungeachtet
des eingetretenen schädlichen Erfolges, nicht erblickt werden. Der Unfall muss
in der zivilrechtlichen Abwandlung seine Regelung finden.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil
aufgehoben und der Beschwerdeführer von Schuld und Strafe freigesprochen.
Informazioni decisione   •   DEFRITEN
Documento : 65 I 190
Data : 01. gennaio 1938
Pubblicato : 26. giugno 1939
Sorgente : Tribunale federale
Stato : 65 I 190
Ramo giuridico : DTF - Diritto amministrativo e diritto internazionale pubblico
Oggetto : Wiederanfahren des Motorfahrzeugs aus dem Halt: Betätigung des Fahrtrichtungszeigers (Art. 75 lit...


Registro di legislazione
OSVM: 75
Registro DTF
65-I-190
Parole chiave
Elenca secondo la frequenza o in ordine alfabetico
posto • corte di cassazione penale • cambiamento di direzione • autorità inferiore • ascendente • volontà • utilizzazione • automobile • decisione • strada • discendente • casale • orologio • marciapiede • comportamento • errore • segnale luminoso • notte • ricevimento • girovago