S. 72 / Nr. 23 Familienrecht (d)

BGE 62 II 72

23. Urteil der II. Zivilabteilung vom 14. Mai 1936 i. S. Boschung gegen Rappo.

Regeste:
Art. 333 ZGB. Die Aufsichtspflicht des Familienhauptes verlangt eine
Beaufsichtigung von Kindern dann, wenn besonderer Grund zur Annahme besteht,
dass sie Dritten Schaden zufügen könnten: keinen solchen Grund bilden normale
Lebhaftigkeit

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des Kindes, Vorhandensein offener Scheunen u. dgl. mit der blossen Möglichkeit
der Behändigung gefährlicher Gegenstände. Keine Pflicht zur Warnung der Kinder
vor Handlungen, welche vorauszusehen kein Anlass besteht.

A. ­ Der Beklagte D. Boschung bewohnt mit seiner Familie den 1. Stock seines
Hauses in Obermühletal. Im 2. Stock ist der Kläger B. Rappo mit seiner Frau
und drei Kindern zur Miete. Zu den Mieträumen des Rappo gehört auch ein Teil
eines in der Nähe des Hauses stehenden Holzschopfes, dessen Türe mit einem
Holzriegel verschliessbar ist; zu einem ausserdem vorhandenen Schlosse war dem
Mieter kein Schlüssel übergeben worden. Am späten Nachmittage des 17. Juli
1933 befand sich Rappo wie gewohnt in Freiburg auf der Arbeit, seine Frau ging
in einen benachbarten Wald zur Beerensuche. Auch Frau Boschung war abwesend,
während der Beklagte selbst in seiner Werkstatt im Erdgeschoss arbeitete.
Derweil machte sich sein im 9. Altersjahre stehendes Töchterchen Martha
Boschung in dem der Familie Rappo gehörenden Schopfteil in Gegenwart der
gleichaltrigen Marie Rappo, des 1 1/2 jährigen Paul Rappo und eines weiteren 9
jährigen Mädchens daran, mit einem Beil des Rappo Holz zu spalten. Der kleine
Paul Rappo hielt ihr dabei ein Stück Holz und wurde von einem Beilhieb an der
rechten Hand getroffen, deren Mittel- und Ringfinger bleibende Beschädigungen
(Verdickung, Versteifung, Narben) erlitten. Auf wessen Initiative die Martha
Boschung zum Holzspalten und der kleine Paul Rappo dazu kam, ihr das Holzstück
zu halten, ist unter den Parteien streitig und von der Vorinstanz nicht
festgestellt worden. Feststeht dagegen, dass das benutzte Beil auf einem 1,2
bis 1,5 m hohen Reisighaufen im Schopfteil des Rappo gelegen hatte.
B. ­ Mit der vorliegenden Klage verlangt letzterer als gesetzlicher Vertreter
seines Sohnes Paul vom Beklagten als Ersatz des durch dessen Tochter Martha
verursachten Schadens Fr. 7000.­ für Mindererwerbsfähigkeit und Fr. 201.70 für
Arzt- und andere Kosten.

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C. ­ Das Kantonsgericht des Kantons Freiburg hat gestützt auf Art. 333
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 333 - 1 Verursacht ein Hausgenosse, der minderjährig oder geistig behindert ist, unter umfassender Beistandschaft steht oder an einer psychischen Störung leidet, einen Schaden, so ist das Familienhaupt dafür haftbar, insofern es nicht darzutun vermag, dass es das übliche und durch die Umstände gebotene Mass von Sorgfalt in der Beaufsichtigung beobachtet hat.469
1    Verursacht ein Hausgenosse, der minderjährig oder geistig behindert ist, unter umfassender Beistandschaft steht oder an einer psychischen Störung leidet, einen Schaden, so ist das Familienhaupt dafür haftbar, insofern es nicht darzutun vermag, dass es das übliche und durch die Umstände gebotene Mass von Sorgfalt in der Beaufsichtigung beobachtet hat.469
2    Das Familienhaupt ist verpflichtet, dafür zu sorgen, dass aus dem Zustand eines Hausgenossen mit einer geistigen Behinderung oder einer psychischen Störung weder für diesen selbst noch für andere Gefahr oder Schaden erwächst.470
3    Nötigenfalls soll es bei der zuständigen Behörde zwecks Anordnung der erforderlichen Vorkehrungen Anzeige machen.
ZGB die
Klage im Betrage von Fr. 5130.50 gutgeheissen. Gegen dieses Urteil haben beide
Parteien Berufung eingelegt.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. ­ Nach Art. 333
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 333 - 1 Verursacht ein Hausgenosse, der minderjährig oder geistig behindert ist, unter umfassender Beistandschaft steht oder an einer psychischen Störung leidet, einen Schaden, so ist das Familienhaupt dafür haftbar, insofern es nicht darzutun vermag, dass es das übliche und durch die Umstände gebotene Mass von Sorgfalt in der Beaufsichtigung beobachtet hat.469
1    Verursacht ein Hausgenosse, der minderjährig oder geistig behindert ist, unter umfassender Beistandschaft steht oder an einer psychischen Störung leidet, einen Schaden, so ist das Familienhaupt dafür haftbar, insofern es nicht darzutun vermag, dass es das übliche und durch die Umstände gebotene Mass von Sorgfalt in der Beaufsichtigung beobachtet hat.469
2    Das Familienhaupt ist verpflichtet, dafür zu sorgen, dass aus dem Zustand eines Hausgenossen mit einer geistigen Behinderung oder einer psychischen Störung weder für diesen selbst noch für andere Gefahr oder Schaden erwächst.470
3    Nötigenfalls soll es bei der zuständigen Behörde zwecks Anordnung der erforderlichen Vorkehrungen Anzeige machen.
ZGB hat der Beklagte für den entstandenen Schaden
aufzukommen, wenn er nicht das übliche und durch die Umstände gebotene Mass
von Sorgfalt in der Beaufsichtigung seines Kindes beobachtet hat. Im
allgemeinen wird den Eltern kein Vorwurf gemacht werden können, wenn sie die
Kinder nicht ständig unter Aufsicht halten. Wenn die Eltern ihrer Arbeit
nachgehen müssen sind sie gezwungen, die Kinder gelegentlich allein zu lassen;
das beweist am besten das eigene Verhalten des Klägers und seiner Frau, die
beide vom Hause abwesend waren und ihre Kinder dort allein zurückliessen.
Eine Aufsicht ist dann nötig, wenn ein besonderer Grund zu der Annahme
besteht, dass das Kind durch sein Verhalten Dritten Schaden zufügen könnte. So
ist es offenbar nicht angängig, dass man einem Kind wissentlich ein
gefährliches Instrument überlässt und es damit frei schalten lässt. Besondere
Aufsicht ist auch dann erforderlich, wenn das Kind infolge seiner
Charaktereigenschaften für die Umwelt eine besondere Gefahr bildet. Die
Vorinstanz ist der Ansicht, dass im vorliegenden Falle besondere Vorsicht
geboten gewesen wäre, weil Martha Boschung ein lebhaftes Kind sei und der
Beklagte gewusst habe, dass der Holzschopf des Klägers nicht verschliessbar
sei. Der erstere Grund ist offenbar nicht stichhaltig, denn es steht fest,
dass sich das Kind des Beklagten hinsichtlich Charakter und Temperament von
seinen Altersgenossen nicht unterscheidet. Dass es lebhaft ist und gerne dabei
ist, wenn etwas unternommen wird, ist eine Eigenschaft, die es mit vielen
andern Kindern teilt und die natürlich nicht zur Folge haben kann, dass es von
den Eltern ständig unter den Augen gehalten werden muss. Dass ein offener

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Holzschopf in der Nähe war, bildete auch keinen Anlass für besondere
Vorsichtsmassnahmen. Auf dem Lande werden Ställe, Scheunen, Schöpfe usw.
gewöhnlich gar nicht oder wenigstens nicht mit Schlüsseln, sondern nur mit
leicht zu handhabenden Riegeln verschlossen. Wenn man den Eltern mit Rücksicht
darauf, dass ihre Kinder in diese Räume eindringen und darin Schaden stiften
könnten, eine besondere Aufsicht zumuten wollte, dürfte man in Bauerndörfern
überhaupt kein Kind frei gehen lassen. Dabei besteht allerdings die
Möglichkeit, dass sich die Kinder auf diese Weise in den Besitz von
Gegenständen setzen können, mit denen sie Schaden stiften können. Aber die
blosse Möglichkeit eines derartigen Vorkommnisses kann nicht zu einer
Verpflichtung der Eltern führen, die Kinder ständig unter Aufsicht zu halten.
Es darf übrigens auch damit gerechnet werden, dass gefährliche Gegenstände,
soweit sie sich in solchen leicht zugänglichen Räumen befinden, dem Zugriff
von Kindern so gut als möglich entzogen werden. Soweit das nicht der Fall ist,
wird ein daraus entstehender Schaden eher auf ein Verschulden des Besitzers
des Raumes oder des Gegenstandes als auf mangelhafte Beaufsichtigung der
Kinder zurückzuführen sein. Im vorliegenden Falle liegt ein Verschulden,
sofern überhaupt von einem solchen gesprochen werden kann, wohl eher beim
Vater des verletzten Kindes, der sein Beil im offenen Holzschopf in Reichhöhe
eines achtjährigen Mädchens hat liegen lassen, als beim Beklagten, der dieses
nicht ständig unter den Augen behalten hat.
Die Vorinstanz rechnet es dem Beklagten ferner zum Verschulden an, dass er
sein Töchterchen über die Gefährlichkeit des Hantierens mit einem Beil nicht
aufgeklärt und ihm den Gebrauch dieses Werkzeugs nicht verboten habe. Man kann
jedoch von einem Vater nicht verlangen, dass er alle Handlungen eines Kindes,
durch welche Dritte gefährdet werden können, voraussehe und die entsprechenden
Ermahnungen erteile. Dazu wäre ein Anlass höchstens dann gegeben gewesen, wenn
er gewusst hätte,

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dass im Holzschopf des Klägers ein Beil an einer für die Kinder leicht
erreichbaren Stelle lag. Übrigens kann man über den Wert derartiger, zum
voraus für eine hypothetische Situation erteilter Ermahnungen verschiedener
Meinung sein; oft haben sie die Wirkung, dass die Kinder auf das Verbotene
dadurch erst aufmerksam werden und Handlungen unternehmen, an die sie sonst
gar nicht gedacht hätten.
Es kann demnach nicht gesagt werden, dass der Beklagte die ihm nach Art. 333
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 333 - 1 Verursacht ein Hausgenosse, der minderjährig oder geistig behindert ist, unter umfassender Beistandschaft steht oder an einer psychischen Störung leidet, einen Schaden, so ist das Familienhaupt dafür haftbar, insofern es nicht darzutun vermag, dass es das übliche und durch die Umstände gebotene Mass von Sorgfalt in der Beaufsichtigung beobachtet hat.469
1    Verursacht ein Hausgenosse, der minderjährig oder geistig behindert ist, unter umfassender Beistandschaft steht oder an einer psychischen Störung leidet, einen Schaden, so ist das Familienhaupt dafür haftbar, insofern es nicht darzutun vermag, dass es das übliche und durch die Umstände gebotene Mass von Sorgfalt in der Beaufsichtigung beobachtet hat.469
2    Das Familienhaupt ist verpflichtet, dafür zu sorgen, dass aus dem Zustand eines Hausgenossen mit einer geistigen Behinderung oder einer psychischen Störung weder für diesen selbst noch für andere Gefahr oder Schaden erwächst.470
3    Nötigenfalls soll es bei der zuständigen Behörde zwecks Anordnung der erforderlichen Vorkehrungen Anzeige machen.

ZGB obliegende Beaufsichtigungspflicht verletzt hatte.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
In Gutheissung der Hauptberufung und Abweisung der Anschlussberufung wird das
angefochtene Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 62 II 72
Date : 01. Januar 1936
Published : 14. Mai 1936
Source : Bundesgericht
Status : 62 II 72
Subject area : BGE - Zivilrecht
Subject : Art. 333 ZGB. Die Aufsichtspflicht des Familienhauptes verlangt eine Beaufsichtigung von Kindern...


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ZGB: 333
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62-II-72
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