S. 107 / Nr. 27 Versicherungsvertrag (d)
BGE 63 II 107
27. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 30. April 1937 i. S.
«Helvetia» gegen Hirschi.
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Regeste:
Haftpflichtversicherung für Landwirtschaftliche Betriebsunfälle: ein solcher
liegt vor, sobald mit der Verrichtung, die zum Unfall geführt hat, ein
landwirtschaftlicher Zweck, wenn auch nur als Nebenzweck, verfolgt wurde.
A. - Am 3. Juni 1931 etwas nach 19 Uhr fuhr der Landwirt Niklaus Vogt von
seinem Hofe in Dieterswil mit einem von einem Nachbarn entlehnten, mit seinem
eigenen Pferde bespannten «Bernerwägeli» nach Münchenbuchsee. Mit ihm fuhren
zwei Nachbarsfrauen, die eine Versammlung der Zeltmission in Münchenbuchsee
besuchen wollten. Es war verabredet, dass sie und Mutter Vogt, die mit dem
Postauto hingefahren war, nach der Versammlung wieder mit Vogt heimfahren
sollten. In Münchenbuchsee suchte unterdessen Vogt den Metzger Liechti auf,
der ihm Vieh abzukaufen und das Fleisch für die Haushaltung zu liefern
pflegte. Nach einem Eintrag in Liechtis Taschenkalender vom 3. Juni 1931 hat
der Metzger bei diesem Besuche dem Vogt eine künftige Schweinelieferung mit
Fr. 200.- bevorschusst. Nach Schluss der Zeltversammlung, etwas nach 21 Uhr,
fuhr Vogt mit den drei Frauen heimwärts. Unterwegs rannte in einer
ansteigenden schwachen Kurve in der einbrechenden Dunkelheit F. Hirschi auf
seinem Motorrad mit Seitenwagen von hinten in das Fuhrwerk hinein und dann
seitwärts gegen eine Telefonstange, wobei er sich schwere Verletzungen zuzog.
In dem von ihm gegen Vogt angestrengten Schadenersatzprozess wurde letzterer
rechtskräftig zur Zahlung von Fr. 23816.- nebst Zins und Kosten verurteilt. In
der Folge liess sich Hirschi die
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Rechte Vogts aus dessen Haftpflichtversicherung für landwirtschaftliche
Betriebsunfälle bei der «Helvetia» abtreten und klagte gegen diese auf Zahlung
von Fr. 20000.- nebst Zins zu 5% seit Klageanhebung. Der Kläger gründet seinen
Anspruch vornehmlich auf § 16 des Versicherungsvertrages vom 9. März 1917,
lautend:
«Die «Helvetia» deckt ferner auf Grund der vorstehenden und nachfolgenden
weiteren Bestimmungen die Haftpflicht, die dem Versicherungsnehmer gemäss Art.
41 ff. des schweiz. Obligationenrechtes und Art. 333 des schweiz.
Zivilgesetzbuches gegenüber seinen Bediensteten und dritten Personen aus
landwirtschaftlichen Betriebsunfällen (Personenschäden) obliegt.» ..
Die Beklagte lehnte ihre Haftpflicht mit der Begründung ab, es handle sich
nicht um einen landwirtschaftlichen Betriebsunfall; eventuell sei zwischen der
Unglücksfahrt, soweit sie zum landwirtschaftlichen Betrieb zu rechnen wäre,
und dem Unfall der Kausalzusammenhang durch nicht landwirtschaftliche Elemente
unterbrochen. Mit Urteil vom 3. Dezember 1936 hat der Appellationshof des
Kantons Bern jedoch die Klage im Betrage von Fr. 20090.- unter Kostenfolge
zulasten der Beklagten gutgeheissen.
B. - Gegen dieses Urteil richtet sich die vorliegende Berufung der «Helvetia»
mit dem Antrag auf Abweisung der Klage unter Kostenfolge zulasten des Klägers.
Dieser trägt auf Bestätigung des Urteils an.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
... 3. Mit Bezug auf die Hauptstreitfrage, ob der Unfall vom 3. Juni 1931 als
landwirtschaftlicher Betriebsunfall zu betrachten sei, geht die Vorinstanz mit
Recht von der weiteren Definition des Begriffes «landwirtschaftlicher Betrieb»
aus: darunter ist nicht nur das landwirtschaftliche Heimwesen als örtlich
begrenzte wirtschaftliche Einheit zu verstehen, sondern die mit diesem
verbundene Ausübung der
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landwirtschaftlichen Tätigkeit in allen ihren Verzweigungen, auch soweit sie
sich über den örtlich begrenzten Bereich des Heimwesens hinaus erstreckt. Dass
dem Fahren mit einem Pferdefuhrwerk auf der Strasse die Gefahr von
Zusammenstössen mit andern Fahrzeugen innewohnt, bedarf keiner weiteren
Ausführung. Für die weitere entscheidende Frage sodann, ob die Fahrt Vogts vom
3. Juni 1931 eine landwirtschaftliche Tätigkeit war oder nicht, lässt sich
kein anderes sinngemässes Kriterium aufstellen als der Zweck, in dessen
Verfolgung die Fahrt unternommen wurde. Der Umstand, dass Vogt dazu sein Pferd
benutzte und er dieses Pferd zweifellos für seinen landwirtschaftlichen
Betrieb hielt, genügt noch nicht, um die Fahrt zu einer landwirtschaftlichen
Verrichtung zu stempeln. Eine Sonntagsausfahrt des Landwirts mit seinem
Fuhrwerk, z. B. an ein Schützenfest in einem Nachbardorfe, oder der Ausritt
eines Freundes mit dem vom Landwirt entlehnten Pferde, würden trotz des an
sich landwirtschaftlichen Charakters dieser Betriebsmittel nicht unter die
vorliegende Versicherung fallen, da keinerlei landwirtschaftlicher Zweck mit
deren Verwendungen verbunden wäre. Bezüglich der hier fraglichen Fahrt stellt
nun die Vorinstanz fest- und diese Feststellung ist, da tatsächlicher Natur
und nicht altenwidrig, für das Bundesgericht verbindlich-, dass deren Zweck,
ausser der Beförderung der Frauen, der Besuch Vogts beim Metzger war, welcher
Besuch bereits am Tage vorher in Aussicht genommen und für die Ausführung der
Fahrt bestimmend gewesen sei. Ob dieser Zweck den andern an Wichtigkeit
überwog, wie die Vorinstanz weiter ausführt, und ob Vogt die Fahrt auch ohne
den Versammlungsbesuch der Frauen an diesem Abend unternommen hätte, spielt
keine Rolle. Sobald bei der in Frage stehenden Tätigkeit ein ernsthafter
landwirtschaftlicher Zweck, und wäre es auch nur als Nebenzweck, mitbeteiligt
ist, genügt das, um die Tätigkeit zu einer landwirtschaftlichen im Sinne der
Versicherung zu machen, sofern es sich nicht um eine nur zufällig
hinzutretende, nicht zum voraus
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beabsichtigte landwirtschaftliche Verrichtung handelt, was vorliegend
angesichts der tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz ausser Betracht
fällt.
Den Besuch des Vogt beim Metzger hat die Vorinstanz mit Recht als eine dem
Landwirtschaftsbetrieb dienende Verrichtung betrachtet. Die Frage kann offen
bleiben, ob dies auch dann der Fall wäre, wenn die von Vogt empfangenen Fr.
200.- ein Darlehen darstellten, wie der Taschenbucheintrag des Liechti
andeutet (auch die Aufnahme eines Darlehens kann eine für den bäuerlichen
Betrieb nötige Massnahme sein); denn es handelte sich offensichtlich nicht um
ein Darlehen, sondern um einen Vorschuss auf den Kaufpreis für eine künftige
Schweinelieferung. Einen andern Sinn kann die Wendung «Auf Schweine geliehen»
nicht haben, da eine Verpfändung von Schweinen nicht in Frage kommt. Dieses
Geschäft ist landwirtschaftlicher Natur, ohne dass es darauf ankäme, ob Vogt
dem Metzger für den vorgeschossenen Kaufpreis in der Folge Schweine geliefert
hat. Es genügt die Möglichkeit, dass er die Lieferung aus seinem eigenen
Betriebe machen würde, und kann somit dahingestellt bleiben, ob der vom
Landwirt zur Ergänzung seines eigenen landwirtschaftlichen Betriebes und in
Verbindung mit diesem betriebene Schweinehandel nicht ohnehin auch zu der
unter die Versicherung fallenden landwirtschaftlichen Betätigung gehöre. Dem
vom Kläger zu erbringenden Nachwels des landwirtschaftlichen Charakters der
Fahrt tut es, wie die Vorinstanz zutreffend ausführt, keinen Eintrag, wenn
Vogt in seiner Schadensanzeige an die «Helvetia», den Besuch beim Metzger
nicht erwähnt, wohl aber die Mitnahme der Frauen. Nachdem der vollständige
rechtlich relevante Tatbestand im Prozesse festgestellt worden ist, kommt
nichts mehr darauf an, in welchem Umfange er in der Schadensanzeige mitgeteilt
oder weggelassen war.
Der mit dem landwirtschaftlichen konkurrierende anderweitige Nebenzweck, der
nach dem Ausgeführten unbeschadet des landwirtschaftlichen Charakters der
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Verrichtung sogar den ersteren an Wichtigkeit übertreffen könnte, muss
anderseits allerdings grundsätzlich im Rahmen des Kausalzusammenhanges
berücksichtigt werden. Wenn z. B. Vogt der mitfahrendenden Frauen wegen weiter
als bis Münchenbuchsee, dem Wohnsitz des Metzgers, hätte fahren müssen und der
Unfall auf der zusätzlichen Strecke passiert wäre, dann wäre der
Kausalzusammenhang zwischen der durch den Metzgerbesuch motivierten Fahrt und
dem Unfall unterbrochen, bezw. die zusätzliche Fahrt nicht
landwirtschaftlichen Charakters. Was aber die Beklagte in dieser Beziehung
geltend macht - Vogt hätte ohne die Frauen statt des Bernerwägelis den
Bockwagen oder gar nur das Fahrrad genommen, er wäre noch bei Tageshelle
heimgefahren, ja überhaupt dem Hirschi nicht begegnet - sind blosse
Hypothesen, die im Sinne einer Unterbrechung des rechtlich relevanten
Kausalzusammenhanges nicht in Betracht fallen können.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Appellationshofes des Kantons
Bern vom 3. Dezember 1936 bestätigt.