S. 60 / Nr. 15 Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr(d)

BGE 63 I 60

15. Urteil des Kassationshofs vom 16. März 1937 i. S. Gmür gegen Aargau,
Staatsanwaltschaft.

Regeste:
Zulässigkeit des Überholens; Pflicht zur Signalgabe beim Überholen? Art. 46 VV
z. MFG; Art. 20 MFG.

A. - Der Beschwerdeführer Gmür fuhr am 16. Mai 1936 abends 6 Uhr 30 mit seinem
Personenauto auf der 8.60 m breiten Überlandstrasse durch Bremgarten gegen
Zürich. Vor ihm fuhr eine Gruppe von 6-7 Radfahrern, welche annähernd die
halbe Strassenbreite in Anspruch nahmen, da sie zu Dritt nebeneinanderfuhren.
Dieser Gruppe wollte Gmür, der eine Geschwindigkeit von 30-40 km hatte,
vorfahren. Zu diesem Zwecke schwenkte er nach links hinüber. Bevor er sich
jedoch auf gleicher Höhe mit dem hintern Ende der Radfahrergruppe befand,
tauchte von der Gegenseite her der Radfahrer Hügli auf, der auf seiner
Halbrenn-Maschine mit gesenktem Kopf in scharfer Fahrt ungefähr in der
Strassenmitte daherkam. Da er unmittelbar vorher aus einer Seitenstrasse
heraus

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in die Überlandstrasse eingefahren war, hatte ihn Gmür vorher nicht sehen
können; als er nun plötzlich seiner ansichtig wurde, riss er seinen Wagen nach
rechts und hielt hinter der Radfahrergruppe an. Sein Wagen stand schräg nach
rechts gewendet in der Strasse, vorn 3.80 m, hinten 3.20 m vom linken
Strassenrand entfernt, bezw. im Abstand von 2 m und 1.40 m von den Geleisen
der Bremgarten-Dietikon-Bahn, die dort auf der Strasse verlaufen, aber mit
Rillenschienen in die Fahrbahn eingelassen sind. Der Radfahrer, der nicht mehr
nach rechts auszuweichen vermochte, weil er das haltende Auto zu spät
erblickte, fuhr auf dieses auf und erlitt erhebliche Verletzungen. Ein Signal
hatte Gmür weder gegeben, als er sich zum Vorfahren anschickte, noch als er
den Radfahrer Hügli auftauchen sah.
B. - Wegen dieses Unfalles wurde Gmbr vom Obergericht des Kantons Aargau der
Widerhandlung gegen Art. 20 MFG und 46 VV zum MFG, sowie der fahrlässigen
Körperverletzung schuldig erklärt und zu Fr. 40.- Geldbusse verurteilt.
C. - Gegen das Urteil des Obergerichts vom 11. Dezember 1936 hat Gmür die
Kassationsbeschwerde an das Bundesgericht ergriffen, mit der er die Aufhebung
des angefochtenen Entscheides und seine Freisprechung beantragt.
Staatsanwaltschaft und Obergericht des Kantons Aargau beantragen Abweisung der
Beschwerde.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1. - Die Vorinstanz begründet die von ihr angenommene Verletzung des Art. 46
VV zum MFG damit, dass der Beschwerdeführer der Radfahrergruppe wegen des
entgegenkommenden Radfahrers überhaupt nicht hätte vorfahren dürfen, da der
ca. 4 m breite Strassenstreifen zwischen der Radfahrergruppe und dem
Strassenrand zum gleichzeitigen Überholen und Kreuzen nicht ausgereicht habe,
zumal dem entgegenkommenden Radfahrer wegen der Gefahr des Stürzens nicht
zuzumuten gewesen sei,

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ganz rechts auf das Strassenbahngeleise abzuschwenken. Hiebei lässt die
Vorinstanz jedoch ausser Acht, dass die linke Strassenhälfte für Gmür frei
war, als er sich zum Überholen anschickte, da ja der Radfahrer erst kurz vor
der Unfallstelle plötzlich aus einer Seitenstrasse heraus auftauchte. Ganz
abgesehen hievon kann übrigens der Ansicht der Vorinstanz schon deshalb nicht
beigepflichtet werden, weil diese den Verkehrserfordernissen nicht Rechnung
trägt. Eine freie Fahrbahn von 4 m genügt für ein Personenauto, das in der
Regel nicht mehr als 1.60 m breit ist, vollkommen zum Kreuzen mit einem
Radfahrer; dass dieser zum Ausweichen den Bahnkörper der Strassenbahn hätte in
Anspruch nehmen müssen, ist unerheblich, da es sich ja um eingelassene
Rillenschienen handelt, die von einem Radfahrer ohne Schwierigkeit überquert
werden können. Die Vorinstanz stellt denn auch in anderm Zusammenhang selber
fest, dass es dem Radfahrer bei aufmerksamem Fahren leicht möglich gewesen
wäre, noch rechts am Auto vorbeizukommen.
2. - Die Verletzung der Pflicht zur Signalgabe nach Art. 20 MFG erblickt die
Vorinstanz darin, dass der Beschwerdeführer den Radfahrern vorfahren wollte,
ohne Signal zu geben. Auch dieser Vorwurf ist nicht stichhaltig. Gewiss ist es
für einen Automobilisten ein Gebot der Vorsicht, eine Radfahrergruppe, die er
überholen will, durch ein Signal auf seine Absicht aufmerksam zu machen.
Allein dieses Signal muss nicht etwa schon dann gegeben werden, wenn der
Lenker sein Fahrzeug zur Einleitung des Überholungsmanövers nach links
hinübersteuert, nachdem er sich davon überzeugt hat, dass die linke
Strassenhälfte frei ist und das Überholen gestattet. Es genügt vielmehr, wenn
er das Signal unmittelbar vor dem eigentlichen Überholen gibt, so dass der zu
überholende Strassenbenützer noch rechtzeitig davor gewarnt wird, etwa noch
weiter nach links zu geraten. Dieser Moment für die Signalgabe war hier aber
für Gmür noch nicht erreicht: Er befand sich noch etwas hinter der
Radfahrergruppe und schickte

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sich erst an, seine Geschwindigkeit zum Überholen zu steigern, während er bis
dahin wenig schneller als die Radfahrer gefahren sein dürfte. Durch das
plötzliche Auftauchen des Radfahrers Hügli wurde er nun veranlasst, auf das
beabsichtigte Vorfahren zu verzichten. Unter dem Gesichtspunkt des Überholens
hatte er somit keinen Anlass mehr, Signal zu geben. Dass er kein Signal gab,
um den mit gesenktem Kopf dahersausenden Radfahrer zu warnen, legt ihm die
Vorinstanz selber nicht zur Last. Mit Recht; denn in diesem Moment höchster
Gefahr war es sicher zweckmässiger, den Wagen nach rechts zu reissen und
anzuhalten, um den Zusammenstoss zu verhüten oder doch abzuschwächen.
3. - Von der Widerhandlung gegen Art. 20 MFG und Art. 46 VV zum MFG ist Gmür
somit freizusprechen. Damit ist auch der Verurteilung wegen fahrlässiger
Körperverletzung der Boden entzogen, da diese auf der Voraussetzung beruht,
dass der Beschwerdeführer durch vorschriftswidriges Fahren Anlass zum Unfall
gegeben habe (BGE 61 I 213).
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Beschwerde wird dahin gutgeheissen, dass das Urteil des Obergerichts des
Kantons Aargau vom 11. Dezember 1936 aufgehoben und der Beschwerdeführer von
der Anklage der Übertretung von Art. 20 MFG und Art. 46 VV z. MFG
freigesprochen wird; hinsichtlich der Anklage wegen fahrlässiger
Körperverletzung wird die Sache zur Freisprechung des Angeklagten an die
Vorinstanz zurückgewiesen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 63 I 60
Datum : 01. Januar 1936
Publiziert : 16. März 1937
Quelle : Bundesgericht
Status : 63 I 60
Sachgebiet : BGE - Verwaltungsrecht und internationales öffentliches Recht
Gegenstand : Zulässigkeit des Überholens; Pflicht zur Signalgabe beim Überholen? Art. 46 VV z. MFG; Art. 20 MFG.


BGE Register
61-I-213 • 63-I-60
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