S. 147 / Nr. 19 Beamtenrecht (d)
BGE 61 I 147
19. Urteil vom 9. Mai 1935 i. S. J. R. gegen eidg. Versicherungskasse.
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Regeste:
Witwerrente.
1. Anspruch auf eine Witwerrente (Art. 34 Stat. Vers.-Kasse) hat der
überlebende Ehemann einer Versicherten, der bei deren Tod dauernd
erwerbsunfähig, d. h. unfähig ist, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
2. Darauf, ob er tatsächlich eine Erwerbstätigkeit ausübt, kommt es nicht an.
A. - Der Kläger, der heute 59 Jahre alt ist, hat früher im Dienste der
Gotthardbahn gestanden und war auf den 1. Oktober 1906 pensioniert worden. Er
bezieht eine Jahrespension von 1632 Fr. Er ist Verwalter der
Elektrizitätskasse der Gemeinde X, wofür er mit 800 Fr. entschädigt wird.
Ausserdem leistet er Aushilfsdienste im Postbureau X, das von seinem Sohn als
Posthalter gegen eine Pauschalentschädigung geführt wird. Diese belief sich
1932 auf 6361 Fr.
Nach dem Tode seiner Frau (25. April 1934), die als pensionierte Posthalterin
eine Pension von 2368 Fr. 20 Cts. bezogen hatte, beanspruchte der Kläger die
Ausrichtung einer Witwerrente nach Art. 34 der Statuten der Versicherungskasse
für die eidgenössischen Beamten, Angestellten und Arbeiter. Das Begehren ist
von der Direktion der Versicherungskasse abgewiesen worden, weil die
Voraussetzung für die Rente, dauernde Erwerbsunfähigkeit des
Rentenansprechers, nicht erfüllt sei. Eine Untersuchung durch den
Vertrauensarzt hatte ergeben, dass der Kläger zwar an einer Leber-Zirrhose
leidet, die er sich durch chronischen Alkoholgenuss (3-4 Zweier im Tag)
zugezogen hat, aber deswegen nicht arbeitsunfähig ist. Der Arzt schätzt die
Arbeitsfähigkeit für Bureauarbeiten und dergleichen auf 1/2 - 2/3, sie
schwanke nach
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der momentanen Alkoholschädigung. «Von einer dauernden Erwerbsunfähigkeit kann
keine Rede sein. R. hat es übrigens selbst in der Hand, durch zweckmässige
Lebensweise seine Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Ich habe ihm von der Art der
Krankheit Mitteilung gemacht und Abstinenz empfohlen.» Gestützt auf diesen
Arztbefund hatte auch der Oberarzt der allgemeinen Bundesverwaltung das
Vorliegen dauernder Invalidität verneint.
B. - Mit Klageschrift vom 22. Dezember 1934 erhebt der Kläger Anspruch auf
Ausrichtung einer Witwerrente von jährlich 1184 Fr. 10 Cts., zahlbar in
monatlichen Raten seit dem 1. Mai 1934, eventuell in einem gerichtlich zu
bestimmenden Betrag, unter Kostenfolge für die beklagte Versicherungskasse.
Zur Begründung wird ausgeführt, der Kläger sei beim Tode seiner Frau dauernd
erwerbsunfähig gewesen. Er leide nach dem Gutachten des Vertrauensarztes der
Bundesverwaltung an einer Leber-Zirrhose, müsse sich demzufolge durch einen
Spezialisten behandeln lassen und Diät halten. Seine körperlichen und
geistigen Fähigkeiten seien zufolge seiner Krankheit und seines Alters so
herabgesetzt, dass er unmöglich den Anforderungen des Erwerbslebens genügen
könnte. Die geringfügige Hilfeleistung beim Posthalterdienst seines Sohnes sei
nur auf Grund der verwandtschaftlichen Beziehungen möglich und deshalb kein
Indiz für Erwerbsfähigkeit. Ähnlich verhalte es sich mit seiner Tätigkeit als
Verwalter der Gemeinde-Elektrizitätskasse X, eines Postens, der ihm übertragen
worden sei, als er noch wesentlich leistungsfähiger war, und den er
möglicherweise verlieren werde, da er jetzt gezwungen sei, für gewisse damit
verbundene Arbeiten eine Hilfe beizuziehen. In seinem Alter sei die
Erwerbstätigkeit erschwert, da er nicht auf seinem Beruf arbeiten könne. Dazu
komme, dass er an einer chronischen Krankheit leide, die ihn schwäche und in
manchen Beziehungen hindere. Er müsse deshalb als erwerbsunfähig betrachtet
werden. Auf den Umfang der Krankheit für sich allein komme es
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nicht an. - Eventuell wäre ihm wegen Erwerbsfähigkeit von nur 50%, die Hälfte
der eingeklagten Rente zuzusprechen. - Die Rente der Gotthardbahn, die der
Kläger seit 1906 bezieht, reiche nicht aus. Dazu komme seine schwierige
finanzielle Lage, die Krankheit seiner Frau habe grosse Kosten verursacht, er
habe von daher heute noch 5000 Fr. Schulden. Der Kläger wäre auf fremde Hilfe,
ja öffentliche Armenunterstützung angewiesen, wenn ihm die Witwerrente
verweigert werden sollte. Dass der Kläger eine Rente von der Gotthardbahn
beziehe, sei kein Grund die eingeklagte Witwerrente abzulehnen.
Die Versicherungskasse für die eidgenössischen Beamten, Angestellten und
Arbeiter hat Abweisung der Klage unter Kostenfolge beantragt.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Art. 34 der Kassenstatuten ordnet die Ausrichtung einer Witwerrente nur an,
wenn der überlebende Ehemann einer Versicherten bei deren Tod dauernd
erwerbsunfähig ist (vgl. WIMMER in Zeitschr. f. Schweiz. Recht, n. F. 52 S.
268). Die Erwerbsunfähigkeit im Sinne dieser Bestimmung braucht nicht eine
absolute zu sein, derart, dass der Witwer überhaupt zu keiner Erwerbstätigkeit
fähig sein müsste, damit er Anspruch auf die Rente erheben kann. Auch wenn man
schon eine verminderte Erwerbsfähigkeit als Voraussetzung für die Anwendung
von Art. 34 der Kassenstatuten genügen lässt, was im französischen Wortlaut
der Bestimmung zum Ausdruck kommt (incapacité permanente de gagner sa vie),
und dem Zweck der Anordnung entspricht, so muss die Beeinträchtigung der
Erwerbsfähigkeit doch jedenfalls eine erhebliche sein. Die Witwerrente ist
vorgesehen für Fälle, in denen der überlebende Ehemann nicht fähig ist, seinen
Lebensunterhalt selbst zu verdienen.
Beim Kläger hat die ärztliche Untersuchung ergeben, dass gegenwärtig eine
gewisse Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit vorhanden ist, sie wird auf etwa
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50% geschätzt im Hinblick auf Bureauarbeiten. Sie schwanke etwas nach der
momentanen Alkoholschädigung und könne durch zweckmässige Lebensweise,
besonders durch Aufgabe des chronischen Alkoholgenusses, noch vermindert
werden. Es wäre also medizinisch betrachtet, bei sachgemässem Verhalten des
Klägers, und dieses darf von ihm verlangt werden, eine Arbeitsfähigkeit von
ungefähr 70%, eher mehr, anzunehmen. Die Arbeitsfähigkeit des Klägers ist also
jedenfalls nicht wesentlich beeinträchtigt.
Die Schätzung des Arztes bezieht sich auf Bureauarbeiten, also auf das Gebiet,
auf dem sich der Kläger schon bisher betätigt hat (Verwalter einer
Gemeindekasse und Mitwirkung bei der Besorgung des Postbureaus seines Sohnes).
Es handelt sich also nicht um eine Tätigkeit ausserhalb seines Berufes, wie in
der Klage angedeutet wird. Jedenfalls ist es eine Beschäftigung, die dem
Kläger unter heutigen Verhältnissen zugemutet werden darf. Sein früherer,
längst aufgegebener Beruf als Lokomotivführer kommt natürlich nicht in
Betracht.
Das Gesetz stellt darauf ab, ob der Witwer erwerbsfähig ist, und nicht darauf,
ob er tatsächlich eine Erwerbstätigkeit ausübt. Auf die Behauptung des
Klägers, er werde voraussichtlich in absehbarer Zeit seine bisherigen
Beschäftigungen verlieren, kommt es nicht an. Die Witwerrente ist keine
Arbeitslosenversicherung. Die Behauptung, die Stelle als Kassenverwalter werde
dem Kläger möglicherweise nächstens entzogen werden, ist übrigens nur mit
seiner geminderten Leistungsfähigkeit begründet werden; nach den
Feststellungen des Arztes hat es der Kläger jedoch in der Hand, seine
Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Die Hilfe im Postbureau seines Sohnes ist
sodann nicht, wie behauptet worden ist, eine Tätigkeit, die einzig auf
verwandtschaftlichen Beziehungen beruht und mit seiner Leistungsfähigkeit
nichts zu tun hätte. Es handelt sich dabei zum Teil um den Schalterdienst
während der Abwesenheit des Posthalters, dem auch die Postzustellung
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obliegt, also um eine richtige Stellvertretung im Postbureau, die als
Erwerbstätigkeit charakterisiert werden muss, wobei allerdings in der Regel in
erster Linie Familienangehörige beigezogen zu werden pflegen.
Der Kläger ist also jedenfalls nicht unfähig, seinen Lebensunterhalt zu
verdienen. Dabei darf auch mit in Betracht gezogen werden, dass der Kläger als
Pensionierter der Gotthardbahn eine Rente bezieht. Diese Rente repräsentiert
einen Teil seiner Arbeitsfähigkeit und ist deshalb bei der Frage, ob man es
mit einem Erwerbsunfähigen zu tun hat, zu berücksichtigen. Damit soll nicht
gesagt sein, dass einem Rentenbezüger eine Witwerrente unter allen Umständen
zu verweigern ist. Dagegen wäre es hier, wo die Erwerbsfähigkeit noch in
erheblichem Masse vorhanden ist, unrichtig ausser Acht zu lassen, dass der
Kläger auf Grund seiner frühern Beschäftigung im Bahndienst bereits eine Rente
geniesst.
Die Zuerkennung eines Teils der Witwerrente kann nicht in Frage kommen, das
Gesetz sieht sie nicht vor. Es wären übrigens auch keine Gründe ersichtlich,
mit denen gerade hier eine solche Massnahme zu rechtfertigen wäre.
Dass der Kläger durch die Krankheit seiner Frau finanziell in Rückstand
geraten ist, kann bei der Frage, ob Art. 34 Kassenstatuten auf ihn zutrifft,
nicht in Erwägung gezogen werden. Auch die Ausführungen der Klageschrift über
die Prämienleistungen versicherter Ehefrauen sind hier ohne Bedeutung. Die
Statuten haben die Verhältnisse, die die Klage in diesem Zusammenhang berührt,
in andern Beziehungen berücksichtigt, nicht bei der Witwerrente, die nach der
geltenden Ordnung überhaupt als eine Ausnahme gedacht und in den Statuten auf
einen bestimmt umschriebenen Fall beschränkt ist.
Demnach erkennt das Bundesgericht: Die Klage wird abgewiesen.