S. 68 / Nr. 11 Organisation der Bundesrechtspflege (d)

BGE 64 I 68

11. Entscheid der Anklagekammer vom 6. Januar 1938 i. S. Bezirksamt
Obertoggenburg gegen Statthalteramt des Bezirkes Zürich.

Regeste:
Rechtshilfe zwischen Kantonen. Art. 252 Abs. 2 BStrP und Art. 1 BG vom 2.
Hornung 1872 betr. die Ergänzung des Auslieferungsgesetzes.
Erfüllt die Handlung, auf welche sich die Strafuntersuchung bezieht, sowohl
einen Tatbestand des kantonalen wie einen solchen des eidgenössischen
Strafrechts, so gilt für die Rechtshilfe auch hinsichtlich der Auslagen für
Zeugen der Grundsatz der Unentgeltlichkeit.


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A. - Am 13. Dezember 1936 kam es auf der Staatsstrasse in Stein, Bezirk
Obertoggenburg, zu einem Zusammenstoss zwischen den Personenautomobilen von
Fritz Birchler aus Zürich und Walter Morgenthaler aus Lichtensteig, wobei
beide Fahrzeuge beschädigt wurden. Das Bezirksamt Obertoggenburg leitete gegen
Birchler eine Strafuntersuchung ein, zunächst wegen Übertretung
verkehrspolizeilicher Vorschriften und sodann, auf Strafklage Morgenthalers
hin, auch wegen fahrlässiger Eigentumsbeschädigung.
In diesem Verfahren ersuchte das Bezirksamt Obertoggenburg am 23. Juni 1937
die Bezirksanwaltschaft Zürich, den Angeschuldigten Birchler sowie zwei Zeugen
einzuvernehmen. Die Bezirksanwaltschaft überwies das Gesuch dem Statthalteramt
Zürich. Dieses führte die Einvernahmen durch und erhob für die Kosten im
Betrage von Fr. 8.90 unter Hinwels auf Art. 252 BStrP Nachnahme.
B. - Das Bezirksamt Obertoggenburg löste die Nachnahme ein, protestierte
jedoch in einem Schreiben vom 17. Juli an das Statthalteramt Zürich gegen die
Kostenerhebung und verlangte Rückvergütung des bezahlten Betrages. Das
Statthalteramt berufe sich zu Unrecht auf Art. 252 BStrP. Es handle sich nicht
um eine Bundesstrafsache, sondern um eine kantonale Strafsache, allerdings in
Verbindung mit Übertretungen des MFG. Die Einvernahmen seien aber nicht «aus
diesem letztern Bundesgesetze heraus, sondern nach Massgabe des st. gallischen
Strafgesetzes bezw. Strafprozesses» notwendig geworden. Daher seien die
Vorschriften des Bundesgesetzes vom 2. Hornung 1872 betreffend die Ergänzung
des Auslieferungsgesetzes anzuwenden, wonach die Behörden des requirierten
Kantons von denjenigen des requirierenden keinerlei Gebühren noch Auslagen
beziehen dürfen (ausgenommen Auslagen für wissenschaftliche und technische
Expertisen).
Das Statthalteramt Zürich verweigerte die Rückvergütung, indem es darauf
hinwies, dass die Strafsache nach

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den eigenen Angaben des Bezirksamtes auch Übertretungen des MFG zum
Gegenstande habe. Es schlug vor, die Streitfrage gemäss Art. 252 Abs. 3 BStrP
durch die Anklagekammer des Bundesgerichtes entscheiden zu lassen.
C. - Daraufhin unterbreitete das Bezirksamt Obertoggenburg die Sache am 23.
Juli 1937 der Anklagekammer zur Entscheidung und zur Abgabe einer klaren
Wegleitung für die Zukunft. Im Gesuche wird bemerkt, dass bis jetzt alle
Einvernahmen, auch solche «aus Autoverkehr» unentgeltlich ausgeführt worden
seien.
Das Statthalteramt Zürich beharrt in seiner Vernehmlassung darauf, dass das
Bezirksamt verpflichtet gewesen sei, ihm die Zeugenauslagen zu vergüten. Ob es
sich um eine Bundesstrafsache handle, werde sich aus den Akten ergeben. Auf
Grund der eigenen Angaben des Bezirksamtes habe das Statthalteramt aber auf
jeden Fall annehmen müssen, dass dies der Fall sei. Auch stelle der Tatbestand
der fahrlässigen Eigentumsbeschädigung eine Singularität des st. gallischen
Rechtes dar, die man anderorts nicht kenne.
Die Anklagekammer zieht in Erwägung:
1.- Das Bezirksamt Obertoggenburg hat die Strafverfolgung gegen Birchler
aufgenommen «wegen fahrlässiger Eigentumsbeschädigung und Übertretung des MFG
(zu rasches Fahren, Nichtbeherrschung des Fahrzeuges und Nichtaufsichtragen
des Fahrzeug- und Führerausweises)».
Das zu rasche Fahren, das Nichtbeherrschen des Fahrzeuges und das
Nichtmitsichführen des Fahrzeug- und des Führerausweises sind unter Strafe
gestellt durch Art. 58 MFG (in Verbindung mit Art. 12 Abs. 2 und Art. 25), die
fahrlässige Eigentumsbeschädigung ist strafbar nach Art. 93 Ziff. 1 des st.
gallischen Strafgesetzes vom 25. November 1885. Das Strafverfahren umfasst
also sowohl Delikte des eidgenössischen als auch ein Delikt des kantonalen
Strafrechts. Dabei erfüllen, abgesehen vom Nichtmitsichführen der Ausweise,
die nämlichen Handlungen sowohl die

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Deliktstatbestände des eidgenössischen wie denjenigen des kantonalen
Strafrechts: im zu raschen Fahren und Nichtbeherrschen des Fahrzeuges liegt
gleichzeitig die Fahrlässigkeit, die zur Eigentumsbeschädigung geführt hat. Es
handelt sich also um Idealkonkurrenz, die durch die Bestimmungen des MFG nicht
ausgeschlossen, vielmehr in Art. 65 Abs. 4 grundsätzlich anerkannt wird, indem
diese Vorschrift ausdrücklich den Fall regelt, wo die kantonale Gesetzgebung
für die nämliche Handlung eine schwerere Strafe vorsieht als das MFG (vgl.
hiezu auch BGE 61 I S. 215 Erw. 1 u. S. 435 Erw. 6).
2.- Das Bundesgesetz vom 2. Hornung 1872 betr. Ergänzung des
Auslieferungsgesetzes bestimmt in Art. 1:
«Wenn in Strafsachen die Behörden eines Kantons von den Behörden eines andern
Kantons zur Vornahme von Untersuchungshandlungen, Vorladung von Zeugen etc.
angesprochen werden, so dürfen die Behörden des requirierten Kantons keinerlei
Gebühren noch Auslagen beziehen, und es bleibt bloss die Rückforderung von
Auslagen für wissenschaftliche und technische Expertisen vorbehalten...»
Das Bundesgesetz über die Bundesstrafrechtspflege vom 15. Juni 1934 bestimmt
in Art. 252 Abs. 1 und 2:
«Die Behörden eines Kantons haben denjenigen der andern Kantone in
Bundesstrafsachen im Verfahren und beim Urteilsvollzug Rechtshilfe zu leisten.
Die Rechtshilfe ist unentgeltlich zu leisten. Jedoch werden Auslagen für
Sachverständige und Zeugen, sowie die Verpflegungskosten von
Untersuchungsgefangenen vergütet.»
Während also das Gesetz von 1872 die Rechtshilfe von Kanton zu Kanton
hinsichtlich Zeugeneinvernahmen als unentgeltlich erklärt, gibt das Gesetz von
1934 dem requirierten Kanton gegenüber dem requirierenden «in
Bundesstrafsachen» einen Anspruch auf Vergütung der Auslagen für Zeugen. Diese
Abweichung ist nicht leicht verständlich. Wenn die Kantone in kantonalen
Strafsachen gegenseitig zu unentgeltlicher Rechtshilfe verpflichtet sind, so

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wäre umso eher zu erwarten gewesen, dass die Unentgeltlichkeit gleichermassen
auch in Bundesstrafsachen Platz greifen sollte. Die Bundesanwaltschaft, die
sich auf Veranlassung des Instruktionsrichters der Anklagekammer in einem
Schreiben vom 18. Oktober 1937 zu der Frage geäussert hat, erklärt die in Art.
252 Abs. 2 BStrP getroffene Regelung damit, dass man die Rechtshilfe der
Kantone unter sich habe in Übereinstimmung bringen wollen mit der Rechtshilfe
gegenüber dem Bund, wie sie in Art. 27 Abs. 1 BStrP geordnet sei. Einmal ist
die Übereinstimmung aber ohnehin keine vollständige, indem Art. 27 Abs. 1
unter den entgeltlichen Massnahmen auch die Einrichtung von Sitzungs- und
Untersuchungsräumen aufzählt, während das bei Art. 252 Abs. 2 nicht der Fall
ist, obwohl jene Vorkehr auch bei der Rechtshilfe zwischen Kantonen in
Betracht fallen kann. Vor allem aber wäre es sachlich gebotener gewesen, statt
der Übereinstimmung mit Art. 27 Abs. 1 BStrP diejenige mit dem Gesetz von 1872
herzustellen und es nicht zu dem Widerspruch kommen zu lassen, dass die
Kantone von Bundesrechtswegen verpflichtet sind, Zeugeneinvernahmen in
kantonalen Strafsachen gegenseitig unentgeltlich vorzunehmen, dass sie dagegen
in Bundesstrafsachen wiederum kraft Bundesrechts Vergütung der Auslagen
verlangen können....
3.- Dabei ist die Frage, wie es sich verhält, wenn durch die nämliche Handlung
zugleich eine eidgenössische und eine kantonale Strafnorm verletzt wird,
überhaupt nicht gelöst. Diese Lücke im Gesetz muss daher ausgefüllt werden.
Denkbar sind drei verschiedene Lösungen.
a) Man könnte auf das Recht der schärfern Strafsanktion abstellen, d. h.
Unentgeltlichkeit annehmen, wenn die kantonale Strafsanktion schärfer ist,
Entgeltlichkeit, wenn die eidgenössische schärfer ist. Das läge wohl auch in
der Linie des Art. 65 Abs. 4 MFG, wonach bei Zusammentreffen einer
eidgenössischen und einer kantonalen Strafbestimmung auf den nämlichen
Tatbestand diejenige Bestimmung anwendbar ist, welche die schärfere Strafe
vorsieht.

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Gegen diese Behandlung spricht jedoch ernstlich, dass der Strafrahmen nicht
ohne weiteres als geeignet erscheint, als Masstab für die Schwere eines
Delikts zu dienen.
b) Richtiger wäre es wohl, nicht schematisch nach dem Strafrahmen zu
entscheiden, sondern zu untersuchen, welcher der beiden Deliktstatbestände
nach der Anzeige prävaliert.
Bei Konkurrenz z. B. von fahrlässiger Tötung mit einer Übertretung des MFG
dürfte der Tatbestand des kantonalen Rechts schwerer ins Gewicht fallen; bei
Konkurrenz von fahrlässiger Eigentumsbeschädigung mit einer Zuwiderhandlung
gegen das MFG stünde offenbar das bundesrechtliche Delikt im Vordergrund.
Allein diese Lösung hat den grossen Nachteil gegen sich, dass sie zu
kompliziert ist, worunter im einzelnen Falle die Rechtssicherheit leiden
würde.
c) Die einfachste und brauchbarste Ordnung besteht demnach ohne Zweifel darin,
dass in allen diesen Konfliktsfällen der Unentgeltlichkeitsbestimmung des
Gesetzes von 1872 der Vorzug gegeben wird. Damit sind alle Zweifel für den
einzelnen Fall ausgeschaltet. Überall, wo eine kantonale Strafnorm mit einer
eidgenössischen in Idealkonkurrenz steht, ist die Rechtshilfe auch
hinsichtlich der Auslagen für Zeugen unentgeltlich zu leisten. Durch diese
Lösung wird auch der oben angeführte Widerspruch zwischen der
Unentgeltlichkeit in kantonalen und der Entgeltlichkeit in eidgenössischen
Strafsachen nach Möglichkeit abgeschwächt.
Im übrigen dürften sich die Leistungen der Kantone gegenseitig so ziemlich
ausgleichen.
Demnach erkennt die Anklagekammer:
Es wird festgestellt, dass der Kanton Zürich gegenüber dem Kanton St. Gallen
zu unentgeltlicher Rechtshilfe verpflichtet war; demgemäss wird er
verpflichtet, den bezogenen Betrag von Fr. 8.90 zurückzuvergüten.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 64 I 68
Datum : 01. Januar 1937
Publiziert : 06. Januar 1938
Quelle : Bundesgericht
Status : 64 I 68
Sachgebiet : BGE - Verwaltungsrecht und internationales öffentliches Recht
Gegenstand : Rechtshilfe zwischen Kantonen. Art. 252 Abs. 2 BStrP und Art. 1 BG vom 2. Hornung 1872 betr. die...


BGE Register
61-I-213 • 64-I-68
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