S. 307 / Nr. 54 Gewaltentrennung (d)

BGE 64 I 307

54. Auszug aus dem Urteil vom 18. November 1938 i. S. Einwohnergemeinde
Aarburg gegen Aargau, Regierungsrat.


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Regeste:
Legitimation der Gemeinde zur staatsrechtlichen Beschwerde im Streit mit dem
Staate darüber, ob eine bestimmte öffentliche Last den Staat oder die Gemeinde
treffe.
Verletzung der Garantie der Gewaltentrennung durch eine Verordnungsvorschrift
zu einem neuen, die wohnörtliche Armenfürsorge einführenden Gesetz, weil jene
Vorschrift für einen Sonderfall die gesetzlich vorgesehene Übernahme der
Unterstützung durch den Staat an Stelle der Heimatgemeinde ausschliesst.

Nach Art. 82 der aargauischen Verfassung vom 23. April 1885 traf die
Armenunterstützungspflicht die heimatlichen Ortsbürgergemeinden unter
Mitwirkung des Staates, der ihnen an die betreffenden Lasten unter bestimmten
Voraussetzungen Beiträge (Zuschüsse) zu leisten hatte; die nähere Regelung war
der Gesetzgebung zugewiesen.
In der Volksabstimmung vom 5. Juli 1936 wurde eine abgeänderte Fassung dieses
Verfassungsartikels angenommen, welche die Unterstützungslast für die im
Kanton wohnenden Armen den Einwohnergemeinden unter Mitwirkung des Staates,
für die ausserhalb des Kantons niedergelassenen (armen) Kantonsbürger dagegen
«dem Staat» auflegt und über die Durchführung dieser Grundsätze, die
Beitragsleistung des Staates an die Gemeinden und die Finanzierung der
staatlichen Armenfürsorge ein Gesetz vorsieht (Absätze 2 und 7).
Dieses Ausführungsgesetz (Gesetz über die Armenfürsorge) ist vom Volk
gleichzeitig mit dem neuen Art. 82 KV angenommen worden. Es wiederholt im
Abschnitt IV «Unterstützungspflicht» § 35 zunächst den Grundsatz,

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dass die Armenfürsorge für die innerhalb des Kantons wohnenden Kantonsbürger
durch die Einwohnergemeinden, für die ausserhalb des Kantons (in der Schweiz
oder im Ausland) niedergelassenen Kantonsbürger durch den Staat (was in § 54
Abs. 1 wiederholt wird) erfolge. Aus den nachfolgenden Bestimmungen des
Abschnitts ergibt sich dann, dass die daraus hervorgehenden finanziellen
Lasten nach wie vor bei der Heimatgemeinde, aber nicht mehr bei der Bürger-
sondern bei der Einwohnergemeinde des Heimatortes bleiben, wenn nicht die
besonderen Voraussetzungen für den Erwerb eines Unterstützungswohnsitzes in
einer anderen Gemeinde oder für den Übergang in die staatliche Armenfürsorge
zutreffen. Folgende Bestimmungen sind hervorzuheben:
§ 36.
«Wenn ein Kantonsbürger während zwei Jahren ununterbrochen in einer Gemeinde
des Kantons gewohnt hat, wird die Einwohnergemeinde des Wohnsitzes
unterstützungspflichtig.
Durch Bezug von Armenunterstützung während mindestens sechs Monaten wird die
zweijährige Karenzzeit unterbrochen; mit dem Aufhören der Unterstützung
beginnt eine neue zweijährige Wohnfrist.
Die Unterstützungspflicht tritt für den Wohnort nicht ein, sondern liegt der
heimatlichen Einwohnergemeinde, bezw. den bisher unterstützungspflichtigen
Gemeinden ob, wenn der Unterstützungsbedürftige im Zeitpunkt seiner
Wohnsitznahme zufolge körperlicher oder geistiger Gebrechen dauernd
arbeitsunfähig war oder das 65. Altersjahr überschritten hatte.
Eingekauften Neubürgern gegenüber ist die neue heimatliche Einwohnergemeinde
während der ersten 15 Jahre allein unterstützungspflichtig. Von diesem
Zeitpunkt an liegt die Unterstützungspflicht gemäss § 38 der heimatlichen
Einwohnergemeinde und der Einwohnergemeinde des Wohnsitzes ob.»

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§ 37.
«Die Einwohnergemeinde des Wohnsitzes gewährt in allen Fällen die notwendige
Unterstützung und bei armen kranken Einwohnern die ärztliche Behandlung und
Pflege.
Ist sie nach Massgabe dieses Gesetzes nicht oder nur teilweise
unterstützungspflichtig, so verabfolgt sie die Unterstützung auf Rechnung des
Pflichtigen für solange, bis die Unterstützungspflicht geregelt ist.»
§ 38, Abs. 1 und 2.
«An die der Einwohnergemeinde des Wohnsitzes gemäss §§ 36 und 37 dieses
Gesetzes erwachsenden Unterstützungskosten vergütet die heimatliche
Einwohnergemeinde:
a) die ganzen Kosten bei einer Wohnsitzdauer von unter 2 Jahren,
b) die Hälfte bei einer Wohnsitzdauer von über 2 bis zu 10 Jahren,
c) ein Viertel bei einer Wohnsitzdauer von über 10 bis zu 20 Jahren.
d) Bei einer Wohnsitzdauer von über 20 Jahren fallen die Unterstützungskosten
ganz zu Lasten der Wohngemeinde.
Diese Abstufung tritt auch dann ein, wenn der Übergang von einer Wohnsitzdauer
in die nächsthöhere sich während einer laufenden Unterstützung vollzieht;
vorbehalten bleiben jedoch die Bestimmungen für Anstaltsversorgung (§ 40).»
§ 40.
«Bei Anstaltsversorgung eines Unterstützten werden die Kosten nach Massgabe
des § 38 Abs. 1 verteilt. Die Kostenverteilung bleibt dauernd dieselbe, wie
sie zu Beginn der Versorgung zu Recht bestand.»
§ 45, Abs. 1-3.
«Wohnsitz ist der Ort der Niederlassung gemäss den Vorschriften des Gesetzes
betreffend die Niederlassung.
Die Wohnsitznahme im Sinne dieses Gesetzes beginnt

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mit dem Zeitpunkt der polizeilichen Anmeldung und der Hinterlage der
Ausweispapiere, sofern die Niederlassung bewilligt wird.
Als Niederlassung kommt nur der kraft eigenen Rechts und zufolge freier
Willensbestimmung gewählte Wohnsitz in Betracht. In der Regel wird kein
Wohnsitz begründet durch Besuch einer Lehr- oder Erziehungsanstalt und den
Aufenthalt in einer Heil- oder Pflegeanstalt oder durch die Unterbringung in
einer Versorgungs- oder Strafanstalt.»
§ 46.
(Vorschriften über die Erstreckung des Unterstützungswohnsitzes des Ehemanns
auf die Ehefrau und die unmündigen Kinder und die Voraussetzungen, unter denen
die eine oder die andern einen selbständigen Unterstützungswohnsitz erwerben.)
§ 55.
«Aus dem Kanton wegziehende Kantonsbürger werden während der ersten zwei Jahre
ihres Aufenthaltes ausserhalb des Kantons durch die im Zeitpunkt ihres
Austritts aus dem Kanton unterstützungspflichtigen Gemeinden unterstützt. Nach
Ablauf dieser zwei Jahre wird unter Vorbehalt der Bestimmung des § 36 Abs. 4
erster Satz der Staat unterstützungspflichtig.
Dagegen tritt die Unterstützungspflicht für den Staat nicht ein, sondern liegt
den im Zeitpunkt des Austritts aus dem Kanton unterstützungspflichtigen
Gemeinden ob, wenn der Unterstützungsbedürftige im Zeitpunkt seiner
Wohnsitznahme zufolge körperlicher oder geistiger Gebrechen dauernd
arbeitsunfähig war oder das 65. Altersjahr überschritten hatte oder wenn seine
bisherige Unterstützungsbedürftigkeit nachweisbar durch Misswirtschaft,
Liederlichkeit oder Verwahrlosung herbeigeführt worden ist.»
§ 56.
(Zuschüsse des Staates an die Einwohnergemeinden an deren Ausgaben für das
Armenwesen.)

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Der letzte Abschnitt des Gesetzes IX «Übergangsbestimmungen» lautet:
§ 75.
«Mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes gehen die bestehenden Armengüter, die
Armenhäuser sowie die Armenzwecken dienenden Stiftungsgüter der
Ortsbürgergemeinden auf die Einwohnergemeinden über.
Streitigkeiten, die aus dieser Massnahme entstehen, entscheidet endgültig das
Obergericht als Verwaltungsgerichtshof.»
§ 76.
«Mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes wird bei Berechnung der
Unterstützungspflicht die bisherige Dauer der Niederlassung in der
Wohngemeinde angerechnet. Die Unterstützung erfolgt auf Grund dieser
Wohnsitzdauer durch die Gemeinden nach § 38 und durch den Staat sinngemäss
nach § 54, unter Vorbehalt von § 36 Abs. 3 bezw. § 55 Abs. 2.»
§ 77, Abs. 1 und 2.
«Der Regierungsrat wird den Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes...
festsetzen und die erforderlichen Vorschriften über den Vollzug des Gesetzes
erlassen.
Mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes treten alle mit ihm in Widerspruch
stehenden Vorschriften ausser Kraft, so insbesondere...»
Am 1. Oktober 1936 hat alsdann der Regierungsrat die «Vollziehungsverordnung
I» zum Gesetze erlassen. Sie setzt in § 1 dieses auf den 1. Januar 1937 in
Kraft, befasst sich in § 2 mit dem Übergang der Armengüter von der
Ortsbürgergemeinde an die Einwohnergemeinde auf diesen Zeitpunkt und bestimmt
ferner in:
§ 4.
«Die Einwohnergemeinde hat ab 1. Januar 1937 zu unterstützen:
1. die ansässigen Ortsbürger;

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2. die Ortsbürger, die vor dem 1. Januar 1937 inner- oder ausserhalb der
Gemeinde in Anstalten oder bei Privaten untergebracht worden sind.
In den Fällen 1 und 2 liegt die Unterstützungspflicht ganz der
Einwohnergemeinde ob.
3. die Ortsbürger, die in einer andern Gemeinde oder ausserhalb des Kantons
wohnen, jedoch nach den Bestimmungen des Gesetzes (§§ 36 ff. und 55) ganz oder
teilweise in der heimatlichen Einwohnergemeinde unterstützungsberechtigt sind.
Die fünfzehnjährige Frist nach § 36 Abs. 4 des Gesetzes erstreckt sich nur auf
die nach dem 1. Januar 1937 eingekauften Neubürger.
4. die Bürger anderer aargauischer Gemeinden, sofern sie am 1. Januar 1937
schon mehr als 2 Jahre in der Gemeinde ansässig sind, gleichgültig ob sie
bisher unterstützt wurden oder nicht, ausgenommen die Fälle des § 36, Abs. 3
des Gesetzes. Für die Höhe des Unterstützungsanteils nach § 38 des Gesetzes
ist die Dauer des ununterbrochenen Wohnsitzes am 1. Januar 1937 massgebend.
Hat ein solcher Bürger die zweijährige Wohnfrist am 1. Januar 1937 noch nicht
erfüllt, so wird die Wohngemeinde erst nach Ablauf der zweijährigen Wohndauer
unterstützungspflichtig und auch das nur, wenn der Bedürftige nicht innert
dieser Zeit zusammengerechnet während mindestens 6 Monaten Armenunterstützung
bezogen hat (§ 36, Abs. 2 des Gesetzes).
5. ...»
§ 5.
«1. Der Staat übernimmt ab 1. Januar 1937 die Kosten für alle ausserhalb des
Kantons bestehenden Unterstützungsfälle, ausgenommen die Aufwendungen
a) für die Unterstützungsbedürftigen, welche die zweijährige Wohnfrist noch
nicht erfüllt haben,
b) für die Unterstützungsbedürftigen, die im Zeitpunkt ihrer Niederlassung
ausserhalb des Kantons wegen

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körperlicher oder geistiger Gebrechen dauernd arbeitsunfähig waren oder das
65. Altersjahr überschritten hatten oder deren Unterstützungsbedürftigkeit
nachweisbar durch Misswirtschaft, Liederlichkeit oder Verwahrlosung
herbeigeführt worden ist (§ 55, Abs. 2 des Gesetzes),
c) für die vor dem 1. Januar 1937 in einer Anstalt Versorgten, sofern die
Kosten bisher g an z von der Heimatgemeinde getragen werden mussten.
2. ...»
Auf Grund des § 5 Ziff. 1 c der Vollziehungsverordnung lehnte es der
Regierungsrat des Kantons Aargau durch Entscheid vom 12. Februar 1937 ab, auf
den 1. Januar 1937 die staatliche Armenfürsorge eintreten zu lassen für eine
Bürgerin der Gemeinde Aarburg, die seit langem ausserhalb des Kantons
niedergelassen und seither infolge geistiger Erkrankung zu Lasten der
Heimatgemeinde in einer Heilanstalt versorgt worden war.
Das Bundesgericht hat eine von der Einwohnergemeinde Aarburg erhobene
staatsrechtliche Beschwerde gegen diesen Entscheid gutgeheissen, die sich
darauf stützte, dass die angewendete Verordnungsbestimmung gegen den Grundsatz
der Gewaltentrennung (Art. 3 KV) verstosse: sie führe eine Ausnahme von der
klaren gesetzlichen Ordnung ein, die im Gesetz keine Grundlage finde.
Gründe:
Die Legitimation der Gemeinde zur staatsrechtlichen Beschwerde im Streite mit
dem Staate darüber, ob eine bestimmte öffentliche Last den Staat oder die
Gemeinde treffe, ist nach der Rechtsprechung gegeben (KIRCHHOFER,
Legitimation, in Zeitschr. für schweiz. Recht N.F. 55 S. 177). Sie wird auch
vom Regierungsrat nicht bestritten.
Für die Zuständigkeit zum Erlass der angewendeten Verordnungsvorschrift (§ 5
Ziff. 1 lit. c der Vollziehungsverordnung I zum neuen Armengesetze vom 12.
März 1936)

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stützt sich der Regierungsrat ausschliesslich auf § 77 I des genannten
Gesetzes, den ihm hier erteilten Auftrag, den Zeitpunkt des Inkrafttretens des
Gesetzes festzusetzen und die erforderlichen Vorschriften über dessen Vollzug
aufzustellen. Eine andere Gesetzesbestimmung, aus der sich der durch die
Vorschrift ausgesprochene Rechtssatz herleiten oder die Ermächtigung zu einer
entsprechenden Rechtssetzung im Verordnungswege folgern liesse, wird nicht
angerufen.
Sachlich enthält die Verordnung insoweit auf keinen Fall eine blosse Anordnung
über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes für bestimmte Tatbestände,
wie die Beschwerdeantwort in erster Linie behaupten zu wollen scheint. Denn es
wird damit nicht etwa nur das Wirksamwerden der gesetzlichen Normen über die
Unterstützungspflicht des Staates für ausserhalb des Kantons wohnende
Kantonsbürger inbezug auf einen Sonderfall (schon vor dem 1. Januar 1937 zu
Lasten der Heimatgemeinde bestehende Anstaltsversorgung) auf ein späteres
Datum hinausgeschoben als das in § 1 für das Inkrafttreten des Gesetzes im
allgemeinen festgesetzte. Nur dann könnte aber der streitige Verordnungssatz
unter jenen ersten dem Regierungsrat vom Gesetzgeber erteilten Auftrag fallen.
Vielmehr soll für jenen Sonderfall die Übernahme der Unterstützungslast durch
den Staat überhaupt, ein für alle Mal ausgeschlossen werden und die letztere,
entsprechend der bisherigen Ordnung, dauernd bei der Heimatgemeinde bleiben.
Was vorliegt, ist also in Wirklichkeit eine Vorschrift über die Geltung der
Normen des in Kraft getretenen Gesetzes in zeitlicher Hinsicht (intertemporale
Kollisionsnorm), wodurch die in diesen getroffene Regelung in bestimmtem
Umfang auf Unterstützungsfälle beschränkt wird, die nach dem Inkrafttreten des
Gesetzes neu entstehen, unter Ausschluss derjenigen, die schon bisher zu
Lasten der Heimatgemeinde bestanden hatten. Das anerkennt denn auch der
Regierungsrat im weitern Verlaufe der

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Beschwerdeantwort im Grunde selbst, wenn er auf Grund des anderen Auftrages
des § 77 I des Gesetzes zum Erlass der erforderlichen Vollziehungsvorschriften
für sich auch die Befugnis in Anspruch nimmt, die aus dem Übergang vom alten
zum neuen Recht sich ergebenden Schwierigkeiten durch geeignete
Sondervorschriften zu heben.
Doch geht die heute im Streite liegende Bestimmung auch über den Rahmen einer
solchen Vollziehungsnorm offenbar hinaus. Und zwar selbst dann, wenn man den
Begriff der Vollziehungs-, Ausführungsverordnung im weitest möglichen Sinne
fasst und darunter nicht bloss die Entwicklung, Entfaltung des
Gesetzesinhalts, d. h. die Aufstellung von Normen einbezieht, welche lediglich
die logische Konsequenz einzelner Gesetzesbestimmungen bilden, sondern auch
dessen sinngemässe Ergänzung im Rahmen seines allgemeinen Zweckes. Denn auch
dann darf sich eine solche Verordnung jedenfalls nicht in Widerspruch zum
Inhalt der Gesetzesbestimmungen selbst setzen, sie weder aufheben noch
abändern, sondern nur da - im Sinn und Geist des Gesetzes - eintreten, wo
dieses stillschweigt oder eine Lücke enthält (BGE 45 I S. 67 mit Zitaten; das
Zitat 36 I S. 86 und 94 ist richtig zu stellen in 39 I S. 86 und 94). Wenn ein
Gesetz im Interesse eines gerechteren Finanzausgleichs unter den Gemeinden
oder zwischen diesen und dem Staate die Lasten aus der Erfüllung einer
öffentlichen Aufgabe anders verteilt, als es bisher der Fall war, so liegt es
aber in der Natur der Sache und muss daher ohne entgegengesetzte Anordnung
vermutet werden, dass die neue Verlegung für alle Aufwendungen der
betreffenden Art gelten soll, die nach dem Inkrafttreten des Gesetzes
erwachsen, gleichgültig, ob Ausgaben zum gleichen Zwecke im Anschluss an einen
bestimmten Tatbestand schon bisher hatten gemacht werden müssen. Das muss
insbesondere auch angenommen werden für eine neue Verteilung der Lasten aus
der Armenfürsorge zwischen dem Staat und den ihm untergeordneten öffentlichen
Verbänden oder unter den letzteren selbst. Auch

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hier entspricht es dem Zwecke des Erlasses, dass die neuen Bestimmungen über
den Unterstützungs-, kostentragungspflichtigen Verband sich auf alle
Unterstützungen beziehen, die unter dem neuen Gesetze auf Grund einer während
seiner Herrschaft bestehenden Unterstützungsbedürftigkeit geleistet werden
müssen, ohne Rücksicht darauf, ob die Person auch schon unter der früheren
Ordnung durch den damals pflichtigen Verband hatte unterstützt werden müssen
oder nicht. Das Gesetz wird damit keineswegs rückwirkend angewendet, wie der
Regierungsrat anzunehmen scheint. Denn der nach neuem Recht
unterstützungspflichtige Verband wird nicht für einen Unterstützungstatbestand
belastet, der sich unter dem alten Rechte verwirklicht hat. Der Talbestand, an
den seine Leistungspflicht anknüpft, ist vielmehr ein unter der Herrschaft des
neuen Gesetzes eingetretener: die Fortdauer der bisherigen
Unterstützungsbedürftigkeit auch noch nach dessen Inkrafttreten, die ja allein
Anlass zur Armenfürsorge geben kann. Er muss deshalb auch von dessen Normen
als erfasst angesehen werden. Um ihn dennoch davon aus dem Grunde auszunehmen,
weil die Hilfsbedürftigkeit schon früher gegeben gewesen war und zu
Unterstützungen geführt hatte, bedürfte es wenn nicht einer ausdrücklichen
Bestimmung des Gesetzes, so doch besonderer Anhaltspunkte, die auf den Willen
des Gesetzgebers zu einer entsprechenden Einschränkung der neuen
Lastenverteilungsgrundsätze schliessen liessen. Dazu kommt für den
vorliegenden Fall, dass sich das Gesetz vom 12. März 1936 in den
Übergangsbestimmungen mit den Wirkungen unter dem alten Recht eingetretener
Tatsachen wenigstens nach einer Richtung und zwar gerade mit entgegengesetzter
Tendenz befasst hat, als sie in der angefochtenen Verordnungsbestimmung
hervortritt, indem es vorschreibt (§ 76), dass bei Berechnung der zweijährigen
Karenzfrist der §§ 36 und 55 für den Beginn der Unterstützungspflicht der
Wohngemeinde bezw. des Staates auch diejenige Niederlassungsdauer zu
berücksichtigen sei,

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die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes liegt. Wäre die Meinung gewesen, dass
diese Regel nur für neu entstehende Unterstützungsfälle gelten solle, nicht
für diejenigen, in denen schon bisher unterstützt werden musste, oder auch nur
dass dem Regierungsrat die Möglichkeit zu einer solchen Einschränkung gelassen
werden solle, so wäre dies zweifellos im Gesetz gesagt worden. Weitere
Erörterungen über diese grundsätzliche Frage sind zudem schon deshalb
überflüssig, weil die Vollziehungsverordnung des Regierungsrates selbst
allgemein auf diesem Boden steht: mit den einzigen Ausnahmen des § 4 Ziff. 2
und § 5 Ziff. 1 lit. c lässt sie die Unterstützungspflicht der Wohngemeinde
bezw. des Staates unter den im Gesetze dafür überhaupt vorgesehenen
Voraussetzungen von dessen Inkrafttreten an eintreten, gleichgültig ob die
Person schon bisher unterstützt werden musste oder nicht. Der Regierungsrat
selbst nimmt nicht etwa den Standpunkt ein, dass es sich dabei um eine Ordnung
handle, die er zwar so getroffen habe, aber auf Grund von § 77 I des Gesetzes
auch anders hätte treffen können. Die Vorbehalte, welche die Verordnung dafür,
abgesehen von § 4 Ziff. 2 und § 5 Ziff. 1 lit. c noch macht, sind keine
wirklichen Ausnahmen, sondern lediglich die Wiederholung der Voraussetzungen,
von denen das Gesetz selbst jene Kostentragungspflicht abhängen lässt: Ablauf
der zweijährigen Karenzfrist und Wohnsitznahme, die nicht unter § 36 Abs. 3
oder § 55 Abs. 2 des Gesetzes fällt. In einem anderen staatsrechtlichen
Beschwerdestreite (Einwohnergemeinde Brugg gegen Staat Aargau, Urteil vom 7.
Oktober 1938), wo die Gemeinde Brugg einwendete, dass bei Bestimmung des
Wohnsitzes des Unterstützungsbedürftigen § 45 Abs. 3 Satz 2 des neuen
Armengesetzes keine Anwendung finden könne, weil der Anstaltseintritt noch vor
Inkrafttreten dieses Gesetzes erfolgt sei, hat denn auch der Regierungsrat in
der Beschwerdeantwort selbst ausgeführt: das neue Armengesetz vom 12. März
1936 habe die früheren einschlägigen Erlasse «abgelöst», es enthalte auch
nicht den

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leisesten Anhaltspunkt dafür, dass für die Beurteilung von einzelnen
Unterstützungsfällen noch das alte Armenrecht gelten solle. Das könne schon
deshalb nicht angenommen werden, weil sonst heute die Mehrzahl der Armenfälle
noch nach alter Ordnung zu behandeln wäre; denn in der Frage des
Unterstützungswohnsitzes, der Unterstützungspflicht, Unterstützungsursache,
Unterstützungswürdigkeit usw. müsse manchmal auf Jahre zurückgegangen werden.
Bei dieser Sachlage könnte aber die Vollziehungsverordnung Ausnahmen, womit
von der aus dem Gesetz sich ergebenden und von ihm allgemein gewollten Ordnung
bei schon vorher bestehender Anstaltsversorgung abgewichen wird, nur vorsehen,
wenn das Gesetz selbst dafür eine Stütze gäbe oder die Anwendung des
allgemeinen Grundsatzes auch auf diese Tatbestände zu derart unhaltbaren,
ungereimten Ergebnissen führen würde, dass angenommen werden muss, sie sei vom
Gesetzgeber nicht beabsichtigt gewesen und die gesetzlichen Regeln bezögen
sich darauf trotz ihrer allgemeinen Fassung doch in Wirklichkeit nicht. Blosse
Schwierigkeiten der Anwendung, wie die Schwierigkeit, den Wohnsitz einer
Person bei schon länger dauernder Anstaltsversorgung zu bestimmen, können dazu
keinesfalls genügen. Dies umsoweniger, als es der Heimatgemeinde obliegt
darzutun, dass ein den gesetzlichen Anforderungen entsprechender Wohnsitz in
einer anderen Gemeinde oder ausserhalb des Kantons vorliege, wenn sie die
Mitwirkung der angeblichen Wohngemeinde bei der Unterstützung oder deren
Übernahme durch den Staat verlangt. Eine Bestimmung des Gesetzes selbst aber,
der der Wille zu einer Sonderbehandlung der Anstaltsversorgungsfälle im Wege
der Auslegung entnommen werden könnte, hat der Regierungsrat, wie bereits
festgestellt, nicht anzuführen versucht. Er behauptet zwar, dass dies die
Meinung bei der Gesetzesberatung gewesen sei. Doch ist er nicht in der Lage,
dafür bestimmte Unterlagen (Botschaften, Protokolle oder dergl.) zu nennen.
Die allein eingelegten Berechnungen der Direktion des

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Innern über die Armenlasten der Gemeinden nach der alten und neuen Ordnung
sind zum Beweis dafür schon deshalb schlechterdings ungeeignet, weil darin
nirgends hervorgehoben ist, dass die eingestellten Zahlen von der
Voraussetzung ausgehen, dass die Unterstützungslast für Fälle mit schon bisher
bestehender Anstaltsversorgung bei der Heimatgemeinde bleibe. Zudem würde es
auch dann noch immer an irgend einem Anhaltspunkte dafür fehlen, dass der
Grosse Rat dieser Auffassung beigetreten sei.
Die Rüge des Übergriffs des Regierungsrates in das Gebiet der gesetzgebenden
Gewalt erweist sich danach selbst bei der beschränkten Kognition als
begründet, die dem Bundesgericht zusteht, wenn das Vorliegen eines Verstosses
gegen den Grundsatz der Gewaltentrennung von dem Sinne bestimmter
Gesetzesvorschriften abhängt, mit deren Vollziehung sich die angefochtene
Verordnung befasst. Dass eine blosse Bestimmung über den Zeitpunkt des
Inkrafttretens des Gesetzes unter keinen Umständen, auch bei weitester Fassung
dieses Begriffes nicht, angenommen werden kann, ist bereits dargelegt worden.
Im übrigen aber steht nach der eigenen Stellungnahme des Regierungsrates
ausschliesslich die Bedeutung des Begriffs des Vollzuges in § 77 I des
Gesetzes in Frage. Auch er kann aber die Abänderung der vom Gesetz gemäss dem
Standpunkt des Regierungsrates selbst grundsätzlich gewollten Ordnung für
einzelne Fälle unter Umständen, wie sie hier vorliegen, wiederum sogar bei der
weitesten noch möglichen Deutung nicht umfassen.
Der angefochtene Entscheid ist deshalb in der Meinung aufzuheben, dass unter
Berufung auf § 5 Ziff. 1 lit. c der Vollziehungsverordnung I die Übernahme des
vorliegenden Unterstützungsfalles in die staatliche Armenfürsorge wegen
Verfassungswidrigkeit dieser Verordnungsbestimmung nicht abgelehnt werden
kann. Dass die in § 4 Ziff. 2 ebenda für das Verhältnis zwischen den Gemeinden
aufgestellte analoge Ausnahme bisher unangefochten geblieben ist, kann die
Rekurrentin nicht hindern, diese Regelung im

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Verhältnis zum Staat anzufechten, wenn sie sie als ihren Interessen nachteilig
erachtet. Dies umsomehr, als sich unter den Gemeinden deren Vorteile und
Nachteile im allgemeinen ausgleichen dürften, während dies bei § 5 Ziff. 1
lit. c nicht zutrifft.
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Document : 64 I 307
Date : 01. Januar 1937
Published : 18. November 1938
Source : Bundesgericht
Status : 64 I 307
Subject area : BGE - Verfassungsrecht
Subject : Legitimation der Gemeinde zur staatsrechtlichen Beschwerde im Streit mit dem Staate darüber, ob...


BGE-register
45-I-55 • 64-I-307
Keyword index
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municipality • cantonal council • coming into effect • outside • hamlet • aargau • standard • separation of powers • duration • meeting • answer to appeal • appeal relating to public law • question • legitimation • beginning • public assistance • residence • adult • federal court • position
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