S. 416 / Nr. 68 Obligationenrecht (d)

BGE 60 II 416

68. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 13. November 1934 i. S.
Frey-Gloor gegen Frey und Frey-Wildi.

Regeste:
Motorfahrzeugunfall. Zusammenstoss zwischen Motorradfahrer und Automobil, der
im wesentlichen durch einen vorherigen Zusammenstoss eines andern
Motorradfahrers mit dem nämlichen Automobil herbeigeführt worden ist.
1. Mittelbare Verursachung und adäquater Kausalzusammenhang. Erw. 1.
2. Abwägung des Verschuldens. Erw. 2.


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A. - Am 23. Oktober 1932, einem Sonntag, sind die beiden Brüder Ernst und
Gottlieb Frey, sowie der Engländer Michael d'Oyly Carte auf der Strasse
zwischen Suhr und Hunzenschwil tötlich verunglückt.
Die Brüder Frey, die vorher in verschiedenen Wirtschaften gewesen waren,
fuhren auf ihren Motorrädern mit einer Geschwindigkeit von mindestens 60
km/Std. von Suhr gegen Hunzenschwil zu. Ernst Frey fuhr voraus, während ihm
sein Bruder Gottlieb in einem Abstand von ca. 30-40 m folgte. In der
Rechtskurve vor dem sog. Rennrain wurde Ernst Frey infolge seiner zu grossen
Geschwindigkeit nach links abgetrieben und fuhr eine Zeit lang auf der links
neben der Strasse gelegenen Wiese, lenkte hierauf wieder in die dort gerade
verlaufende Strasse ein, bewegte sich zunächst auf der linken Strassenseite
vorwärts und wollte dann die rechte Strassenseite zurückgewinnen. Zu gleicher
Zeit kam aus der entgegengesetzten Richtung d'Oyly Carte in seinem Automobil
herangefahren. Er fuhr auf der rechten Strassenseite, mit einer
Geschwindigkeit, die von Zeugen auf 70 und noch mehr km/Std. geschätzt wurde.
Im Augenblick, als Ernst Frey von der linken wieder auf die rechte
Strassenseite abschwenken wollte, stiess er mit dem Automobil des Engländers
zusammen, das dadurch auf die linke Strassenseite geschleudert wurde. In diese
Situation hinein fuhr Gottlieb Frey, der vorschriftsgemäss rechts hielt,
stiess ebenfalls mit dem Automobil zusammen und kam etwa 20 m weiter zu Fall.
Der Automobilist und die beiden Motorradfahrer erlitten schwere Verletzungen,
an deren Folgen der erstere auf der Stelle, Ernst Frey noch in der folgenden
Nacht und Gottlieb Frey zwei Tage später starben. Die Fahrzeuge wurden stark
beschädigt.
B. - Mit der vorliegenden, am 15. Mai 1933 eingereichten Klage hat die Witwe
Gottlieb Freys, Hedwig Frey-Gloor, gegen die Eltern Frey als gesetzliche Erben
des Ernst Frey Bezahlung von 32000 Fr. nebst 5% Zins seit 23. Oktober 1932
verlangt.

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Die Beklagten haben Abweisung der Klage beantragt.
C. - Vom Bezirksgericht Lenzburg ist die Klage bis zum Betrage von 20658 Fr.
45 Cts. gutgeheissen worden.
Das aargauische Obergericht, an welches beide Parteien appellierten, hat durch
Urteil vom 25. Juni 1934 der Klägerin insgesamt 11780 Fr. mit 5% Zins seit 23.
Oktober 1932 zugesprochen und die Klage im Mehrbetrag abgewiesen.
D. - Gegen das obergerichtliche Urteil haben beide Parteien die Berufung an
das Bundesgericht erklärt. Von der Klägerin wird Gutheissung der Klage in
vollem Umfange, von den Beklagten gänzliche Abweisung beantragt.
E. - Das Bundesgericht hat beide Berufungen abgewiesen, in grundsätzlicher
Hinsicht aus folgenden Erwägungen:
1.- Der ursächliche Zusammenhang zwischen dem tötlichen Unfall Gottlieb Freys
und dem Verhalten seines Bruders Ernst Frey im natürlichen Sinne liegt klar zu
Tage: Indem Ernst Frey nach dem Verlassen der Wiese zunächst auf der linken
Strassenseite, in der Fahrbahn des ihm entgegenkommenden Automobils
weiterfuhr, um dann noch im letzten Augenblick vor dem Automobil nach rechts
abschwenken zu wollen, ist er mit demselben zusammengestossen, und dieser
erste Zusammenstoss ist seinerseits die Ursache dafür geworden, dass das
Automobil auf die andere Strassenseite zu stehen kam und Gottlieb Frey so in
das auf seiner Bahn befindliche Fahrzeug hineinfuhr. Dabei spielte
offensichtlich auch die übersetzte Geschwindigkeit (mindestens 60 km/Std.)
eine bedeutende Rolle, mit der Ernst Frey gefahren ist; sie hat ohne Zweifel
wesentlich zur Wucht des Anpralles beigetragen, durch die das Automobil auf
die andere Strassenseite geschleudert wurde.
Allerdings waren das Linksfahren und die übersetzte Geschwindigkeit Ernst
Freys nicht die einzigen Unfallursachen. Sowohl der Automobilist wie Gottlieb
Frey

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fuhren ebenfalls mit übermässiger Geschwindigkeit, der erstere mit mindestens
70, der zweite mit mindestens 60 km/Std. Das hatte zur Folge, dass einerseits
der Automobilist vor dem ihm entgegenfahrenden Ernst Frey und anderseits
Gottlieb Frey vor dem in seine Fahrbahn geworfenen Automobil nicht mehr
rechtzeitig genug anhalten konnten und ausserdem die Wucht der Zusammenstösse
gesteigert wurde. Bei Gottlieb Frey kommt dazu, dass er gegenüber dem vor ihm
fahrenden Bruder nicht genügend Distanz gehalten hatte, was das rechtzeitige
Anhalten auch zum mindesten erschwerte.
Allein diese Umstände ändern grundsätzlich nichts an der Haftbarkeit Ernst
Freys bezw. seiner Erben. Die Schadenshaftung setzt nach ständiger
Rechtssprechung nicht voraus, dass die Handlung, für die gehaftet wird, die
einzige Ursache des Schadens sei (vgl. BGE 57 II 41). Ebensowenig ist von
Bedeutung, dass das Linksfahren und die übersetzte Geschwindigkeit Ernst Freys
nur mittelbar, über seinen eigenen Zusammenstoss mit dem Automobil, zum Unfall
des Bruders geführt haben; auch eine mittelbare Ursache, d. h. ein früheres
Glied in der Kausalkette kann die Haftung begründen. Voraussetzung ist bei der
mittelbaren wie bei der unmittelbaren Verursachung lediglich, dass die
Handlung nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der Erfahrung des Lebens
geeignet ist, einen Erfolg von der Art des eingetretenen herbeizuführen (sog.
adäquater Kausalzusammenhang; siehe BGE 57 II 36 ff., insbesondere 39 und 41,
sowie die dort angeführten Urteile).
Diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Darüber kann kein Zweifel bestehen,
insofern das Linksfahren und die übersetzte Geschwindigkeit Ernst Freys seinen
eigenen Zusammenstoss mit dem Automobil zur Folge gehabt haben. Fraglich ist
nur, ob der rechtserhebliche, adäquate Kausalzusammenhang auch für den
Zusammenstoss zwischen dem Automobil und Gottlieb Frey gegeben ist. Das muss
aber ebenfalls bejaht werden. Mögen auch unglückliche

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Umstände hinzugekommen sein, so war dieser zweite Zusammenstoss, unter dem
Gesichtspunkte von Ernst Freys Verhalten betrachtet, doch nicht blosser
Zufall. Dieses Verhalten, das den ersten Zusammenstoss zur Hauptsache
ausgelöst hat, barg vielmehr auch die Gefahr des zweiten bereits wesentlich in
sich. Denn es kommt erfahrungsgemäss häufig vor, dass bei Zusammenstössen
eines der kollidierenden Fahrzeuge aus der bisherigen Fahrbahn heraus auf die
andere Strassenseite geworfen wird, zumal wenn sie mit grosser Geschwindigkeit
fahren und dann dementsprechend heftig zusammenprallen; infolgedessen muss,
wenn gleichzeitig auf dieser oder jener Strassenseite noch ein drittes
Fahrzeug mit ebenfalls übermässiger Geschwindigkeit im Anzug ist - was hier
zutraf und dem Ernst Frey bekannt war - nach dem gewöhnlichen Lauf der
Ereignisse mit einer weitern Kollision gerechnet werden.
2.- Damit ist auch schon gesagt, dass Ernst Frey von allen drei Beteiligten
das relativ grösste Verschulden am Tode seines Bruders trifft. Er hat durch
seine übersetzte Geschwindigkeit, vor allem aber durch das äusserst
vorschriftswidrige und gefährliche Linksfahren die grundlegende Ursache zur
ersten und damit mittelbar auch zur zweiten Katastrophe gesetzt. Immerhin
fällt in Betracht, dass der ursächliche Zusammenhang mit der zweiten ein
lockerer war und die Möglichkeit dieses Zusammenstosses nicht in gleich
eindringlicher Weise vorausgesehen zu werden brauchte wie die andere.
Dem Automobilisten und dem Bruder Gottlieb Frey ist anderseits ihre ebenfalls
übersetzte Geschwindigkeit als Verschulden anzurechnen, dem letztern ausserdem
der zu geringe Abstand vom vordern Motorrad, Umstände, welche die Unfälle
begünstigt haben.
Bei der ziffernmässigen Abwägung der Schuld sind die Vorinstanzen zu
verschiedenen Ergebnissen gelangt. Während das Bezirksgericht Ernst Frey mit
60%, Gottlieb Frey und den Automobilisten mit je 20% belastet hat,

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schätzt das Obergericht die Schuld Ernst Freys auf 40%, ohne sich dabei über
die Verteilung der übrigen 60% erschöpfend auszusprechen. Dem Bundesgericht
erscheint die zweitinstanzliche Würdigung jedenfalls im Ergebnis für Ernst
Frey als die zutreffende; sie trägt nicht nur dem Selbstverschulden Gottlieb
Freys und dem Mitverschulden des Automobilisten, sondern auch der
unglücklichen Verkettung der Umstände angemessen Rechnung.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 60 II 416
Datum : 01. Januar 1934
Publiziert : 13. November 1934
Quelle : Bundesgericht
Status : 60 II 416
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Motorfahrzeugunfall. Zusammenstoss zwischen Motorradfahrer und Automobil, der im wesentlichen durch...


BGE Register
57-II-36 • 60-II-416
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