S. 1 / Nr. 1 Gleichheit vor dem Gesetz(Rechtsverweigerung) (d)

BGE 62 I 1

1. Urteil vom 24. Januar 1936 i. S. Küng gegen Obergericht Luzern


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Regeste:
Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV, Armenrecht:
Das Armenrecht schliesst die Befreiung vom Kostenvorschuss für alle
richterlichen Vorkehren in sich, auch für Beweismassnahmen wie Expertisen
(Erw. 1).
Das Armenrecht steht bei Vorhandensein der allgemeinen Voraussetzungen auch
den Parteien in dem in zivilprozessualen Formen sich abwickelnden Strafprozess
zu (Erw. 2).

A. - Die luzernische ZPO bestimmt über das Armenrecht:
§ 305: «Wer wegen Armut ausserstande ist, sein Recht zu verfolgen oder zu
verteidigen, kann, wenn er einen Rechtsstreit führen muss, sich um die
Erteilung das Armenrechts bewerben».
§ 308: «Das Armenrecht befreit die Person, welche es erhalten hat, von der
Bezahlung der Gerichts- und Stempelgebühren und, ausgenommen in
Injurienstreitsachen, von der Bezahlung der Zeugenlöhne und Expertenkosten».
Der in § 308 gemachte Vorbehalt für Injurienstreitsachen
bezieht sich darauf, dass diese in den Formen des Zivilrechtsverfahren
durchzuführen sind (§ 11 Str.PO).

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Am 6. März 1934 haben die Rekurrenten gegen die Rekursbeklagten Klage wegen
Beleidigung, Verleumdung und Kreditschädigung eingereicht, mit dem Begehren um
Bestrafung und Zuspruch von Entschädigung und Genugtuung. Beiden Parteien
wurde für diesen Prozess das Armenrecht gewährt, unter Bestellung je eines
Armenanwalts.
Nach der Durchführung des Partei- und Zeugenverhörs verfügte das mit dem
Prozess befasste Amtsgericht Luzern-Stadt, es sei gemäss dem Antrag der
Rekurrenten eine Schriftexpertise durchzuführen, für welche diese binnen zehn
Tagen 50 Fr. Kostenvorschuss zu leisten hätten.
B. - Gegen diese Verfügung haben die Rekurrenten den Rekurs ans Obergericht
Luzern und die staatsrechtliche Beschwerde ans Bundesgericht eingereicht,
Am 15. Oktober 1935 hat das Obergericht den Rekurs abgewiesen, mit der
Begründung:
Die Rekurrenten seien allerdings nicht in der Lage, den Kostenvorschuss zu
leisten; auch sei ihr Prozess nicht aussichtslos. Aber unmittelbar aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.

BV folge unter diesen Voraussetzungen ein Armenrechtsanspruch nur für den
Zivilprozess, während es sich hier um einen im Zivilverfahren abzuwandelnden
Strafprozess handle. Massgebend sei also der in § 308 ZPO gemachte Vorbehalt,
wonach in Injuriensachen das Armenrecht nicht von der Bezahlung von
Zeugenlöhnen und Expertkosten befreie.
C. - In der ihnen vom bundesgerichtlichen Instruktionsrichter gesetzten Frist
haben die Rekurrenten erklärt, die staatsrechtliche Beschwerde gegenüber dem
Amtsgerichtsentecheid vom 27. Mai 1935 aufrechtzuerhalten und auf den
Obergerichtsentscheid vom 15. Oktober 1935 auszudehnen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV folgt nach ständiger Praxis des Bundesgerichts das Recht der
Bürger auf die für alle gleiche Möglichkeit, ihre Rechte vor Gericht geltend
zu

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machen. Es muss also gemäss Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV jedem Bürger die Möglichkeit gegeben
sein, in Wahrung seiner Rechte vor dem zuständigen Richter und in den
gesetzlichen Formen alle zudienlichen Behauptungen und Beweismittel
anzubringen. Diese Möglichkeit besteht nicht, wenn die richterliche Tätigkeit
überhaupt oder inbezug auf gewisse Vorkehren auch gegenüber demjenigen
Rechtssuchenden von der Leistung eines Kostenvorschusses abhängig gemacht
wird, der diesen Kostenvorschuss nicht aufbringen kann. Die Kantone haben also
gemäss Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV die bedürftigen Rechtssuchenden, deren Anspruch nicht zum
voraus als unbegründet erscheint, von der Pflicht zur Vorauszahlung oder
Sicherstellung der Kosten für alle richterlichen Vorkehren zu befreien, die
der Verfolgung ihres Rechtsanspruches dienen, also auch der Kosten von
Beweismassnahmen, gegebenenfalls einer Expertise.
Von dieser Erwägung ausgehend hat das Bundesgericht in BGE 57 I 33 die
Vorschrift der aargauischen ZPO, wonach auch der im Armenrecht prozessierende
Rechtssuchende zur Bezahlung der von ihm beantragten und vom Richter
zugelassenen Beweismassnahmen mit der Wirkung verpflichtet ist, dass im
Nichtzahlungsfall auf Grund der Anbringen bloss der Gegenpartei geurteilt
werde, als mit Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV unvereinbar erklärt (vgl. auch BGE 60 I 179).
2.- Die Frage, ob im Kanton Luzern für den nach dortigem Recht im
Zivilverfahren abzuwickelnden Injurienprozess auch der im Armenrecht
prozessierenden Partei gemäss § 308 ZPO die Pflicht zur Vorschussleistung für
die Kosten von (Zeugen- und) Expertenentschädigungen auferlegt werden dürfe,
fällt deshalb zusammen mit der andern Frage, ob aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV für
Zivilprozesse, in denen in Wirklichkeit ein Strafanspruch und nur
adhäsionsweise allenfalls ein Zivilanspruch geltend gemacht wird, überhaupt
ein Anspruch auf Erteilung des Armenrechts folge. Wenn ja, so erstreckt sich
dieser Anspruch nach dem in Erwägung 1 Ausgeführten auch auf die Befreiung von
der Vorausbezahlung von Zeugen- und Expertenhonoraren.

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Diese Frage muss bejaht werden. In BGE 13 S. 251 in Sachen von Courten wurde
ausgeführt, dass in Strafsachen jedenfalls der bedürftige Angeklagte Anspruch
auf Befreiung von Gebühren- oder Kautionsleistungen habe, soweit solche an
sich auch im Strafverfahren auferlegt werden (es handelte sich um eine
Appellationsgebühr). «Die Strafprozessordnungen sprechen allerdings
durchgängig nicht vom Armenrecht, allein dies erklärt sich leicht aus der
öffentlichrechtlichen Natur des Strafprozesses, welche es ausschliesst, dass
in denselben die Vornahme prozessualer Handlungen in gleicher Weise und
Ausdehnung wie im Zivilprozess von der Leistung von Prozesskautionen oder
Hinterlage von Gebühren durch die Parteien - unabhängig gemacht wird. Aber
gerade wegen der öffentlichrechtlichen Natur des Strafprozesses und wegen der
Güter, die darin für den Angeklagten auf dem Spiel stehen, ist daran
festzuhalten, dass das Recht der Verteidigung in allen Instanzen dem armen
Angeklagten nicht durch gesetzliche Vorschriften verkümmert werden darf,
welche ihm dessen wirksame Ausübung tatsächlich unmöglich machen müssen und
ihn daher faktisch ungünstiger stellen als den Begüterten». Und in BGE vom 26.
Oktober 1934 i. S. Caluori wurde entschieden, dass das Armenrecht unmittelbar
aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV dem bedürftigen Angeklagten auch dann zustehe, wenn der
Strafprozess sich in den Formen des Zivilprozessverfahrens abwickle
(Privatstrafverfahren).
Im gleichen Fall wie der Privatstrafbeklagte befindet sich aber auch der
Privatstrafkläger. Er hat ein strafrechtlich geschütztes Rechtsgut zu
verteidigen und ist dabei als Kläger in erster Linie behauptungs- und
beweispflichtig. Wenn der Staat den Schutz strafrechtlich sanktionierter
Privatrechte dermassen als Staatsaufgabe betrachtet, dass er die Verletzung
solcher Rechte im Allgemeinen im Offizialverfahren verfolgt, so muss er
wenigstens da, wo er die Verfolgung dem Verletzten selber überlässt, diesem im
Falle der Bedürftigkeit das Armenrecht

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gewähren, sofern - was immer vorausgesetzt bleibt - seine Klage nicht zum
voraus als unbegründet erscheint.
Also muss dem Privatstrafkläger, von dem unbestritten ist, dass er bedürftig
und dass sein Anspruch nicht aussichtslos ist, mit dem Armenrecht der Erlass
der Kostenvorschuss- oder Sicherstellungspflicht auch für die Schriftexpertise
gewährt werden, die der Richter selbst als notwendig betrachtet hat dadurch,
dass er ihre Vornahme verfügte. Die Auflage an die Rekurrenten zur Leistung
des Kostenvorschusses gemäss § 308 luz. ZPO beruht also auf einer Verletzung
von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen und die Entscheide des Obergerichts Luzern
vom 15. Oktober 1935 und des Amtsgerichts Luzern-Stadt vom 27. Mai 1935 werden
aufgehoben.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 62 I 1
Datum : 01. Januar 1936
Publiziert : 24. Januar 1936
Quelle : Bundesgericht
Status : 62 I 1
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : Art. 4 BV, Armenrecht:Das Armenrecht schliesst die Befreiung vom Kostenvorschuss für alle...


Gesetzesregister
BV: 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BGE Register
57-I-28 • 60-I-179 • 62-I-1
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
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