S. 1 / Nr. 1 Gleichheit vor dem Gesetz (Rechtsverweigerung) (d)

BGE 64 I 1

1. Urteil vom 21. Januar 1938 i. S. B. gegen St. Gallen.


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Regeste:
Art. 4 BV gewährleistet einer armen Partei in einem für sie nicht
aussichtslosen Zivilprozess das Armenrecht für die Gerichtskosten unmittelbar
nur in dem Sinn, dass der Richter für sie ohne Kostenvorschuss tätig werden
muss. Die Garantie der Rechtsgleichheit gibt unmittelbar keinen Anspruch auf
Befreiung von Prozesskostenauflagen überhaupt. Ein solcher Anspruch kann
dagegen auf Grund des kantonalen Rechtes bestehen. Willkürliche Ablehnung
eines derartigen Anspruchs (Erw. 1).
Eine arme Partei kann in einem für sie nicht aussichtslosen Zivilprozess einen
unentgeltlichen Rechtsbeistand unmittelbar aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV nur dann
beanspruchen, wenn sie eines solchen zur gehörigen Wahrung ihrer Rechte
bedarf. Auch das st. gallische Recht kann in diesem Sinne ausgelegt werden.
Verweigerung des unentgeltlichen Rechtsbeistandes für einen
Ehescheidungsprozess (Erw. 2).

(Tatbestand gekürzt.)
A. - Der Rekurrent B. ist verheiratet und wohnt in Vevey. Im März 1937
verliess ihn seine Frau und begab sich nach St. Gallen zu ihren Eltern. Hier
erhob sie eine Ehescheidungsklage, die zurzeit beim Bezirksgericht von St.
Gallen hängig ist. Das Justizdepartement von St. Gallen gewährte ihr dafür das
Armenrecht, jedoch ohne

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unentgeltlichen Rechtsbeistand. Auch der Rekurrent ersuchte das
Justizdepartement um das Armenrecht; diese Behörde schrieb aber seinem Anwalt
am 29.0ktober 1937, dass sie es ihm aus folgenden Gründen nicht gewähren
könne: «Der Verbeiständung bedarf der Beklagte nicht, da der Prozess im
Instruktionsverfahren durchgeführt wird und der Beklagte sich darauf
beschränken kann, die Einrede der Unzuständigkeit des Bezirksgerichts St.
Gallen geltend zu machen. Diese Einrede ist übrigens durch Sie bereits erhoben
worden. Die Eltern des Beklagten.....sind.....in der Lage, dem Sohne die
nötigen Mittel zur Prozessführung zur Verfügung zu stellen.» Eine Beschwerde
wegen willkürlicher Ablehnung des Armenrechtsgesuches wies der Regierungsrat
des Kantons St. Gallen am 3. Dezember 1937 ab. Aus der Begründung dieses
Entscheides ist folgendes hervorzuheben: «Kostenvorschuss hat der Beklagte
nicht zu leisten.... Sodann ist aber auch die Bedürftigkeit des Beklagten
nicht genügend ausgewiesen.... Für seine Frau und für sein Kind leistete er
seit deren Wegzug (1. März 1937) nichts mehr....»
B. - Gegen die Entscheide des Justizdepartementes und des Regierungsrates hat
Advokat Dr. A. namens des B. die staatsrechtliche Beschwerde ergriffen mit dem
Antrag:
«Es sei unter Aufhebung des... regierungsrätlichen Rekursentscheides und ...
der ablehnenden Entscheidung des st. gallischen Justizdepartementes dem
Rekurrenten ... die unentgeltliche Rechtspflege unter Einschluss der
unentgeltlichen Anwaltsvertretung bezw. Verbeiständung durch den
Unterzeichneten zu gewähren und in diesem Sinne dem st. gallischen
Regierungsrate und Justizdepartemente entsprechende Anweisung zu geben».
Der Vertreter des Rekurrenten führt aus: ... Nach der st. gallischen ZPO, Art.
101, sei einem armen Kläger oder Beklagten die unentgeltliche Rechtspflege zu
bewilligen, wenn die Klage oder die Einreden des Gesuchstellers nicht zum
voraus als unbegründet erschienen. Das

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Justizdepartement und der Regierungsrat sagten aber nicht, dass die
Unzuständigkeitseinrede des Rekurrenten derart unbegründet sei, sondern
bezeichneten deren Erfolg nur als sehr zweifelhaft. Die Abweisung des
Armenrechtsgesuches bilde daher eine Verletzung des Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV und Willkür.
Sodann liege eine solche Verfassungsverletzung darin, dass der Regierungsrat
nicht auf das Armutszeugnis des Gemeindevorstandes des Wohnortes abstelle und
dass das Armenrecht wegen mangelnden Bedürfnisses verweigert werde. Der
Rekurrent habe nicht die Mittel, um in St. Gallen zur Verhandlung erscheinen
zu können, so dass er auch aus diesem Grunde einen Rechtsbeistand haben müsse.
Die st. gallische Zivilprozessordnung mache die Erteilung des Armenrechts
nicht davon abhängig, ob ein besonderes Bedürfnis nach unentgeltlicher
Rechtspflege und Vertretung vorhanden sei.
Mit einer nachträglichen Eingabe hat der Vertreter des Rekurrenten noch ein
Schreiben des Präsidenten der 2. Abteilung des Bezirksgerichts von St. Gallen
vom 17. Dezember 1937 vorgelegt, wonach der Rekurrent persönlich vor Gericht
erscheinen muss, und geltend gemacht, dass er das nicht tun könne, wenn ihm
nicht das Armenrecht gewährt werde.
C. - Der Regierungsrat hat die Abweisung der Beschwerde beantragt und u. a.
bemerkt: «Gemäss Art. 99 ff. unseres Gesetzes über die Zivilrechtspflege ist
die Gewährung des Armenrechts an zwei Voraussetzungen geknüpft, einmal an den
Nachweis der Bedürftigkeit und sodann an die Glaubhaftmachung, dass wenn der
Petent die beklagte Partei ist, die Einreden des Gesuchstellers nicht zum
voraus als unbegründet erscheinen. Diese beiden Voraussetzungen lagen hier
nicht vor.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV gewährleistet einer armen Partei in einem für sie nicht
aussichtslosen Zivilprozess das Armenrecht für die Gerichtskosten unmittelbar
nur in dem Sinne,

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dass der Richter für sie ohne Kostenvorschuss tätig werden muss. Dagegen gibt
die Garantie der Rechtsgleichheit unmittelbar keinen Anspruch auf Befreiung
von Prozesskostenauflagen überhaupt (Entscheide des Bundesgerichtes i. S.
Masserey gegen Bonvin vom 15. Dezember 1934 Erw. 2, i. S. Kuhn gegen St.
Gallen vom 4. April 1935 Erw. 1). Nach der unbestrittenen Feststellung des
Regierungsrates muss nun der Rekurrent im Verfahren vor dem Bezirksgericht
keinen Kostenvorschuss leisten. Die Verweigerung des Armenrechts für die
Gerichtskosten verletzt daher, wenigstens zur Zeit, den unmittelbar aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.

BV, der Garantie des staatlichen Rechtsschutzes, fliessenden Anspruch auf
Gewährung des Armenrechts nicht.
Dagegen gewährt die st. gallische Zivilprozessordnung der armen Partei nach
Art. 104 das Armenrecht für die Gerichtskosten in einem weitern Sinn, indem
jene danach, abgesehen vom Fall, dass sie später zu Vermögen kommen sollte,
überhaupt «von allen amtlichen Kosten, von den Zeugen- und Expertengebühren»
befreit wird. Es ist daher zu prüfen, ob das Justizdepartement und der
Regierungsrat dem Rekurrenten willkürlich dieses Armenrecht verweigert haben.
Das Justizdepartement, das nach der Feststellung des Regierungsrates endgültig
über die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege zu entscheiden hat, hat
sich bei seinem Entscheid gar nicht auf den Standpunkt gestellt, dass der
Rekurrent imstande sei, aus seinen Mitteln neben dem notwendigen
Lebensunterhalt die Prozesskosten zu bestreiten. Erst der Regierungsrat hat
erklärt, die Bedürftigkeit des Rekurrenten sei nicht genügend nachgewiesen.
Doch ist diese Feststellung willkürlich. Selbst wenn der Rekurrent nicht nur
120 bis 150 Fr. monatlich, wie der Gemeindevorstand von Vevey bezeugt hat,
sondern 6-8 Fr. täglich verdiente, wie ein Polizeibeamter berichtet hat, so
genügte das doch ganz offensichtlich nicht zur Bezahlung eines grössern
Prozesskostenbetrages neben

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der Bestreitung des notwendigen Lebensunterhaltes, zumal wenn der Rekurrent
trotz des Wegzuges der Ehefrau für diese und das Kind sorgen muss. Der
Regierungsrat nimmt aber nicht an, dass diese Voraussetzung nicht zutreffe.
Darauf, ob der Rekurrent tatsächlich für Frau und Kind nichts mehr leistet,
kann nichts ankommen..... Sodann ist es ganz offensichtlich ohne Bedeutung, ob
die Eltern des Rekurrenten zur Bezahlung der Prozesskosten imstande sind; denn
sie können hiezu nicht verpflichtet werden (Entscheid des Bundesgerichtes i.
S. Kuhn gegen St. Gallen vom 4. April 1935).
Dass die Einrede der Unzuständigkeit der St. Galler Gerichte zum voraus als
unbegründet erscheine, nehmen das Justizdepartement und der Regierungsrat
selbst nicht an. Dieser hat in seinem Entscheid nur gesagt, dass es sehr
zweifelhaft sei, ob die Einrede geschützt werde, und in der Vernehmlassung
noch hinzugefügt, dass er die Einrede für unbegründet halte. Dabei stützt er
sich zudem auf die Angaben der Ehefrau, die vom Rekurrenten bestritten werden
und nicht bewiesen worden sind.
Unter diesen Umständen erscheint die Verweigerung des Armenrechts für die
Gerichtskosten als willkürliche Verletzung des kantonalen Prozessrechts.
2.- Was die Verweigerung des unentgeltlichen Rechtsbeistandes betrifft, so
kann eine arme Partei einen solchen unmittelbar aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV nicht in jedem
für sie nicht aussichtslosen Zivilprozess beanspruchen, sondern nur dann, wenn
sie eines Anwaltes zur gehörigen Wahrung ihrer Rechte bedarf. Der Rekurrent
hat aber nicht dargetan, dass diese Voraussetzung hier offensichtlich
zutreffe.
Wie das Justizdepartement und der Regierungsrat hervorgehoben haben, gelten
nach Art. 19 und 60 des st. gallischen EG z. ZGB für den Ehescheidungsprozess
die Regeln des Untersuchungs- oder Instruktionsverfahrens, wobei der
Tatbestand den Art. 158
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
ZGB und 20 EG z. ZGB gemäss von Amtes wegen zu
erforschen ist. Der Rekurrent

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bedarf daher zur gehörigen Feststellung des Tatbestandes in diesem Verfahren,
wo die Parteien nicht durch strenge Formvorschriften eingeengt sind, keines
Rechtsbeistandes. Aber auch für die Behandlung der Rechtsfrage, ob die Ehefrau
nach den festgestellten Tatsachen berechtigt war, getrennt zu leben, hat er
keinen Rechtsbeistand nötig, da das Gericht auch diese Frage von Amtes wegen
lösen muss und sie ziemlich leicht zu lösen ist. Anders wäre es, wenn der
Rekurrent zu den Verhandlungen nicht persönlich erscheinen könnte. Dem ist
aber nicht so. Die Mittel für die Reise nach St. Gallen kann er jedenfalls
aufbringen. Wenn sie ihm aber auch fehlen sollten, so wäre das kein Grund für
die Gewährung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes, sondern berechtigte ihn
nur, zu verlangen, dass ihm die Reise ermöglicht werde (bei der öffentlichen
Armenpflege oder beim Bezirksgericht, wobei das Reglement betr. den Transport
inländischer Armen auf den schweizerischen Transportanstalten vom 14. Juli
1899 oder dasjenige betr. Polizeitransporte vom 21. Juni 1909 anwendbar wäre).
Nach dem Wortlaut des Art. 101
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 101 Leistung des Vorschusses und der Sicherheit - 1 Das Gericht setzt eine Frist zur Leistung des Vorschusses und der Sicherheit.
1    Das Gericht setzt eine Frist zur Leistung des Vorschusses und der Sicherheit.
2    Vorsorgliche Massnahmen kann es schon vor Leistung der Sicherheit anordnen.
3    Werden der Vorschuss oder die Sicherheit auch nicht innert einer Nachfrist geleistet, so tritt das Gericht auf die Klage oder auf das Gesuch nicht ein.
der st. gallischen ZPO ist freilich ein
unentgeltlicher Rechtsbeistand stets zu bewilligen, wenn die gesetzlichen
Voraussetzungen für die Gewährung des Armenrechts vorliegen. Für einen im
Untersuchungsverfahren durchzuführenden Zivilprozess, wie den
Ehescheidungsprozess, wird aber im allgemeinen nach den glaubwürdigen Angaben
des Regierungsrates ein unentgeltlicher Rechtsbeistand nicht gewährt. Darin
liegt keine offensichtliche Verletzung des Art. 101
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 101 Leistung des Vorschusses und der Sicherheit - 1 Das Gericht setzt eine Frist zur Leistung des Vorschusses und der Sicherheit.
1    Das Gericht setzt eine Frist zur Leistung des Vorschusses und der Sicherheit.
2    Vorsorgliche Massnahmen kann es schon vor Leistung der Sicherheit anordnen.
3    Werden der Vorschuss oder die Sicherheit auch nicht innert einer Nachfrist geleistet, so tritt das Gericht auf die Klage oder auf das Gesuch nicht ein.
ZPO; denn die Art. 19 und
60 EG z. ZGB wurden erst am 16. Mai 1911, nach der Zivilprozessordnung vom 31.
Mai 1900, erlassen und rechtfertigen daher den Schluss, dass für das von ihnen
vorgeschriebene Verfahren vom Grundsatz der Gewährung des unentgeltlichen
Rechtsbeistandes in Art. 101 im allgemeinen eine Ausnahme zu machen sei. Dass
im vorliegenden Fall eine solche Ausnahme ganz offensichtlich nicht am Platze
sei, hat der Rekurrent nicht dargetan.

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Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass dem Rekurrenten das
Armenrecht für die Gerichtskosten erteilt werden muss, und demgemäss werden
die Entscheide des Justizdepartements und des Regierungsrates des Kantons St.
Gallen vom 29. Oktober und 3. Dezember 1937 teilweise aufgehoben.
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Document : 64 I 1
Date : 01. Januar 1937
Published : 21. Januar 1938
Source : Bundesgericht
Status : 64 I 1
Subject area : BGE - Verfassungsrecht
Subject : Art. 4 BV gewährleistet einer armen Partei in einem für sie nicht aussichtslosen Zivilprozess das...


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BV: 4
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