S. 71 / Nr. 18 Familienrecht (d)

BGE 63 II 71

18. Urteil der II. Zivilabteilung vom 27. Mai 1937 S. Wyttenbach gegen
Vormundschaftsbehörde Thun.

Regeste:
Anträge auf Entzug der elterlichen Gewalt gegenüber dem kraft
Scheidungsurteils damit betrauten Elternteil, ohne dass die Zuweisung an den
andern Elternteil anbegehrt wird, sind nach Art. 285 ZGB und nicht als
Änderungsklagen im Sinne von Art. 157 ZGB zu behandeln.
Entscheide über solche Anträge können, auch wenn sie von einer Gerichtsbehörde
ausgehen, nicht mit Berufung, sondern nur mit zivilrechtlicher Beschwerde an
das Bundesgericht weitergezogen werden. Das Bundesgericht hat im
Weiterziehungsverfahren nicht zu prüfen, ob nach der kantonalen
Zuständigkeitsordnung Verwaltungs- oder Gerichtsbehörden zuständig waren

Die kantonalen Gerichtsinstanzen haben das Begehren der Vormundschaftsbehörde
der Stadt Thun, dem Beklagten die ihm im Scheidungsurteil vom 12. Dezember
1922 zugewiesene elterliche Gewalt über das Kind Olga Gertrud, geboren 1919,
zu entziehen und das Kind der antragstellenden Behörde zu unterstellen,
geschützt. Gegen das Urteil des Appellationshofes des Kantons Bern vom 16.
März 1937, dem Beklagten zugestellt am 10. April, hat

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dieser am 30. April beim Appellationshof Berufung an das Bundesgericht
eingelegt, welche am 11. Mai beim Bundesgericht eingelangt ist.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Letztinstanzliche kantonale Entscheide über Entzug und Wiederherstellung der
elterlichen Gewalt können nicht mit (bei der kantonalen Behörde einzulegender)
Berufung, sondern nach der besondern Vorschrift von Art. 86 Ziff. 2 OG nur mit
(beim Bundesgericht selbst binnen der nämlichen Frist von 20 Tagen
einzureichender) zivilrechtlicher Beschwerde an das Bundesgericht gezogen
werden. Hierunter fallen freilich nicht Klagen auf Änderung der Elternrechte
über Kinder aus geschiedener Ehe gemäss Art. 157 ZGB. Ein solcher Fall liegt
jedoch hier nicht vor. Wie das Bundesgericht bereits entschieden hat, kann
gegen den Inhaber der elterlichen Gewalt auch dann, wenn sich diese auf ein
Scheidungsurteil stützt (Art. 156 , 274 Abs. 2 ZGB) von den hiefür zuständigen
Behörden gemäss Art. 283 ff . ZGB, speziell Art. 285 , eingeschritten werden.
Eine gerichtliche Klage im Sinne von Art. 157 ZGB kommt nur in Frage, wenn die
Rechtsstellung des andern Elternteiles, dem die elterliche Gewalt durch das
Scheidungsurteil entzogen ist, geändert werden, insbesondere wenn nunmehr die
elterliche Gewalt ihm übertragen werden soll (BGE 56 II 79). Nur dann reicht
die Bestimmung des Art. 285 ZGB als Norm für die zu treffende Entscheidung
nicht aus, weil dann die Verhältnisse beider Elternteile zu berücksichtigen
und im Hinblick darauf die Vor- und Nachteile einer Änderung der Elternrechte
abzuwägen sind. Wenn dagegen, wie hier, nur zur Entscheidung steht, ob die
elterliche Gewalt dem derzeitigen Inhaber belassen oder aber entzogen werden
solle, so ist lediglich nach Art. 285 ZGB zu entscheiden; denn in diesem Fall
kann nicht von Bedeutung sein, ob der Beklagte überhaupt zufolge Scheidung der
Ehe oder aber zufolge Todes des Ehegatten oder auch, weil diesem die
elterliche Gewalt bei

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fortbestehender Ehe entzogen wurde, alleiniger Inhaber dieser Gewalt geworden
ist.
Der Rekurrent hat also das unrichtige Rechtsmittelverfahren eingeschlagen.
Seine Berufungsschrift lässt sich auch nicht als zivilrechtliche Beschwerde an
die Hand nehmen; denn als solche ist sie zu spät bei der gesetzlichen
Einreichungsstelle eingelangt.
Freilich gehören Begehren im Sinne von Art. 285 (und 286) ZGB nach Art. 22 des
bernischen Einführungsgesetzes zum ZGB nicht vor die Gerichte, sondern vor den
Regierungsstatthalter, weshalb die kantonalen Gerichte sich als unzuständig
hätten erklären sollen. Das kann aber abweichend von der in BGE 56 II 79 ff.,
speziell 82,- gezogenen Schlussfolgerung auch nicht zur Aufhebung des
kantonalen Verfahrens auf die vorliegende Berufung hin führen. Dieser Weg der
Weiterziehung ist schlechtweg unzulässig, da Art. 86 Ziff. 2 OG ohne Rücksicht
darauf, ob der kantonale Entscheid von einer Verwaltungs- oder einer
Gerichtsbehörde ausgefällt wurde, Platz greift. Übrigens sind die Kantone
frei, für Begehren nach Art. 285 ZGB Verwaltungs- oder Gerichtsbehörden als
zuständig zu erklären. Es handelt sich also um eine kantonale
Zuständigkeitsordnung, über deren Anwendung das Bundesgericht als
Weiterziehungsinstanz nicht zu wachen hat.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Auf die Berufung wird nicht eingetreten.
Informazioni decisione   •   DEFRITEN
Documento : 63 II 71
Data : 01. gennaio 1936
Pubblicato : 27. maggio 1937
Sorgente : Tribunale federale
Stato : 63 II 71
Ramo giuridico : DTF - Diritto civile
Oggetto : Anträge auf Entzug der elterlichen Gewalt gegenüber dem kraft Scheidungsurteils damit betrauten...


Registro di legislazione
CC: 22  156  157  274  283  285
OG: 86
Registro DTF
56-II-79 • 63-II-71
Parole chiave
Elenca secondo la frequenza o in ordine alfabetico
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