BGE 61 I 353
52. Urteil vom 8. November 1935 i. S. Ricagni gegen Giorgi.
Regeste:
Staatsvertrag mit Italien über die Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher
Entscheidungen vom 3. Jan. /6. Okt. 1933, Art. 2 Ziff. 2 Abs. 2: Begriff der
vorbehaltlosen Einlassung auf einen italienischen Rechtsstreit.
A. - Am 15. März 1934 wurde Carlo Ricagni, Inhaber einer Lebensmittelhandlung
in Brig, von der Pretura di
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Fidenza durch öffentliche Vorladung aufgefordert, am 11. Mai 1934 zur
Verhandlung über die Forderungsklage zu erscheinen, die Umberto Giorgi in
Fidenza gegen ihn eingeleitet hatte. Die Verhandlung scheint dann auf den 18.
Mai verschoben worden zu sein. An diesem Tage fanden sich vor dem Pretore di
Fidenza nach dem gerichtlichen Protokoll ein: Avvocato E. Spagnoli als
Vertreter des Klägers und Avvocato A. Tedeschi «als Vertreter des Beklagten».
Avv. Spagnoli beantragte, der Beklagte sei zur Zahlung von 1990 Lire nebst
Zins für Lieferung von Geflügel zu verurteilen. Avv. Tedeschi bestritt die
örtliche Zuständigkeit des angegangenen Richters; materiell verlangte er
Abweisung der Klage, eventuell Beweisergänzung, bezw. Vorlage eines
Buchauszuges. Der Pretore vertagte die Angelegenheit auf den 22. Juni 1934.
Nachdem an diesem Tage eine neue Verhandlung in Anwesenheit der
Parteivertreter stattgefunden hatte, wies er am 25. Juni 1934 die
Unzuständigkeitseinrede ab und verfügte die persönliche Einvernahme des
Beklagten. Die Zuständigkeit des Richters von Fidenza wurde abgeleitet aus
Art. 107 der italienischen Zivilprozessordnung, wornach obligatorische
Ansprüche (azioni personali) gegen einen nicht in Italien wohnenden Ausländer
am italienischen Wohnort des Klägers geltend gemacht werden können. Am 5.
Oktober 1934 vereinbarten laut gerichtlichem Protokoll die Parteivertreter mit
dem Pretore, dass die mündliche Einvernahme des Beklagten am 6. November
stattfinden solle. Als am festgesetzten Tage zwar die Anwälte erschienen, der
Beklagte aber ohne Entschuldigung ausblieb, hiess der Pretore die Klage am 27.
Dezember 1934 im vollen Umfange gut. Das Urteil wurde am 28. Dezember 1934 in
Abwesenheit der Parteien mündlich eröffnet und ist nach einer im Februar 1935
ausgestellten Bescheinigung der Gerichtskanzlei Fidenza in Rechtskraft
erwachsen.
B. - Mit Eingabe vom 1. Mai 1935 ersuchte Umberto Giorgi das Kantonsgericht
Wallis, das Urteil des Pretore di Fidenza vom 28. Dezember 1934 als im Kanton
Wallis
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vollstreckbar zu erklären. Der Beklagte Ricagni beantragte unter Berufung
darauf, dass er nur an seinem Wohnort Brig hätte belangt werden können, die
Abweisung des Begehrens; er sei übrigens weder zu den Verhandlungen in Fidenza
vorgeladen worden, noch habe er je das fragliche Urteil zugestellt erhalten.
Der Kläger reichte darauf eine Reihe amtlicher Akten ein, aus denen sich der
soeben dargestellte Tatbestand ergibt.
C. - Das Kantonsgericht Wallis hiess am 5. Juli 1935 das Begehren des Giorgi
gut. Es stellte fest, dass Ricagni der Ediktalzitation vom 15. März 1934 Folge
geleistet habe, «indem er dem Rechtsanwalt Tedeschi Vollmacht erteilte, ihn
anlässlich der Gerichtsverhandlungen vor dem Prätor zu vertreten». Tedeschi
habe dann allerdings die Kompetenz des angerufenen Richters bestritten,
gleichzeitig aber auch Anträge zur Sache selbst gestellt und Abweisung der
Klage, eventuell Beweisergänzung verlangt. Als dann die Kompetenzeinrede
abgewiesen und der fragliche Zwischenentscheid in Rechtskraft erwachsen war,
sei Tedeschi zur Verhandlung erschienen, in der die Beweisergänzung hätte
stattfinden sollen. «Ricagni hat sich demnach durch seinen bevollmächtigten
Vertreter unter Preisgabe der Inkompetenzeinrede auf den Haupthandel
eingelassen und damit die Zuständigkeit der italienischen Gerichte anerkannt.»
Das Urteil sei den Anwälten in richtiger Form mündlich eröffnet worden und in
Rechtskraft erwachsen. Nach den Vorschriften des schweizerisch-italienischen
Vollstreckungsvertrages vom 6. Oktober 1933 seien somit die Voraussetzungen
für die Vollstreckung gegeben.
D. - Mit rechtzeitig eingereichter staatsrechtlicher Beschwerde beantragt
Ricagni die Aufhebung des kantonsgerichtlichen Urteils unter Kosten- und
Entschädigungsfolgen. Als Beschwerdegrund wird Verletzung des
schweizerisch-italienischen Vollstreckungsabkommens vom 6. Oktober 1933
geltend gemacht.
Der Rekurrent habe die Zuständigkeit der italienischen
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Gerichte nie anerkannt. Er habe aus Fidenza überhaupt keine gerichtlichen Akte
oder Urteile erhalten. Auch sei von ihm niemand mit seiner Vertretung im
dortigen Verfahren beauftragt worden. Es sei ihm unerklärlich, wie ein Anwalt
für ihn habe auftreten können.
Selbst wenn Tedeschi weisungsgemäss für den Rekurrenten gehandelt hätte,
müsste die Vollstreckung des Urteils verweigert werden, weil er die Kompetenz
des italienischen Richters bestritten habe.
E. - Der Beschwerdebeklagte Giorgi beantragt die Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Da der Rekurrent unbestrittenermassen in Brig wohnt und eine
Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten des italienischen Richters nicht
behauptet wird, hängt die Vollstreckbarkeit des vom Pretore di Fidenza
gefällten Urteils in der Schweiz davon ab, dass sich Ricagni im Sinne von Art.
2 Ziff. 2 Abs. 2 des schweizerisch-italienischen Vollstreckungsabkommens
«vorbehaltslos auf den Rechtsstreit eingelassen» hatte. Diese Voraussetzung
ist selbst dann nicht erfüllt, wenn der Rekurrent tatsächlich im italienischen
Verfahren rechtsgültig durch Avvocato Tedeschi vertreten war. Dass Tedeschi in
der Verhandlung vom 18. Mai 1934 nicht nur die Kompetenz des Prätors bestritt,
sondern gleichzeitig die Abweisung der Klage, eventuell Beweisergänzung
verlangte, ist ohne Bedeutung, da die materiellen Anträge offensichtlich nur
als Eventualbegehren zu verstehen waren. Ebensowenig kann gegen den
Rekurrenten daraus etwas abgeleitet werden, dass es Tedeschi unterliess, die
Abweisung der Unzuständigkeitseinrede in der durch die italienische
Prozessordnung vorgesehenen Weise bei einer obern Instanz anzufechten (vgl.
BGE 21 S. 733; 23 S. 1578). Der Weiterzug wäre übrigens aussichtslos gewesen
angesichts von Art. 107
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz ZPO Art. 107 Verteilung nach Ermessen - 1 Das Gericht kann von den Verteilungsgrundsätzen abweichen und die Prozesskosten nach Ermessen verteilen: |
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1 | Das Gericht kann von den Verteilungsgrundsätzen abweichen und die Prozesskosten nach Ermessen verteilen: |
a | wenn die Klage zwar grundsätzlich, aber nicht in der Höhe der Forderung gutgeheissen wurde und diese Höhe vom gerichtlichen Ermessen abhängig oder die Bezifferung des Anspruchs schwierig war; |
b | wenn eine Partei in guten Treuen zur Prozessführung veranlasst war; |
c | in familienrechtlichen Verfahren; |
d | in Verfahren bei eingetragener Partnerschaft; |
e | wenn das Verfahren als gegenstandslos abgeschrieben wird und das Gesetz nichts anderes vorsieht; |
f | wenn andere besondere Umstände vorliegen, die eine Verteilung nach dem Ausgang des Verfahrens als unbillig erscheinen lassen. |
1bis | Das Gericht kann die Prozesskosten bei Abweisung gesellschaftsrechtlicher Klagen, die auf Leistung an die Gesellschaft lauten, nach Ermessen auf die Gesellschaft und die klagende Partei aufteilen.38 |
2 | Das Gericht kann Gerichtskosten, die weder eine Partei noch Dritte veranlasst haben, aus Billigkeitsgründen dem Kanton auferlegen. |
Schuldner obligatorischer Verpflichtungen am italienischen Wohnsitz des
Gläubigers geklagt werden kann. Als weitere prozessuale
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Handlungen des Tedeschi sind in den gerichtlichen Akten verurkundet die
Teilnahme bei der Festsetzung des Termins, an dem der Rekurrent einvernommen
werden sollte, sowie sein Erscheinen an dem hiefür bestimmten Tage. Diese Akte
wären zwar an sich möglicherweise geeignet, den Tatbestand der Einlassung zu
erfüllen. Nachdem jedoch Tedeschi die Unzuständigkeitseinrede am Anfang des
Verfahrens in aller Form erhoben und den Richter zu einem Vorentscheid
hierüber veranlasst hatte, vermögen sie, obschon sie von keinem besonderen
Vorbehalt mehr begleitet worden zu sein scheinen, die Vollstreckbarkeit des
Urteils in der Schweiz nicht zu begründen. Es kann einem in der Schweiz
wohnenden und mit Italien Handel treibenden Geschäftsmann nicht gleichgültig
sein, ob er in Italien von einem - wenn schon gemäss Staatsvertrag
unzuständigen - Gericht zur Zahlung einer Geldsumme verurteilt wird, hat er
doch stets mit der Möglichkeit der Vollstreckung des Urteils in Vermögen zu
rechnen, das er allenfalls in Italien besitzt oder noch erwerben wird. Nimmt
ein Beklagter in einem solchen Fall nach Abweisung seiner
Unzuständigkeitseinrede an der materiellen Behandlung der Sache durch die
erste Instanz teil, so darf das, sofern sich nicht aus besonderen Gründen
etwas Abweichendes ergibt, nur dahin verstanden werden, dass er seine
Interessen im Hinblick auf eine im Ausland mögliche Vollstreckung wahren,
nicht aber dass er die Zuständigkeit des italienischen Gerichts im Sinne des
Staatsvertrages anerkennen will. Nachdem irgendwelche besonderen Anhaltspunkte
für eine weitergehende Willensmeinung nicht geltend gemacht werden, kann daher
das Vorgehen des Tedeschi nicht als «vorbehaltlose Einlassung» gemäss Art. 2
Ziff. 2 Abs. 2 des Staatsvertrages gelten (vgl. BGE 23 S. 1578/9).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen und das Urteil des Kantonsgerichts Wallis vom
5. Juli 1935 aufgehoben.