S. 203 / Nr. 28 Bundesstrafrecht (d)

BGE 61 I 203

28. Urteil des Kassationshofes vom 28. Mai 1935 i. S. Schweiz.
Bundesanwaltschaft gegen Eberli u. Kons.

Regeste:
Fahrlässige Gefährdung des Eisenbahnverkehrs. Rev. Art. 67 BStrR.
Der Umstand, dass die Gefahr durch das Eingreifen anderer Personen
pflichtgemäss abgewendet wurde, schliesst den Tatbestand der strafbaren
Gefährdung nicht ohne weiteres aus.
Dieser Tatbestand liegt aber nicht vor, wenn der Beschuldigte aus irgendeinem
Grunde von dem Verhalten, das zu einer Gefährdung hätte führen können,
abgestanden ist, bevor sich eine nahe und ernstliche Gefahr einstellte.

A. - Der nach Fahrplan um 13 Uhr 01 von Sargans her im Bahnhof Rorschach,
Geleise V, eintreffende Zug 3544 führt an der Spitze einen Postwagen, der nach
beendigtem Auslad auf das Geleise VI zu stellen ist. Das geschieht in der
Weise, dass die Zugslokomotive den Postwagen vorwärts und über ein
Verbindungsgeleise hinüberzieht, das

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durch die Weiche 21 an das Geleise V und durch die Weiche 17 an das Geleise VI
angeschlossen ist. Auf dem Geleise VI wird dann der Postwagen hinter die
Weiche 17 zurückgeschoben, wodurch die Bahn für den auf dem nämlichen Geleise
von St. Gallen her kommenden Gegenzug frei wird, der über das betreffende
Verbindungsgeleise und dessen Fortsetzung nach dem Hauptgeleise III zu fahren
hat, wo er nach Fahrplan um 13 Uhr 12 einfahren soll.
B. - Am 2. Januar 1934 war zufolge einer Verspätung des Zuges 3544 der
Postwagen erst um 13 Uhr 10 ausgeladen. Der Rangierarbeiter Eberli gab nun dem
Lokomotivpersonal (Führer Diehl und Heizer Dietz) Weisung, mit dem Postwagen
vorzufahren, und dieser Weisung wurde stattgegeben, obschon das Rangiersignal
auf Verbot und die Abzweigweiche 21 feindlich stand und es Pflicht aller drei
Bahnbeamten gewesen wäre, sich vor Abgabe bezw. Ausführung der Weisung zum
Vorfahren über die Stellung des Rangiersignals und der Abzweigweiche
Rechenschaft zu geben. Mittlerweile fuhr auf dem Geleise VI -
vorschriftsgemäss mit einer blossen Geschwindigkeit von 30 km/St. - der
Gegenzug heran, dem die Einfahrt frei gegeben worden war. Die auf dem
Stellwerk III nahe der Weiche 17 stationierten Wärter wurden indessen des
unrichtigen Manövers gewahr, als die Lokomotive mit dem Postwagen sich der
Weiche 21 näherte und sie aufzuschneiden drohte, und sie gaben durch Winken
mit roten Flaggen, Rufe und Pfiffe Zeichen zum Anhalten, worauf die Lokomotive
auf der Weiche 21 ohne Beschädigung zum Stehen gebracht wurde; Diehl und Dietz
wollen übrigens schon von sich aus den Gegenzug bemerkt und Anstalten zum
Anhalten getroffen haben. Anderseits hielt auch der Gegenzug an, dessen
Lokomotivführer sowohl die unrichtig auf das Verbindungsgeleise zufahrende
Lokomotive mit dem Postwagen wie auch die Haltzeichen der Stellwerkwärter
beobachtet hatte. Nach dem Anhalten betrug der Abstand der beiden Lokomotiven
- diejenige des St. Galler Zuges war auf der Weiche 17 a, also noch vor dem

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Verbindungsgeleise, zum Stehen gekommen - noch etwa 70 Meter. Diehl fuhr nun
hinter das Profil der Weiche 21 zurück, so dass der Gegenzug seine Fahrt
fortsetzen konnte. Durch den Vorfall ist weder ein Schaden noch eine Störung
des Zugsverkehrs verursacht worden.
C. - Eberli, Diehl und Dietz sind der fahrlässigen Eisenbahngefährdung
beschuldigt und in Strafuntersuchung gezogen, jedoch von beiden kantonalen
Gerichtsinstanzen freigesprochen worden. Gegen das Urteil des Kantonsgerichtes
des Kantons St. Gallen vom 8. Oktober 1934 hat die Bundesanwaltschaft beim
Bundesgericht Nichtigkeitsbeschwerde erhoben mit dem Antrag auf Aufhebung des
kantonalen Urteils und Rückweisung der Sache zu neuer Entscheidung (im Sinne
der Verurteilung). Die Nichtigkeitsbeklagten beantragen Abweisung der
Nichtigkeitsbeschwerde.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
Kein Zweifel ist, dass die Beschuldigten gegen Betriebsvorschriften verstossen
und dabei fahrlässig gehandelt haben, wofür sie disziplinarisch zur
Verantwortung gezogen werden können. Die Begehung einer fahrlässigen
Gefährdung der Sicherheit des Eisenbahnverkehrs im Sinne des revidierten Art.
67 des Bundesstrafrechtes konnte das Kantonsgericht jedoch auf Grund seiner
tatsächlichen Feststellungen ohne Rechtsverletzung verneinen. Es hat seiner
Entscheidung den vom Bundesgericht anerkannten Grundsatz zugrunde gelegt, dass
«der Gefährdungsbegriff des Gefährdungsdeliktes und speziell der
Eisenbahngefährdung die nahe Möglichkeit, das ist die Wahrscheinlichkeit des
Schadeneintrittes, voraussetzt» (BGE 58 I Nr. 35), und ist zum Schlusse
gelangt, hier habe nur eine entfernte Gefährdung vorgelegen, die den
gesetzlichen Gefährdungstatbestand nicht zu erfüllen vermöge. Gegenüber der
zusammenfassenden Würdigung des Beweisergebnisses dahin, dass die
Verwirklichung der Gefahr hier nicht durch Zufall, sondern durch das
Funktionieren des normalen

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bahndienstlichen Apparates verhindert worden sei, erheben sich freilich
Bedenken. Ist das Verhalten eines Beschuldigten an und für sich nach den
konkreten Umständen geeignet, eine erhebliche Schädigung herbeizuführen - wie
es bei Missachtung eines Verbotsignales sehr wohl zutreffen kann -, so ist
damit auch die nahe Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit des Schadeneintrittes
im Sinne des gesetzlichen Tatbestandes gegeben, indem nicht etwa eine
mathematische Wahrscheinlichkeit von mehr als 50% vorausgesetzt werden darf;
und zur Entkräftung dieses Gefährdungstatbestandes genügt nicht ohne weiteres
der Hinweis auf die Pflichten anderer Bahnorgane, wenn auch freilich mit deren
Erfüllung soll gerechnet werden können. Jedenfalls dürfte im vorliegenden
Falle in der Aufmerksamkeitspflicht der Stellwerkwärter wie auch des
Lokomotivführers des St. Galler Zuges nicht unbedingt, von vornherein, eine so
sicher und prompt wirkende Sicherung zu sehen sein, dass das Befahren einer
auf Kreuzung stehenden Weiche, zumal in Missachtung des Verbotsignals, nicht
mehr als gefährdendes Verhalten zu bezeichnen wäre, sofern im übrigen die
Voraussetzungen einer solchen Beurteilung vorliegen sollten. Wenn diese
Übertretungen möglich waren, so war natürlich auch eine augenblickliche
Unaufmerksamkeit (oder Abhaltung) der Stellwerkwärter oder des
Lokomotivführers des Gegenzuges möglich, die ja immerhin nicht ohne weiteres
darauf gefasst zu sein brauchten, dass die Beschuldigten die Signalstellung
wie auch die Stellung der Weiche 21 ausser acht lassen und das dem Gegenzug
freigegebene Verbindungsgeleise befahren möchten. Hätten jene Drittpersonen
gleichfalls versagt und wäre es zufolge Weiterfahrens der Beschuldigten zu
einer Schädigung gekommen, so vermöchten sich die Beschuldigten nicht damit zu
rechtfertigen, dass normalerweise mit einem rechtzeitigen Eingreifen der
Wärter und einem frühern Anhalten des St. Galler Zuges zu rechnen gewesen
wäre. Demgemäss wäre auch die Gefährdung gegeben, wenn die Verwirklichung
einer

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nahen Schadensgefahr eben nur dank der prompten Pflichterfüllung durch jene
andern Funktionäre verhütet worden wäre. So verhält es sich jedoch nicht. Die
Beschuldigten haben ja das Verbindungsgeleise nur gerade noch mit der
Lokomotive befahren und sie auf der Abzweigweiche zu stellen vermocht, von wo
aus sie nach der Feststellung des Kantonsgerichtes durch Zurückfahren um bloss
3 bis 4 Meter das Verbindungsgeleise freigeben und so die Gefahr bannen
konnten. Ein weiteres Verhalten fällt ihnen nicht zur Last, gleichgültig, ob
sie von sich aus oder erst auf die Haltzeichen der Wärter hin angehalten
haben; denn auch bei Gefährdungsvergehen fällt nur das wirkliche Verhalten in
Betracht, und niemals ein weiteres Verhalten, zu dem es aus irgendeinem Grund
gar nicht gekommen ist. Hätten die Beschuldigten bereits in angemessener
Entfernung vor der erwähnten Abzweigweiche angehalten, sei es auch zufolge
eines Zufalles, so hätten sie offenkundig keine Gefährdung begangen. Da sie
die Lokomotive erst auf der Weiche zum Stehen gebracht haben, ist dies nicht
derart zweifelsfrei; doch führt die genauere Betrachtung auch bei diesem
Verlauf zum gleichen Ergebnis. Zweck des Anhaltens war die Verhütung der
erkannten Gefahr; es ist daher nicht zu bezweifeln, dass die Beschuldigten
unter allen Umständen sofort zurückgefahren wären. Somit bestand aber im
Augenblick des Befahrens der Weiche mit Rücksicht auf die Entfernung des
Gegenzuges noch keine nahe und ernstliche Gefahr, ganz abgesehen davon, dass
die Lokomotive mit dem Postwagen vom Führerstand des Gegenzuges aus am
hellichten Tage ungleich stärker als Hindernis erkennbar war als etwa bloss
eine unrichtig gestellte Weiche. Ist demnach nicht nur ein Schadeneintritt,
sondern schon eine rechtserhebliche Gefahr verhütet worden, so erweist sich
der Freispruch als gerechtfertigt.
Demnach erkennt der Kassationshof: Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 61 I 203
Datum : 01. Januar 1935
Publiziert : 28. Mai 1935
Quelle : Bundesgericht
Status : 61 I 203
Sachgebiet : BGE - Strafrecht und Strafvollzug
Gegenstand : Fahrlässige Gefährdung des Eisenbahnverkehrs. Rev. Art. 67 BStrR.Der Umstand, dass die Gefahr durch...


BGE Register
61-I-203
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