S. 25 / Nr. 7 Organisation der Bundesrechtspflege (d)

BGE 63 I 25

7. Urteil vom 5. März 1937 S. L Richter & Söhne gegen S.B.B.

Regeste:
Art. 63 Abs. I Ziff. 4 OG: Die Mitteilung des Urteils darf an keine
Bedingungen geknüpft werden, die geeignet ist, den Beginn der Berufungsfrist
und damit die Möglichkeit der Ergreifung des eidgenössischen Rechtsmittels auf
unbestimmte Zeit hinauszuschieben. Sie darf insbesondere nicht von der
Leistung einer nachträglichen Prozesskaution abhängig gemacht werden.

Aus dem Tatbestand.
Die Rekurrentin hatte die S.B.B. vor dem Appellationshof Bern aus
Frachtvertrag auf Fr. 20,141. 70 belangt. Der Appellationshof hat am 1. Juli
1936 die Klage

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kostenfällig abgewiesen. Nach Ausfällung dieses Urteils wurde dann der
Rekurrentin noch eine Prozesskostenkaution abverlangt, in der Meinung, dass
bis zu deren Entrichtung das Urteil nicht dem Bundesgericht zugestellt und so
die Berufung der Rekurrentin ans Bundesgericht gehemmt werde. Dagegen erhob
die Rekurrentin die staatsrechtliche Beschwerde, die gutgeheissen worden ist.
Aus der Begründung:
4. - Nach Art. 63 OG richtet sich in den Rechtsstreitigkeiten, bei denen die
Berufung ans Bundesgericht zulässig ist, das Verfahren vor den kantonalen
Gerichten nach der kantonalen Gesetzgebung; doch sind dabei einige
bundesrechtliche Bestimmungen zu beobachten, die einer sachgemässen
Anknüpfung, Einleitung und Durchführung des eidgenössischen Rechtsmittels
dienen. Abweichende kantonale Vorschriften müssen in dieser Beziehung
zurücktreten. Zu diesen Bestimmungen gehört die Vorschrift in Ziff. 4: «Die
Urteile sind den Parteien von Amtes wegen schriftlich mitzuteilen» (wobei als
schriftliche Mitteilung auch die schriftliche Eröffnung an die Parteien gilt,
dass das Urteil beim Gericht zu ihrer Einsicht aufliege, Art. 63 Abs. 3). Die
Parteien sollen in Kenntnis der Urteilsmotive sich darüber schlüssig machen
können, ob sie die Berufung ergreifen wollen oder nicht (Botschaft zum OG von
1893 S. 71). Die Regel hat aber auch den Zweck, aus Gründen der
Rechtssicherheit einen festen, einheitlichen Ausgangspunkt für den Lauf der
Berufungsfrist (Art. 65) zu schaffen, mit deren Ablauf feststeht, ob das
kantonale Urteil in Rechtskraft erwächst oder ob das Bundesgericht definitiv
zu entscheiden hat. Eine Frist, innerhalb der seit der Ausfällung des Urteils
dessen Mitteilung zu erfolgen hat, wird in Art. 63 nicht aufgestellt, ausser
für die in Abs. 2 erwähnten betreibungsrechtlichen Streitigkeiten. Es liegt
aber in der Natur der Sache, dass die Abfassung der Urteilsmotive und dann die
Mitteilung des motivierten Urteils so rasch erfolgen sollen, als es der
Geschäftsgang erlaubt. Unter keinen Umständen kann es

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vom Standpunkt des Art. 63, Abs. 1, Ziff. 4 angehen, dass die Mitteilung des
Urteils an eine Bedingung geknüpft wird, die geeignet ist, den Beginn der
Berufungsfrist und damit die Möglichkeit der Ergreifung des eidgenössischen
Rechtsmittels und die rechtskräftige Erledigung der Streitsache auf
unbestimmte Zeit hinauszuschieben. Das kann aber die Folge der der Rekurrentin
gemachten Auflage und Androhung sein. Es hängt von ihrem Willen oder ihren
Umständen ab, ob sie die ihr auferlegte Kaution leistet. Solange es nicht
geschieht, befindet sich der Rechtsstreit in einer irregulären Lage; weder
kann die Berufung ergriffen werden, noch kann das kantonale Urteil Rechtskraft
erhalten, wodurch auch die Gegenpartei benachteiligt ist, die, auch wenn die
Berufung für sie nicht in Betracht kommt, doch ein berechtigtes Interesse
sowohl in der Sache selbst wie in Hinsicht auf die Kosten daran hat, dass eine
definitive Erledigung des Streites eintrete. Zudem ist zu beachten, dass der
Vorschuss der Rekurrentin nicht als im kantonalen Verfahren unterlegener
Partei auferlegt worden ist, sondern als Partei schlechthin (auch der
Gegenpartei ist die Auflage gemacht worden und sie hat sich unterzogen). Auch
hatte es bei der Kautionsverfügung offenbar die Meinung, dass bis zur Leistung
durch jede Partei die Mitteilung des Urteils überhaupt, an beide Parteien,
unterbleibe, wie denn der Sinn von Art. 63, Abs. 1, Ziff. 4 der ist, dass die
Mitteilung an die Parteien (soweit es möglich ist) zugleich erfolge. Je nach
der Prozesslage auf Grund des kantonalen Urteils könnte daher das System des
kantonalen Richters zur Folge haben, dass für die ganz oder teilweise
unterlegene Partei die Möglichkeit, die Berufung zu ergreifen, vom Verhalten
der Gegenpartei, was die Leistung des Vorschusses anlangt, abhängt. Es ist
klar, dass ein solches kantonales Vorgehen unvereinbar ist mit einem
ordnungsgemässen Anschluss des allfälligen Berufungsverfahrens an das
kantonale Verfahren, wie ihn das OG in Art. 63 sicherstellen will.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 63 I 25
Datum : 01. Januar 1936
Publiziert : 05. März 1937
Quelle : Bundesgericht
Status : 63 I 25
Sachgebiet : BGE - Verwaltungsrecht und internationales öffentliches Recht
Gegenstand : Art. 63 Abs. I Ziff. 4 OG: Die Mitteilung des Urteils darf an keine Bedingungen geknüpft werden...


Gesetzesregister
OG: 63
BGE Register
63-I-25
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
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