S. 202 / Nr. 45 Versicherungsvertrag (d)

BGE 61 II 202

45. Urteil der II. Zivilabteilung vom 13. September 1935 i.S. Gerber gegen
«Zürich».


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Regeste:
Motorfahrzeuggesetz Art. 48 ff:
Unter Vorbehalt späterer anderweitiger Vorschrift des Bundesrates steht dem
durch ausländisches Motorfahrzeug in der Schweiz Geschädigten ein
Forderungsrecht unmittelbar gegen den ausländischen Haftpflichtversicherer zu
und kann beim Gericht des Unfallortes geltend gemacht werden.

A. - R. Schierle in Lörrach hat bei der Zweigniederlassung der Allgemeinen
Unfall- und Haftpflicht-Versicherungsgesellschaft «Zürich» in Frankfurt a. M.
für sein Personenautomobil Nr. IV B 26006 mit Standort in Lörrach eine für
ganz Europa geltende Kraftfahrzeugversicherung mit Haftpflichtversicherung von
100000 RM für ein Personenschadensereignis genommen. Am 22. August 1933 wurde
die Tochter der Kläger bei Grenchen durch dieses von Schierle selbst geführte
Automobil getötet. Deren Eltern erhoben beim Amtsgericht Solothurn-Lebern
gegen den Hauptsitz der «Zürich» die vorliegende Klage auf Ersatz der
Beerdigungskosten und des Versorgerschadens, sowie Bezahlung einer
Genugtuungssumme. Die Beklagte lehnte den Gerichtsstand und die
Passivlegitimation ab.
B. - Das Obergericht des Kantons Solothurn hat am 30. April 1935 diese
Einreden gutgeheissen und erkannt, die Beklagte brauche sich nicht auf die
Klage einzulassen.
C. - Dieses Urteil haben die Kläger an das Bundesgericht weitergezogen mit dem
Antrag auf Abweisung der Eireden.

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Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Art. 54 des Bundesgesetzes über den Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr sieht
für die Haftpflichtversicherung ausländischer Motorfahrzeuge besondere
Vorschriften des Bundesrates vor. Solange solche nicht erlassen werden, steht
der Anwendung der allgemeinen Vorschriften des MFG über die
Haftpflichtversicherung auf ausländische Motorfahrzeuge nichts entgegen.
Nach diesen allgemeinen Vorschriften (Art. 48 ff. MFG) hat der Halter bei
einer vom Bundesrat zum Geschäftsbetrieb in der Schweiz zugelassenen
Versicherungsunternehmung eine Haftpflichtversicherung abzuschliessen zur
Deckung des durch den Gebrauch eines Motorfahrzeuges verursachten Schadens
(Art. 48 und 53) und zwar für den gewöhnlichen Motorwagen für die
Versicherungssumme von mindestens 50000 Fr. für eine verunfallte Person bezw.
von mindestens 100000 Fr. für das Unfallereignis (Art. 52). Aus der für
Motorfahrzeuge abgeschlossenen Haftpflichtversicherung steht dem Geschädigten
im Rahmen der vertraglichen Versicherungssumme ein Forderungsrecht unmittelbar
gegen den Versicherer zu, das geltend zu machen ist beim Gerichte des
Wohnsitzes des Halters oder des Ortes, wo sich der Unfall ereignet hat (Art.
49). Einreden aus dem Versicherungsvertrag oder aus dem Bundesgesetz über den
Versicherungsvertrag, die die Deckung des Schadens schmälern oder aufheben
würden, können dem Geschädigten nicht entgegengehalten werden (Art. 50).
Aus der Stellung der letztern beiden Vorschriften (Art. 49 und 50) inmitten
derjenigen über die Pflicht des Automobilhalters, eine
Automobilhaftpflichtversicherung abzuschliessen, ergibt sich nicht, dass sie
nur auf solche Haftpflichtversicherungsverträge zutreffen, die in Erfüllung
der Versicherungspflicht eingegangen worden sind. Im Gegenteil: das direkte
Forderungsrecht gegen den Haftpflichtversicherer wird dem Geschädigten im
Rahmen der vertraglichen

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Versicherungssumme erteilt, also nicht nur im Rahmen der
Mindestversicherungssumme, für die sich durch Haftpflichtversicherung zu
decken der Automobilhalter verpflichtet war, sondern auch im Rahmen einer
höhern Summe, für die der Halter freiwillig Haftpflichtversicherung genommen
hat. Ebenso ist der direkt belangte Versicherer mit Einreden ausgeschlossen,
welche die Deckung des Schadens schmälern oder aufheben würden, nicht nur im
Rahmen der Mindestversicherungssumme, für die sich durch
Haftpflichtversicherung zu decken der Automobilhalter verpflichtet war,
sondern schlechthin, also auch, soweit der Schaden diesen Rahmen übersteigt
und nur zufolge einer freiwillig für eine höhere Summe genommenen
Haftpflichtversicherung gedeckt wird. Hieraus muss geschlossen werden, dass
die blosse Tatsache des Bestehens einer Haftpflichtversicherung, gleichgültig
ob sie kraft der gesetzlichen Versicherungspflicht oder ohne Rücksicht auf sie
genommen worden ist, dem durch Motorfahrzeug Geschädigten ein unmittelbares
Forderungsrecht gegen den Haftpflichtversicherer verschafft, und zwar
unabdingbarerweise. Diese Regelung lässt sich nicht anders erklären als dahin,
dass dem durch Motorfahrzeug Geschädigten um der öffentlichen Ordnung und
Sittlichkeit willen ein unmittelbares Forderungsrecht eingeräumt werde gegen
die zahlungsfähige Versicherungsunternehmung, bei welcher sich der
haftpflichtige Automobilhalter für den Schaden eingedeckt hat, um dem
Geschädigten grösstmögliche Sicherheit dafür zu verschaffen, dass er sich für
den Schaden auch wirklich bezahlt machen könne, sobald neben dem Halter und
allfällig sonst Haftbaren noch jemand da ist, der für den Schaden aufzukommen
hat. Ist der Rechtsgrund hiefür zwar bloss das bezügliche vertragliche
Versprechen des Haftpflichtversicherers gegenüber dem Automobilhalter, so
steht nichts entgegen, dass das Gesetz den Haftpflichtversicherer zufolge
seines Versprechens als für den mit dem Automobil des versicherten Halters
verursachten Schaden von Gesetzes wegen mitverantwortlich

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erklärt, und zwar kommt es dem Gesetz des Ortes, an welchem der Schaden
angerichtet wurde, zu, den Kreis der hiefür ersatzpflichtigen Person zu
bestimmen und eine solche gesetzliche Ersatzpflicht aus einem Versprechen zur
Schadensdeckung herzuleiten, auch wenn für die vertraglichen Wirkungen dieses
Versprechens gegenüber dem Versprechensempfänger ausländisches
Versicherungsrecht massgebend ist und das zutreffende Auslandsrecht keine
gleichartige gesetzliche Wirkung jenes Versprechens zugunsten des
Geschädigten, d. h. kein Forderungsrecht desselben unmittelbar gegen den
Versicherer vorsieht. Auf Grund dieser Betrachtungsweise ist ein unmittelbares
Forderungsrecht jeder in der Schweiz von einem Motorfahrzeug geschädigten
Person gegen den Haftpflichtversicherer des Fahrzeughalters anzunehmen, also
insbesondere auch dann, wenn der Halter des Fahrzeuges der durch Art. 48 MFG
vorgeschriebenen Pflicht zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung nicht
unterworfen war, sondern sich freiwillig im Ausland für den vom Fahrzeug
allfällig in der Schweiz angerichteten Schaden durch Abschluss einer
Haftpflichtversicherung eindeckte, für die im übrigen ausschliesslich
ausländisches Recht gilt. Die Annahme eines unmittelbaren Forderungsrechtes
gegen jeden Haftpflichtversicherer jedes Halters eines in der Schweiz Schaden
anrichtenden Automobils wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass die
Befriedigung für ein solches Forderungsrecht in der Schweiz nur dann
durchgesetzt werden kann, wenn Vermögen des Haftpflichtversicherers sich hier
befindet.
Ist davon auszugehen, dass den Klägern gemäss Art. 49 MFG ein Forderungsrecht
unmittelbar gegenüber der Beklagten zusteht, so ergibt sich der Gerichtsstand
am Unfallort ohne weiteres aus dem letzten Satze jener Vorschrift.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird begründet erklärt, das Urteil des Obergerichtes des Kantons
Solothurn vom 30. April 1935

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aufgehoben, die Einreden der mangelnden Passivlegitimation der Beklagten und
der Unzuständigkeit u erden abgewiesen und die Sache wird zur weiteren
Beurteilung, auch der Kostenfrage, an die Vorinstanz zurückgewiesen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 61 II 202
Datum : 01. Januar 1935
Publiziert : 13. September 1935
Quelle : Bundesgericht
Status : 61 II 202
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Motorfahrzeuggesetz Art. 48 ff:Unter Vorbehalt späterer anderweitiger Vorschrift des Bundesrates...


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61-II-202
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