S. 263 / Nr. 41 Garantie des Bürgerrechts (d)

BGE 60 I 263

41. Urteil vom 28. September 1934 i. S. von Fliedner gegen Beringen.

Regeste:
Bürgerrecht des Kindes aus der Ehe einer Schweizerin mit einem Russen.
Beweispflicht des Kindes, das einen schweizerischen Heimatschein verlangt, für
den behaupteten Verlust des russischen Bürgerrechts durch den Vater. Bedeutung
des «Nansenpasses» für die Frage der Staatsangehörigkeit eines in der Schweiz
lebenden Russen.

A. - Im Juli 1913 kam der damals 10 Jahre alte russische Staatsbürger
Alexander von Fliedner aus Russland nach der Schweiz. Er blieb hier während
des Krieges und behielt den schweizerischen Wohnsitz auch seither ohne
Unterbruch bis heute bei. Am 28. März 1931 verheiratete er sich in Zürich mit
Anna Bolli, Bürgerin von Beringen (Kt. Schaffhausen). Aus der Ehe ging der am
31. Juli 1932 geborene Sohn Alexander Nicolas von Fliedner, der heutige
Rekurrent, hervor.

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B. - Die Mutter des Rekurrenten ersuchte in der Folge den Gemeinderat Beringen
um Ausstellung eines Heimatscheines für ihren Sohn. Als das Gesuch abgewiesen
wurde, wandte sie sich an das Bundesgericht mit der Bitte, die Gemeinde
Beringen zu beauftragen, den verlangten Heimatschein für den Sohn Alexander zu
beschaffen.
C. - Der Instruktionsrichter des Bundesgerichtes hat Frau von Fliedner auf
Art. 7 des russischen Bundesangehörigkeitsgesetzes vom 22. April 1931
aufmerksam gemacht, wornach «als Staatsangehöriger der UdSSR kraft Geburt eine
Person gilt, wenn im Zeitpunkt ihrer Geburt beide Eltern oder ein Elternteil
Staatsangehörige der UdSSR waren» (BGE 60 I S. 74). Zugleich forderte er sie
auf, sich über einen allfälligen Verlust der russischen Staatsangehörigkeit
durch ihren Mann vor der Geburt des Sohnes auszusprechen. Der Antwort der Frau
von Fliedner ist zu entnehmen: Ihr Mann sei bereits seit dem Jahr 1924/25 im
Besitz eines sogenannten Nansenpasses, welcher im vergangenen Jahr erstmals
erneuert worden sei; das zur Zeit in Kraft stehende russische
Bundesangehörigkeitsgesetz vom 22. April 1931 könne deshalb für ihn nicht mehr
in Frage kommen, «da er ja um diesen Zeitpunkt herum schon die russische
Nationalität seit mehr als sechs Jahren verloren hatte, d. h. mit dem
Zeitpunkt der Ausstellung dieses Nansenpasses staatenlos erklärt wurde».
D. - Die Bürgergemeinde Beringen beantragt die Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung.
1.- Nach ständiger Rechtsprechung kann das Bundesgericht bei Beschwerden wegen
Verweigerung eines Heimatscheins auch die Frage, ob der Beschwerdeführer
Bürger der betreffenden Gemeinde sei, vorfrageweise prüfen. Die Lösung, welche
dabei dieser Frage gegeben wird, hat immerhin nur die Bedeutung eines

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Urteilsmotives. Zu einer endgültigen Entscheidung über das Bestehen oder
Nichtbestehen des bestrittenen Bürgerrechtsverhältnisses durch ein der
Rechtskraft fähiges Urteilsdispositiv ist das Bundesgericht in diesem
Verfahren nicht befugt (vgl. BGE 60 I S. 76/77 und dortige Zitate).
2.- Es ist nicht streitig, dass Frau von Fliedner-Bolli ihr schweizerisches
Bürgerrecht beibehalten hat, weil sie auch dann, wenn ihr Mann bei der
Verheiratung noch Russe war, nach dessen heimatlichem Recht durch die
Verehelichung die russische Staatsangehörigkeit nicht erwarb (vgl. BGE 60 I S.
68
und 77). Auch der heutige Rekurrent, der Sohn Alexander Nicolas von
Fliedner muss daher als Schweizer anerkannt werden, sofern er nicht mit der
Geburt eine andere Staatsangehörigkeit - in Betracht kommt unter den gegebenen
Verhältnissen nur die russische - erhalten hat (BGE 60 I S. 77/78).
3.- Letzteres ist aber nach Art. 7 des russischen Bundesangehörigkeitsgesetzes
vom 22. April 1931 unstreitig der Fall, wenn zur Zeit der Geburt des
Rekurrenten, am 31. Juli 1932, dessen Vater diese seine ursprüngliche
Staatsangehörigkeit noch besass. In Frage kann demnach nur kommen, ob sie ihm,
und zwar schon vor diesem Zeitpunkt, abhanden gekommen sei. Der Beweis dafür
trifft den Rekurrenten und zwar auch was die Bestimmungen des russischen
Rechtes, aus denen eine solche Verwirkung folgen würde, betrifft (Art. 22 OG,
Art. 3 BZO).
4.- Frau von Fliedner hat indessen keine Bestimmung des russischen Rechtes
genannt, nach welcher ihr Mann aus dem russischen Staatsverband ausgeschieden
wäre Sie hat sich darauf beschränkt, den Verlust des russischen Bürgerrechtes
aus der Tatsache der Ausstellung eines «Nansenpasses» abzuleiten. Die
Ausstellung eines solchen Passes erfolgt jedoch offensichtlich nicht in der
Meinung, dass damit das allenfalls noch bestehende russische Bürgerrecht des
Petenten untergehen solle; denn über die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit
zum russischen

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Staatsverband hat nach anerkannter Lehre grundsätzlich nur die russische
Gesetzgebung selber zu bestimmen (BGE 60 I S. 81). Auch fehlen jegliche
Anhaltspunkte dafür, dass etwa der Erteilung des Nansenpasses eine
Untersuchung darüber vorausgehen würde, ob der Petent aus dem russischen
Staatsverband ausgeschieden sei, und dass der Pass nur bei diesem Nachweis
ausgestellt wurde (vgl. über die Institution des Nansenpasses das «Arrangement
relatif à la délivrance des certificats d'identité aux réfugiés russes, signé
à Genève le 5 juillet 1922», veröffentlicht im amtlichen «Recueil des Traités
et des Engagements Internationaux enregistrés par le Secrétariat de la Société
des Nations», Bd. 13 (1922) S. 238 ff.).
5.- Im Entscheid in Sachen L. (60 I S. 67 ff.) hat sich das Bundesgericht für
die Annahme, dass der Vater des damaligen Rekurrenten des russischen
Bürgerrechtes verlustig gegangen sei, auf das sovietrussische Dekret vom 28.
Oktober 1921 (gelegentlich auch als Dekret vom 15. Dezember 1921 bezeichnet),
insbesondere auf dessen Art. 1 gestützt, wo gesagt ist (vgl. BGE 60 I S.
70
/71; Journal du droit international Bd. 52 (1925) S. 551 No. 6):
«Le conseil des commissaires du peuple arrête:
1. Les personnes appartenant aux catégories ci-dessous énumérées et résidant à
l'étranger après la promulgation du présent décret, sont privées du droit de
cité russe:
a) Les personnes ayant séjourné à l'étranger plus de 5 années sans
interruption et qui n'auraient pas repu des représentations soviétiques à
l'étranger, des passeports étrangers ou des certificats correspondants jusqu'à
la date du 1er mars 1922.
Remarque: Le présent délai ne s'étend pas aux pays où il n'existe pas de
représentation de la RSFSR; dans ces pays, ledit délai doit être fixé parés la
création desdites représentations.
b) Les personnes ayant quitté la Russie parés le 7 novembre 1917 sans
l'autorisation du pouvoir soviétique;

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e) Les personnes ne tombant pas sous le coup des paragraphes a) et b) du
présent article et qui, résidant à l'étranger, ne se sont pas fait inscrire
par les représentations de la RSFSR à l'étranger, dans les délais indiqués par
le paragraphe a) et son annexe.»
Auch diese Bestimmungen lassen aber, wenigstens zur Zeit, noch nicht den
Schluss zu, dass der Ehemann Fliedner seine russische Staatsangehörigkeit
verloren habe. Im Falle BGE 60 I S. 67 ff. war lit. b des zitierten Art. 1
anwendbar, weil der Ehemann L. nach dem 7. November 1917 (nämlich im Jahre
1919) ohne Erlaubnis der Sovietbehörden aus Russland geflohen war. Hier trifft
diese Bestimmung nicht zu, da sich von Fliedner schon seit 1913 in der Schweiz
aufhielt. Auch die Verwirkungstatbestände von lit. a) und e) kommen nicht in
Betracht, weil Sovietrussland in der Schweiz keine diplomatische Vertretung
besitzt und demgemäss die im Dekret vorgesehene Frist für das Gebiet der
Schweiz noch nicht zu laufen begonnen hat.
6.- Sollte sich in der Folge herausstellen, dass der Ehemann Fliedner
tatsächlich doch nicht mehr Russe ist und es auch schon bei der Geburt des
Rekurrenten nicht mehr war, etwa weil inzwischen einer der
Verwirkungstatbestände von Art. 1 lit. a) oder e) des erwähnten Erlasses mit
allenfalls rückwirkender Kraft eingetreten ist, so steht es dem Rekurrenten
frei, sein Gesuch um Ausstellung eines schweizerischen Heimatscheins zu
erneuern.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 60 I 263
Datum : 01. Januar 1934
Publiziert : 28. September 1934
Quelle : Bundesgericht
Status : 60 I 263
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : Bürgerrecht des Kindes aus der Ehe einer Schweizerin mit einem Russen. Beweispflicht des Kindes...


Gesetzesregister
OG: 22
BGE Register
60-I-263 • 60-I-67
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
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