S. 226 / Nr. 35 Obligationenrecht (d)

BGE 60 II 226

35. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 27. Juni 1934 i. S. Werner
gegen Bührer.

Regeste:
Schadenersatz bei Körperverletzung, Art. 46
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 46 - 1 Körperverletzung gibt dem Verletzten Anspruch auf Ersatz der Kosten, sowie auf Entschädigung für die Nachteile gänzlicher oder teilweiser Arbeitsunfähigkeit, unter Berücksichtigung der Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens.
1    Körperverletzung gibt dem Verletzten Anspruch auf Ersatz der Kosten, sowie auf Entschädigung für die Nachteile gänzlicher oder teilweiser Arbeitsunfähigkeit, unter Berücksichtigung der Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens.
2    Sind im Zeitpunkte der Urteilsfällung die Folgen der Verletzung nicht mit hinreichender Sicherheit festzustellen, so kann der Richter bis auf zwei Jahre, vom Tage des Urteils an gerechnet, dessen Abänderung vorbehalten.
OR.
Dem Verletzten kann ein Berufswechsel nicht zugemutet werden, wenn die
Verletzung ausschliesslich auf das Verschulden des andern Teiles
zurückzuführen ist. Berufswechsel einer 14jährigen Bauerntochter.

A. - Am 22. August 1931 sind zwischen Bibern und Thayngen der Beklagte
Heinrich Werner auf seinem Motorvelo und die Klägerin Luise Bührer auf ihrem
Velo zusammengestossen. Die Klägerin fuhr in der Richtung Thayngen, auf der
rechten Strassenseite. Der Beklagte, der an jenem Nachmittage in zwei
Wirtschaften gewesen war, kam nach seiner Angabe mit 40-50, nach der
Darstellung von Zeugen mit 70-80 Std./km aus der entgegengesetzten Richtung
dahergefahren. Bei der Lehmgrube der Zementfabrik Thayngen, wo die Strasse
eine Kurve nach rechts

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macht, verlor er infolge der grossen Geschwindigkeit und des glatt gefahrenen
vordern Pneus die Herrschaft über das Fahrzeug, kam auf die linke
Strassenseite und fuhr direkt in das Fahrrad der Klägerin hinein. Diese
stürzte und erlitt einen linksseitigen Oberschenkelquerbruch und einen
rechtsseitigen Unterschenkelbruch. Sie befand sich bis zum 6. Januar 1932 im
Kantonsspital in Schaffhausen. Nachher war sie noch zwei Monate lang
vollständig und zwei weitere Monate zu 60% arbeitsunfähig. Den bleibenden
Nachteil schätzten die behandelnden Ärzte auf 30 bis 40% der normalen
Arbeitsfähigkeit.
Der Beklagte wurde durch Urteil des Kantonsgerichtes vom 4. Mai 1932 wegen
fahrlässiger Körperverletzung zu acht Tagen Gefängnis verurteilt.
B. - Die am 11. Mai 1918 geborene Klägerin war zur Zeit des Unfalles noch
schulpflichtig. Sie ist die Tochter des Mitklägers Jakob Bührer. Dieser
betreibt in Bibern ein landwirtschaftliches Gewerbe, in welchem die Tochter
ausserhalb der Schulzeit mithalf.
C. - Am 18. Mai 1932 haben Tochter und Vater Bührer gegen Werner vorliegende
Klage eingereicht mit dem Begehren, der Beklagte sei zu folgenden Zahlungen zu
verurteilen:
1. an die Klägerin Luise Bührer: 20112 Fr. mit 5% Zins seit 6. Januar 1932 für
dauernde Invalidität und 3000 Fr. Genugtuung, ferner 185 Fr. für das zerstörte
Fahrrad;
2. an den Kläger Jakob Bührer: für den ihm durch den Arbeitsausfall der
Tochter entstandenen Schaden, für Arztkosten usw. insgesamt 751 Fr.
Der Beklagte beantragte, die Klage des Vaters Bührer sei gänzlich, diejenige
der Tochter insoweit abzuweisen, als sie den Betrag von 4000 Fr. übersteige.
Er hat diesen Betrag inzwischen bezahlt, ebenso ist er für die Spitalkosten
aufgekommen.
D. - Der gerichtliche Experte Dr. med. A. Ritter hat die bleibende
Erwerbseinbusse der Klägerin im

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landwirtschaftlichen Berufe auf 40% geschätzt. Bei einer Beschäftigung, bei
der sie sitzen könnte, würde die Einbusse nach seiner Ansicht eventuell nur
20%, bei ganz günstigen Verhältnissen vielleicht sogar nur 10% betragen.
E. - Das Kantonsgericht von Schaffhausen ist davon ausgegangen, dass der
Anspruch auf Ersatz der Arztkosten und des Kleiderschadens nicht dem Vater,
sondern der Tochter Bührer zustehe und hat der Tochter einen Betrag von
insgesamt 17960 Fr. nebst 5% Zins seit 11. Mai 1932 zuerkannt, nämlich 15084
Fr. für die Erwerbseinbusse, Fr. 3000 Genugtuung, 55 Fr. für die Arztkosten,
50 Fr. für den Kleiderschaden, 185 Fr. für das Fahrrad. Die Klage des Vaters
Bührer ist gänzlich abgewiesen worden.
Das Obergericht, an welches der Beklagte unter Wiederholung des vor
Kantonsgericht gestellten Antrages appellierte, hat das erstinstanzliche
Urteil am 2. Februar 1934 bestätigt mit der Modifikation, dass es unter
Berücksichtigung der vom Beklagten bereits geleisteten Zahlung von 4000 Fr.
den noch zu zahlenden Betrag auf 13960 Fr. festsetzte mit 5% Zins von 17960
Fr. vom 11. Mai 1932 bis 19. Oktober 1932 und von 13960 Fr. ab 20. Oktober
1932.
F. - Gegen dieses Urteil ist vom Beklagten rechtzeitig und in der
vorgeschriebenen Form die Berufung an das Bundesgericht erklärt worden mit dem
Antrag, die Klage der Tochter Bührer sei abzuweisen, soweit sie über den
Betrag von 6946 Fr. hinausgehe.
Diesen Antrag hat er in der Urteilsverhandlung wiederholt.
Die Kläger beantragen Abweisung der Berufung.
Aus den Erwägungen:
Streitig ist vor Bundesgericht materiell nur noch die Höhe der Entschädigung
für die Nachteile der bleibenden teilweisen Arbeitsunfähigkeit. Die Vorinstanz
legt ihrer Berechnung die Behinderung im landwirtschaftlichen Berufe zu Grunde
und schätzt dieselbe gestützt auf das

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Gutachten von Dr. Ritter auf 40%. Das jährliche Einkommen der Klägerin als
Bauersfrau nimmt sie mit 1800 Fr. in Anschlag, die Einbusse demgemäss mit 720
Fr., was nach der 4. Piccard'schen Tabelle einem Kapitalwert von 15084 Fr.
entspreche. Dieser Betrag ist mit Wirkung ab 11. Mai 1932 zu 5% verzinslich
erklärt.
Hieran beanstandet der Beklagte in erster Linie, dass die Vorinstanz auf
diejenige berufliche Tätigkeit abstelle, wo sich die Behinderung am stärksten
auswirke, und dass der Klägerin nicht zugemutet werde, denjenigen Beruf zu
wählen, wo sie am wenigsten behindert sei. Diese Kritik ist nicht begründet.
Wohl gilt als Grundsatz, dass bei einer unerlaubten Handlung der Geschädigte
alles unterlassen muss, was die Folgen verschlimmern könnte, ja dass er
darüber hinaus die an ihm liegenden Vorkehren zu treffen hat, die geeignet
sind, den Schaden zu mildern. Dazu mag bei einer Körperverletzung unter
Umständen auch gehören, dass der Verletzte einen andern Beruf ergreife, in
welchem sich die Invalidität weniger stark auswirkt als in dem bisher
ausgeübten. Voraussetzung ist aber jedenfalls, dass er den Unfall
mitverschuldet oder dass dabei wenigstens teilweise unglückliche Zufälle oder
das Verschulden Dritter eine Rolle gespielt haben. Wenn dagegen der Unfall
ausschliesslich auf das Verschulden des andern Teiles zurückzuführen ist, kann
von einer Verpflichtung zum Berufswechsel keine Rede sein. Es wäre durch
nichts zu rechtfertigen, dem Urheber der Verletzung, dem die volle
Verantwortung für dieselbe zur Last fällt, noch einen Anspruch darauf zu
geben, dass der Verletzte zu seinen Gunsten auf den bisherigen Beruf verzichte
und zu einem neuen übergehe. Eine solche Zumutung an den Verletzten wäre
geradezu unmoralisch und würde gegen jedes Rechtsgefühl verstossen. Der
Beklagte beruft sich für seine Meinung auch zu Unrecht auf OSER-SCHÖNENBERGER,
Art. 46 N. 11. Dort ist ebenfalls ausdrücklich gesagt, dass die Beurteilung
der Frage, ob man soweit gehen dürfe, vom Verletzten die

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Erlernung eines neuen Berufes zu verlangen, von den Umständen abhänge, wozu
natürlich vor allen Dingen die Schuldverhältnisse gerechnet werden müssen.
Dass aber der der Klägerin zugestossene Unfall einzig und allein dem
grobfahrlässigen Verhalten des Beklagten zuzuschreiben ist, steht fest und
wird auch von ihm selber anerkannt.
Der Beklagte wendet nun freilich noch ein, dass es sich hier im Grunde
genommen überhaupt nicht um einen Berufswechsel handle, da die Klägerin zur
Zeit des Unfalles erst ca. 14jährig und noch schulpflichtig gewesen sei,
damals also noch gar keinen Beruf gehabt habe. Dabei übersieht er, dass sie im
landwirtschaftlichen Betriebe ihres Vaters aufgewachsen ist und nach der für
das Bundesgericht verbindlichen Feststellung der Vorinstanz schon seit Jahren
mit viel Geschick und Freude darin mitgeholfen hat. Der landwirtschaftliche
Beruf entspricht also ihrer Neigung und Vorbildung, weshalb er für sie das
Gegebene ist und der Übergang zu einer andern Tätigkeit effektiv einem
Berufswechsel gleichkäme. Ausserdem weist die Vorinstanz mit Recht daraufhin,
dass auch die allgemeinen Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigt
werden müssen. Diese sind aber heute sozusagen auf allen Gebieten ungünstig,
sodass die Klägerin zumal bei ihrer Teilinvalidität mehr Schwierigkeiten
hätte, in einem andern Beruf unterzukommen, als es im landwirtschaftlichen
Betriebe ihres Vaters der Fall ist.
Übrigens hat der Beklagte über die Berufe, welche für die Klägerin noch in
Betracht kommen sollen, und insbesondere über die dort bestehenden
Einkommensverhältnisse keinerlei nähere Angaben gemacht und noch weniger
irgendwelche Unterlagen dafür beigebracht. Das wäre indessen unerlässlich
gewesen, wenn der der Klägerin angeblich zumutbare Berufswechsel hätte in
Rechnung gestellt werden sollen. Zudem scheint der Beklagte sich nicht bewusst
zu sein, dass er die Kosten der Ausbildung für einen andern Beruf zu tragen
hätte, um die sich die Forderung der Klägerin deshalb wieder erhöhen würde.

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Unter diesen Umständen ist mit der Vorinstanz unbedenklich auf den
landwirtschaftlichen Beruf abzustellen. Das Mass, in welchem sich die
Behinderung in diesem Berufe auswirkt, hat die Vorinstanz gestützt auf die
Expertise von Dr. Ritter auf 40% der normalen Arbeitsfähigkeit geschätzt. Das
ist eine Feststellung tatsächlicher Natur, die nicht als aktenwidrig
angefochten wurde und daher gemäss Art. 81
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 46 - 1 Körperverletzung gibt dem Verletzten Anspruch auf Ersatz der Kosten, sowie auf Entschädigung für die Nachteile gänzlicher oder teilweiser Arbeitsunfähigkeit, unter Berücksichtigung der Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens.
1    Körperverletzung gibt dem Verletzten Anspruch auf Ersatz der Kosten, sowie auf Entschädigung für die Nachteile gänzlicher oder teilweiser Arbeitsunfähigkeit, unter Berücksichtigung der Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens.
2    Sind im Zeitpunkte der Urteilsfällung die Folgen der Verletzung nicht mit hinreichender Sicherheit festzustellen, so kann der Richter bis auf zwei Jahre, vom Tage des Urteils an gerechnet, dessen Abänderung vorbehalten.
OG auch für die Entscheidung des
Bundesgerichtes als Grundlage dienen muss.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichtes des Kantons
Schaffhausen vom 2. Februar 1934 bestätigt.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 60 II 226
Datum : 01. Januar 1934
Publiziert : 27. Juni 1934
Quelle : Bundesgericht
Status : 60 II 226
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Schadenersatz bei Körperverletzung, Art. 46 OR.Dem Verletzten kann ein Berufswechsel nicht...


Gesetzesregister
OG: 81
OR: 46
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 46 - 1 Körperverletzung gibt dem Verletzten Anspruch auf Ersatz der Kosten, sowie auf Entschädigung für die Nachteile gänzlicher oder teilweiser Arbeitsunfähigkeit, unter Berücksichtigung der Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens.
1    Körperverletzung gibt dem Verletzten Anspruch auf Ersatz der Kosten, sowie auf Entschädigung für die Nachteile gänzlicher oder teilweiser Arbeitsunfähigkeit, unter Berücksichtigung der Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens.
2    Sind im Zeitpunkte der Urteilsfällung die Folgen der Verletzung nicht mit hinreichender Sicherheit festzustellen, so kann der Richter bis auf zwei Jahre, vom Tage des Urteils an gerechnet, dessen Abänderung vorbehalten.
BGE Register
60-II-226
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
beklagter • vorinstanz • vater • bundesgericht • zins • kantonsgericht • fahrrad • arztkosten • schaden • monat • genugtuung • arbeitsunfähigkeit • entscheid • landwirtschaftsbetrieb • schadenersatz • sachverständiger • berechnung • kapitalwert • ausserhalb • verurteilter
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