S. 350 / Nr. 54 Prozessrecht (d)

BGE 60 II 350

54. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 12. September 1934 i. S.
Jakob Rohner A.-G. gegen Ritzi & Wagner.


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Regeste:
Art. 63 Ziff. 2 OG: Schriftliche Zusammenfassung der Parteivorbringen im
mündlichen Verfahren. Wesen des mündlichen Verfahrens und Tragweite des Rechts
zur schriftlichen Zusammenfassung.

Die Beklagte wirft der Vorinstanz in erster Linie vor, dass sie durch die
Zurückweisung ihrer Eingaben vom 7. und 12. Juni 1933 sowie ihrer
Gegenbemerkungen zum Gutachten und der an der Hauptverhandlung gestellten
neuen Beweisanträge Art. 63 Ziffer 2 OG verletzt habe. Diese Aussetzungen am
Verfahren sind vorweg zu prüfen.
Nach Art. 63 Ziff. 2 Abs. 2 OG steht in Fällen, wo das Verfahren vor den
kantonalen Gerichten «mündlich» ist und über die für die Urteilsfällung
massgebenden Parteiverhandlungen nicht ein genaues Sitzungsprotokoll geführt,
sondern die Parteivorbringen nur im Urteil festgestellt werden, jeder Partei
das Recht zu, vor Schluss der kantonalen Gerichtsverhandlung eine
Zusammenfassung ihrer mündlichen Vorträge zu den Akten zu legen, in welcher
die von ihr gestellten Anträge, die zu deren Begründung angeführten Tatsachen
und rechtlichen Gesichtspunkte, sowie die von ihr angerufenen Beweismittel und
abgegebenen Erklärungen erwähnt werden können.
Voraussetzung für das Recht auf schriftliche Zusammenfassung ist darnach auf
jeden Fall, dass es sich um ein mündliches Verfahren handelt, d.h. um ein
Verfahren, in welchem der für das Urteil massgebende Prozessstoff -
Rechtsbegehren, Behauptungen, Bestreitungen,

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Anerkennungen, Beweisanträge usw. - dem Richter von den Parteien im
wesentlichen mündlich vorgetragen wird (vgl. das nichtpublizierte
bundesgerichtliche Urteil vom 10. November 1931 i. S. Rätushof c. Kiener;
ferner WEISS, Berufung, S. 127); wo das in massgebender Weise durch
schriftliche Eingaben geschieht, ist nicht einzusehen, warum die Parteien von
Bundesrechts wegen einen Anspruch darauf haben sollten, ihre Anbringen vor
Schluss des kantonalen Verfahrens auch noch schriftlich zusammenzufassen.
Das Verfahren vor dem st. gallischen Handelsgericht spielt sich zunächst in
einem Schriftenwechsel ab, der aus Klage und Klageantwort besteht, wozu der
Präsident erforderlichenfalls noch weitere Eingaben gestatten kann. In diesem
Schriftenwechsel wird der Prozesstoff gesammelt und abgeschlossen; neue
Behauptungen und Beweisanträge dürfen in der Hauptverhandlung nur zugelassen
werden, wenn es zur Wahrung wesentlicher Parteiinteressen notwendig erscheint
(Art. 13, 14, 19 Abs. 2 des Gesetzes betreffend das Handelsgericht vom 24. Mai
1918; dazu Art. 189, 193 und 219 des Gesetzes betreffend die Zivilrechtspflege
vom 31. Mai 1900, das gemäss Art. 12 des Handelsgerichtsgesetzes subsidiäre
Anwendung findet). Das Verfahren ist also grundsätzlich kein mündliches im
Sinne von Art. 63 Ziff. 2 OG. Dieser Charakter könnte ihm höchstens insofern
beigelegt werden, als das Handelsgericht neue Behauptungen und Beweisanträge
an der Hauptverhandlung zulässt. Das ist aber hier nicht der Fall gewesen; das
Gericht hat das von der Beklagten neu Vorgebrachte gegenteils als unzulässig
zurückgewiesen. Übrigens ist über die an der Hauptverhandlung gestellten
Beweisanträge ein substanziiertes Protokoll aufgenommen worden, sodass Art. 63
Ziff. 2 OG schon aus diesem Grunde nicht Platz greifen könnte.
Was die Beklagte beanstandet, ist denn auch im Grunde genommen nicht die
Tatsache, dass die Vorinstanz die umstrittene Eingabe nicht entgegengenommen.
Sondern

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dass sie die darin gegen das Beweisdekret erhobenen Einwendungen nicht
berücksichtigt und den neuen Beweisanträgen keine Folge gegeben hat. Allein
mit Art. 63 Ziff. 2 OG hätte das selbst dann nichts zu tun, wenn es sich um
ein mündliches Verfahren handelte. Diese Vorschrift gewährleistet lediglich
das rein formelle Recht der Parteien, eine schriftliche Zusammenfassung ihrer
Vorträge zu den Akten zu geben. Uber die materielle Zulässigkeit der in den
Vorträgen und Eingaben enthaltenen Behauptungen, Einreden, Anträgen usw. ist
damit nichts ausgesagt. Das sind vielmehr Fragen, für die, unter dem Vorbehalt
der einschlägigen bundesrechtlichen Beweisvorschriften, ebensowohl wie im
schriftlichen Verfahren ausschliesslich das kantonale Prozessrecht massgebend
bleibt.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 60 II 350
Datum : 01. Januar 1934
Publiziert : 12. September 1934
Quelle : Bundesgericht
Status : 60 II 350
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Art. 63 Ziff. 2 OG: Schriftliche Zusammenfassung der Parteivorbringen im mündlichen Verfahren...


Gesetzesregister
OG: 63
BGE Register
60-II-350
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