S. 234 / Nr. 34 Gleichheit vor dem Gesetz (Rechtsverweigerung) (d)

BGE 61 I 234

34. Urteil vom 18. Juli 1935 i. S. Limacher gegen Inauen.


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Regeste:
An ein Armenrechtsgesuch dürfen nach Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV keine Anforderungen gestellt
werden, die bloss einen leeren Formalismus bilden.

A. - Der Rekursbeklagte Inauen hat vor dem Amtsgericht von Luzern-Land gegen
den Rekurrenten Limacher eine Schadenersatzklage erhoben. Dieser reichte
innert der ihm vom Gerichtspräsidenten hiefür angesetzten, verlängerten Frist
am 25. Januar 1935 seine schriftliche Rechtsantwort ein und verband damit ein
Armenrechtsgesuch. Der Amtsgerichtspräsident entsprach am 22. Februar diesem
Gesuch. Am 25. Februar wies das Amtsgericht die Rechtsantwort aus dem Recht,
weil sie nicht innert 60 Tagen nach der Zustellung der Klage eingereicht
worden war und § 105 ZPO bestimmt, dass der Gerichtspräsident die Antwortfrist
von 20 Tagen nicht über 60 Tage verlängern dürfe. Doch konnte der Rekurrent in
der Verhandlung vor dem Amtsgericht seine Verteidigung nach § 122 ZPO doch
vortragen. Der Rekursbeklagte verlangte nun mit einem Rekurs bei der
Justizkommission des Obergerichtes des Kantons Luzern, dass das
Armenrechtsgesuch ebenfalls als verspätet behandelt werde, da es nach § 306
ZPO spätestens mit der Antwort zu stellen ist und ein späteres Gesuch nur
berücksichtigt werden kann, wenn die es begründende Tatsache erst im Laufe des
Prozesses eingetreten ist. Die Justizkommission hiess den Rekurs am 16. März
gut, hob die Verfügung des Amtsgerichtspräsidenten vom 22. Februar 1935 auf
und wies das Armenrechtsgesuch des Rekurrenten ab.
B. - Gegen diesen Entscheid hat Limacher die staatsrechtliche Beschwerde
ergriffen mit dem Antrag, er sei aufzuheben und ihm das Armenrecht zu
gewähren. Der Rekurrent beruft sich auf Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV....
C. - Die Justizkommission hat die Abweisung der Beschwerde beantragt....

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Der Rekursbeklagte hat ebenfalls den Antrag gestellt, die Beschwerde sei
abzuweisen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
...
3.- Für die Erteilung des Armenrechts ist nicht ausschliesslich das kantonale
Recht massgebend; denn nach der feststehenden Rechtsprechung des
Bundesgerichts folgt das Recht der armen Partei, die einen für sie nicht
aussichtslosen Zivilprozess führen will, auf unentgeltliche Rechtshilfe
bereits aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV, dem hier jedem Bürger gewährleisteten staatlichen
Rechtsschutz. Danach dürfen an ein Armenrechtsgesuch keine Anforderungen
gestellt werden, die nicht durch höhere schutzwürdige Interessen des Staates
oder der Gegenpartei, durch die Prozessdisziplin, gerechtfertigt sind, also
insbesondere nicht solche, die bloss einen leeren Formalismus bilden (vgl. BGE
60 I S. 182 ff.). Es kann dahingestellt bleiben, ob es danach angeht, ein
Armenrechtsgesuch für das Verfahren vor einer bestimmten Instanz regelmässig
nur beim Beginn und im weitern Verlauf bloss noch dann zuzulassen, wenn sich
seither die Verhältnisse wesentlich verändert haben (vgl. das zitierte Urteil
S. 183). Auf jeden Fall darf eine solche Einschränkung nicht derart überspannt
werden, dass sie als leerer Formalismus erscheint. Es leuchtet ein, dass eine
Klagpartei, wenn sie für das ganze ordentliche Verfahren vor dem Amtsgericht
das Armenrecht erlangen will, dieses spätestens mit der Einreichung der
Klageschrift im Sinne des § 101 ZPO begehren muss; denn in diesem Zeitpunkt
hat der Kläger den Gerichtskostenvorschuss nach § 17 des
Gerichtskostengesetzes zu leisten, wenn er nicht das Armenrecht verlangt
(Maximen 1927 Nr. 511). Dagegen liegt der beklagten Partei bei der
schriftlichen Antwort keine Kostenvorschusspflicht ob; eine solche tritt für
sie erst nach § 298 ZPO ein, wenn auf ihr Gesuch Beweismassnahmen angeordnet
werden. Immerhin muss der Beklagte womöglich

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schon in der schriftlichen Antwort für die von ihm vorgebrachten Tatsachen den
Beweis anbieten; darauf hat das Gericht sich über dessen Abnahme schlüssig zu
machen und muss nun wissen, ob es dem Beklagten dafür einen Kostenvorschuss
auflegen darf. Es mag sich daher rechtfertigen, wenn diesem zugemutet wird,
ein Armenrechtsgesuch schon mit der schriftlichen Antwort und nicht erst nach
dem Beweisdekret zu stellen, da sonst das Verfahren leicht verzögert würde.
Aber auch abgesehen hievon lässt sich annehmen, dass das Gericht ein Interesse
daran habe, am Anfang des Prozesses zu wissen, ob der Beklagte auf eigene
Kosten prozessieren will oder nicht. Das Armenrecht besteht nach den §§ 308
und 309 ZPO nicht nur in der Befreiung von Kosten oder Kostenvorschüssen,
sondern zugleich auch in der Bestellung eines Armenanwaltes, sofern die Partei
nicht imstande ist, ihre Sache selbst vor Gericht zu verfechten (vgl. BGE 60 I
S. 13
ff.). Diese Massnahme muss zweckmässigerweise in der Regel beim Beginn
des Prozesses erfolgen. Es erscheint daher vom Gesichtspunkt des Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV aus
nicht von vornherein als unzulässig, wenn man dem Beklagten vorschreibt, das
Armenrechtsgesuch mit seiner ersten Prozesseingabe, der schriftlichen Antwort,
oder innert der ihm dafür angesetzten Frist zu stellen. Dagegen ist auf jeden
Fall nicht einzusehen, welches schutzwürdige Interesse das Gericht oder der
Kläger daran haben sollte, dass es schon vorher geschehe, z. B. innert der von
§ 105 ZPO vorgesehenen Maximalfrist, auch wenn dem Beklagten zur Antwort eine
längere Frist eingeräumt worden ist. In einem solchen Fall wartet das Gericht
wenigstens bis zum Ablauf dieser längern Frist mit weitern Prozesshandlungen,
so dass es leerer Formalismus ist, ein bis dahin gestelltes Armenrechtsgesuch
nur deshalb zurückzuweisen, weil die Maximalfrist des § 105 ZPO abgelaufen
ist. Sollte auch eine solche Ordnung im Sinne des kantonalen Rechtes liegen,
so würde sie doch gegen die in Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV enthaltene Garantie des Armenrechts
verstossen (BGE 60 I S. 185 f.).

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Der angefochtene Entscheid ist daher aufzuheben und die Justizkommission
einzuladen, dem Rekurrenten das Armenrecht zu gewähren.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid der Justizkommission des
Obergerichts des Kantons Luzern vom 16. März 1935 aufgehoben und diese Behörde
eingeladen, dem Rekurrenten das Armenrecht zu erteilen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 61 I 234
Datum : 01. Januar 1935
Publiziert : 18. Juli 1935
Quelle : Bundesgericht
Status : 61 I 234
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : An ein Armenrechtsgesuch dürfen nach Art. 4 BV keine Anforderungen gestellt werden, die bloss einen...


Gesetzesregister
BV: 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BGE Register
60-I-12 • 60-I-179 • 61-I-234
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