S. 215 / Nr. 40 Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr (d)

BGE 64 I 215

40. Urteil des Kassationshofs vom 21. Juni 1938 i. S. Fischlin gegen Aargau,
Staatsanwaltschaft.

Regeste:
Pflicht zur Signalgabe. Art. 20 MFG lässt dem Ermessen des Fahrers Raum. In
Grenzfällen, wo dieser in guten Treuen Signalgabe für unnötig halten konnte,
ist deren Unterlassung nicht strafrechtlich zu ahnden.

A. - Am 5. Juli 1937 um 16.20 Uhr fuhr der Beschwerdeführer mit einem
Personenauto auf der Seetalstrasse talaufwärts durch Boniswil. Am Dorfausgang
sah er schon auf einige Entfernung auf der nur leicht gebogenen, an jener
Stelle 5.60 m breiten, modern ausgebauten Strasse am rechten Rande einen
Motorradfahrer und eine Frau stehen, im Gespräche begriffen und Richtung
Birrwil schauend, neben einem ganz am Strassenrande, der durch den Bahnkörper
der Seetalbahn gebildet wird, ebenfalls

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mit Richtung Birrwil aufgestellten Motorrad. Im Momente, als der
Beschwerdeführer ohne Signalgabe, seine Geschwindigkeit von 50-55 km noch
etwas abbremsend, sich der Gruppe näherte, drehte sich die Frau um und schritt
über die Strasse, in deren Mitte sie, trotzdem der Führer nun noch Signal gab,
bremste und ganz links steuerte, vom Auto erfasst und zu Boden geworfen wurde,
wobei sie einen Splitterbruch des linken Oberarms erlitt.
Bezirksgericht und Obergericht haben den Führer des Autos wegen Unterlassung
der Signalgabe (Art. 20 MFG) und fahrlässiger Körperverletzung sowie
Nichtmitsichführens des Führerausweises (Art. 12 Abs. 2 MFG) in eine Busse von
Fr. 20.- und die Kosten verfällt. Die Vorinstanz führt aus, der Fahrer habe
damit rechnen müssen, dass sich die Gruppe der in der andern Richtung
blickenden Personen jeden Augenblick auflösen und dann diese verkehrswidrig
plötzlich in seine Fahrbahn treten könnten, sodass die Sicherheit unbedingt
ein Signal erfordert habe.
B. - Mit der vorliegenden Nichtigkeitsbeschwerde beantragt der Gebüsste
Aufhebung des Urteils und Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zwecks
Freisprechung von der Anklage der Widerhandlung gegen Art. 20 MFG und der
fahrlässigen Körperverletzung und entsprechende Herabsetzung der Busse.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
Zu der in Art. 20 MFG statuierten Pflicht, Signal zu geben, «wenn es die
Sicherheit des Verkehrs erfordert», hat sich der Kassationshof dahin
ausgesprochen, dass der Fahrzeugführer dieser Pflicht genügt, wenn er bei
unübersichtlicher Strasse oder bei ersichtlicher Gefahr die Hupe betätigt, und
dass es abgesehen von diesen Fällen nicht seine Sache ist, sein Kommen auf der
Strasse anzukündigen, sondern Sache des überraschend die Strasse betretenden
Fussgängers, sich gebührend umzusehen (BGE 61 I 432). Ebenso wurde, mit Bezug
auf das Überholen eines fahrenden Fuhrwerks, das bereits seine rechte

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Strassenseite einhält und für das Vorfahren, reichlich Platz lässt, das Hupen
nicht als notwendig erklärt, sofern nicht besondere Umstände erkennen lassen,
dass mit einer gefährdenden Bewegung des zu überholenden Fuhrwerks gerechnet
werden muss (Weiss c. Aargau, vom 19. Februar 1938).
Die gleichen Gesichtspunkte müssen für die hier zu beurteilende Situation
gelten. Indem Art. 20 MFG das Signalgeben vorschreibt, «wenn die Sicherheit
des Verkehrs es erfordert», gibt es dem Ermessen des Fahrers einen gewissen
Spielraum, innerhalb dessen in guten Treuen verschiedene Auffassungen über die
Anforderungen der Sicherheit in concreto möglich sind. Der Führer befindet
sich bei diesen Grenzfällen in einem Dilemma; überflüssiges Hupen ist mit
Rücksicht auf die Anwohner und Strassenbenützer unerwünscht. Es spielt keine
Rolle, dass die Signalgabe für den Führer keine in Betracht fallende Mühe
verursacht. Wenn er in einem solchen Zweifelsfalle nicht hupt, so geschieht es
in der Regel nicht aus Nachlässigkeit oder Bequemlichkeit, sondern aus
Überlegung, indem er eben das ihm gegebene Ermessen walten lässt und auf Grund
desselben zur Verneinung der Notwendigkeit gelangt.
Vorliegend handelt es sich um einen solchen Grenzfall, wo man als aufmerksamer
und gewissenhafter Fahrer verschiedener Meinung sein kann. Die Personengruppe
stand ganz rechts aussen am Strassenrande still; die freie Fahrtahn genügte
zum Vorbeifahren des Autos reichlich. Dessen Führer durfte in Rechnung
stellen, dass sich das Auto durch sein eigenes Motorgeräusch schon aus einer
Entfernung ankündigt, die gross genug ist, dass eine stillstehende Person noch
rechtzeitig darauf aufmerksam wird. Er konnte sich auch mit Fug sagen, dass
die im Gespräch befindlichen erwachsenen Personen nicht in die Fahrbahn laufen
werden, ohne sich vorher umzuschauen.
Wo so beachtliche Momente für die Unnötigkeit der Signalgabe sprechen, kann
der Fahrer in guten Treuen dieser Auffassung sein. Bei dieser Sachlage aber
ist eine

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strafrechtliche Ahndung nicht am Platze. Nur wenn die Notwendigkeit des Hupens
klar zutage liegt, soll gestraft werden. Die Rücksicht auf die Entschädigung
des Opfers fällt ja bei der Kausalhaftung nicht in Betracht.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 64 I 215
Datum : 01. Januar 1937
Publiziert : 21. Juni 1938
Quelle : Bundesgericht
Status : 64 I 215
Sachgebiet : BGE - Verwaltungsrecht und internationales öffentliches Recht
Gegenstand : Pflicht zur Signalgabe. Art. 20 MFG lässt dem Ermessen des Fahrers Raum. In Grenzfällen, wo dieser...


BGE Register
61-I-429 • 64-I-215
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