S. 437 / Nr. 67 Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr (d)

BGE 61 I 437

67. Urteil das Kassationshofs vom 23. Dezember 1935 i. S. Koller gegen Aargau,
Staatsanwaltschaft.


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Regeste:
Vor einem Hausplatz besteht keine Pflicht zur Signalgabe (Art. 20 MFG) noch zu
besonderer Verlangsamung (Art. 25, 27 MFG).

A. - Der Angeklagte Koller fuhr am 24. Mai 1935 von Rheinfelden her kommend
mit seinem Personenautomobil auf der breiten und geraden Strasse durch das
Dorf Magden, als unvermutet aus der sog. Milchgasse, die mit Gefälle von
rechts her einmündet und deren unterster Teil der Einsicht des Führers durch
eine Gartenmauer einigermassen entzogen ist, ein 8 jähriger Knabe, gejagt von
seinem Schwesterchen und nach diesem rückwärts blickend, ja schliesslich
rückwärts laufend, die Dorfgasse betrat und dicht vor den Wagen geriet. Der
Führer bremste ab, aber der Knabe wurde noch umgeworfen und erlitt
unbedeutende Verletzungen. Wegen Übertretung der Verkehrsvorschriften und
fahrlässiger Körperverletzung angeklagt, wurde Koller vom Bezirksgericht
freigesprochen, auf Appellation der Staatsanwaltschaft hin jedoch vom
Obergericht der Widerhandlung gegen Art. 20 und 25 al. 1 MFG und der
fahrlässigen Körperverletzung schuldig befunden und zu einer Geldbusse von 30
Fr. verurteilt.
In der Begründung wird ausgeführt, dass der Gebrauch der Warnvorrichtung im
Interesse der Verkehrssicherheit gesetzlich geboten sei, wenn sich ein
Fahrzeug einer unübersichtlichen Strasseneinmündung nähere, weil mit der
Möglichkeit des Auftauchens einer unerwarteten Gefahr gerechnet werden müsse.
Ferner mache Art. 25 al. 1 MFG dem Motorfahrzeugführer zur Pflicht, angesichts
irgend eines Gefahrenmoments den Lauf seines Fahrzeugs so zu verlangsamen,
dass er augenblicklich anhalten könne. Das treffe u. a. immer beim Durchfahren
von Ortschaften zu, insbesondere wenn unübersichtliche und deshalb gefährliche
Kreuzungen oder Einmündungen zu passieren seien.

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Nach der Feststellung der Vorinstanz habe der Knabe vom Führer auf 7-8 m
Distanz gesehen werden können. Wenn es trotzdem Koller nicht gelungen sei, den
Wagen rechtzeitig zum Stehen zu bringen, so lasse sich das nur so erklären,
dass entweder das Fahrtempo im kritischen Moment wesentlich höher war als die
von der I. Instanz angenommenen 20-30 km, oder dass der Führer es an der
nötigen Sorgfalt habe fehlen lassen. Zu ganz besonderer Sorgfalt sei er schon
deshalb verpflichtet gewesen, weil ihm diese gefährliche Einmündung bekannt
war und er das Vortrittsrecht eines eventuell aus dieser Seitenstrasse
einfahrenden Motorfahrzeuges zu respektieren hatte.
B. - Gegen dieses Urteil hat Koller rechtzeitig Kassationsbeschwerde
eingereicht, womit er dessen Aufhebung und seine Freisprechung verlangt.
C. - Die Staatsanwaltschaft beantragt Abweisung der Beschwerde.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.- Der Kassationskläger macht geltend, dass die sog. Milchgasse nicht eine
Seitenstrasse sei, sondern lediglich der Hausplatz von zwei oder drei Häusern
resp. die Zufahrt zu denselben. Die Staatsanwaltschaft ist dagegen der
Auffassung, man werde der Milchgasse den Charakter einer Seitenstrasse nicht
wohl absprechen können. Der Unterschied ist von entscheidender Bedeutung für
das dem Fahrzeugführer zuzumutende Verhalten, und zwar im Hinblick auf den
Gebrauch des Warnsignals wie der einzuhaltenden Geschwindigkeit. Nach Art. 20
MFG ist die Warnvorrichtung zu gebrauchen, wenn es die Sicherheit des Verkehrs
erfordert. Diesem Erfordernis ist genügt, wenn bei unübersichtlicher Strasse
oder Strasseneinmündung oder bei ersichtlicher Gefahr gehupt wird. Dass vor
jedem Haus, vor jedem unübersichtlichen Hausplatz oder sonstigem Objekt an der
Strasse, aus oder hinter dem hervor jemand ungesehen auf die Strasse treten
könnte, zu warnen sei, ist abzulehnen. Es ist nicht am Fahrzeugführer, sich
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der Strasse anzukündigen, sondern an demjenigen, der uneingesehen die Strasse
betreten will, sich umzuschauen. Wo dagegen eine Seitenstrasse unübersichtlich
einmündet, da ist das Warnsignal nötig, weil eben die Strassengabelungen und
-kreuzungen beiden Strassen gemeinsam sind. Zwar wird es, wie der
Kassationskläger zutreffend geltend macht, in den meisten Städten heute sogar
vor solchen Stellen polizeilich verboten. Dieses Verbot schliesst aber die
Weisung in sich, dass die Fahrzeuge auf beiden Strassen oder doch jedenfalls
das nicht vortrittsberechtigte so langsam an die Gabelung bezw. Kreuzung
heranfährt, dass das Anhalten auf der Stelle möglich ist. In diesem Sinne sind
solche polizeiliche Hupverbote zu verstehen und halten sie vor Art. 20 MFG
stand.
2.- Was von der Betätigung der Warnvorrichtung, gilt entsprechend von der
Fahrgeschwindigkeit. Hat der Fahrzeugführer auf Strassengabelungen und
-kreuzungen hin bei Unübersichtlichkeit der andern Strasse seine
Geschwindigkeit so stark herabzusetzen, dass er zeitig genug anhalten kann, um
einem vorsichtig geführten vortrittsberechtigten Fahrzeug den Vortritt zu
ermöglichen (Art. 27 MFG), so kann ihm andererseits nicht zugemutet werden,
dass er wegen eines jeden Hausplatzes u. ä. in Ortschaften dasselbe tue.
Vielmehr genügt er hier seiner Sorgfaltspflicht, wenn er mit derjenigen
Geschwindigkeit fährt, die den in Ortschaften allgemein erhöhten
Gefahrenumständen angepasst ist; sie darf bei breiter und gerader Strasse
natürlich höher sein, als bei enger und gewundener. Da die Strasse durch das
Dorf Magden nach den Akten breit und gerade ist, so war, wenn die Milchgasse
nicht als Seitenstrasse anzusehen ist, die Geschwindigkeit des
Kassationsklägers von höchstens 30 km nicht übersetzt; dass er nicht rascher
gefahren sei, darf als erwiesen angenommen werden, da das Obergericht die
dahingehende Feststellung der ersten Instanz nicht als unrichtig bezeichnet,
sondern lediglich vermutet hat, Koller sei entweder schneller oder dann
unaufmerksam gefahren, weil er den Wagen nicht

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mehr habe anhalten können, als er des Kindes auf eine Distanz von 7-8 m
ansichtig geworden sei. Nun wäre aber bei einer Geschwindigkeit von 30 km ein
Anhalten auf 7-8 m überhaupt nicht mehr möglich gewesen, da die Anhaltestrecke
einschliesslich der Reaktionszeit bei der genannten Geschwindigkeit
durchschnittlich 15,53 m beträgt (vgl. die Bremstabelle bei STREBEL, S. 380);
die Vermutungen, die das Obergericht aus dem Nichtanhalten des
Kassationsklägers zieht, könnten somit von vorneherein nicht richtig sein.
3.- Sofern es sich bei der Milchgasse nur um einen Hausplatz von 2 oder 3
Häusern, bezw. um die Zufahrt zu diesem, handelt, wie der Kassationskläger
dies behauptet, so wäre daher eine Verletzung der Art. 20 und 25 MFG zu
verneinen. Da die Akten über die Richtigkeit dieser Behauptung keinen
Aufschluss geben, so ist die Sache zur Vornahme der erforderlichen Erhebungen
hierüber an die Vorinstanz zurückzuweisen.
4.- Aber auch für den Fall, dass nach den örtlichen Verhältnissen die
Milchgasse als eine Seitenstrasse anzusehen wäre, könnte der Vorinstanz nicht
ohne weiteres beigepflichtet werden. Denn nach der Behauptung des
Kassationsklägers ist für den von Rheinfelden her kommenden Fahrer der obere
Teil der Milchgasse vollständig übersichtlich, und nur das letzte Teilstück
unmittelbar vor der Einmündung ist durch eine Mauer und eine Grasböschung
verdeckt, und auch da nur in der Höhe von 1,50 m, so dass ein von dort
kommendes Motorfahrzeug ebenfalls gesehen werden könnte. Trifft diese
Behauptung zu, so bestand für den Kassationskläger wiederum kein Anlass,
Signal zu geben oder seine Geschwindigkeit noch weiter zu vermindern, da er
nicht damit zu rechnen hatte, einem von rechts kommenden Motorfahrzeug den
Vortritt gewähren zu müssen. Dass ein Kind plötzlich aus der Einmündung
herausgerannt kommen könnte - einen Erwachsenen hätte er ja ebenfalls gesehen
bei Richtigkeit seiner Darstellung - brauchte er nicht vorauszusehen (vgl.
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Erw. 2). Da den Akten über die Frage der Übersichtlichkeit ebenfalls nichts
entnommen werden kann, so hat sich die Untersuchung der Vorinstanz auch auf
diese Frage zu erstrecken.
5.- Ist eine Verletzung der Bestimmungen des MFG aus einem der beiden
erwähnten Gründe zu verneinen, so würde auch die Verurteilung wegen des
kantonalen Deliktes der Körperverletzung nach der ständigen Praxis des
Kassationshofs hinfällig, da die Fahrlässigkeit des Kassationsklägers von der
Vorinstanz ausschliesslich in der Verletzung der Fahrvorschriften des MFG
erblickt wird (vgl. BGE 61 I S. 214).
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Beschwerde wird dahin gutgeheissen, dass das Urteil des Obergerichts des
Kantons Aargau vom 11. Oktober 1935 aufgehoben und die Sache im Sinne der
Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen wird.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 61 I 437
Datum : 01. Januar 1935
Publiziert : 23. Dezember 1935
Quelle : Bundesgericht
Status : 61 I 437
Sachgebiet : BGE - Verwaltungsrecht und internationales öffentliches Recht
Gegenstand : Vor einem Hausplatz besteht keine Pflicht zur Signalgabe (Art. 20 MFG) noch zu besonderer...


BGE Register
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