S. 468 / Nr. 70 Eisenbahnpflicht (d)
BGE 59 II 468
70. Urteil der II. Zivilabteilung vom 16. November 1933 i. S. Schweizerische
Bundesbahnen gegen Steiger-Barth und Konsorten.
Regeste:
Für Eisenbahnunfälle, von welchen (obligatorisch versicherte) eidg. Postbeamte
bei Ausübung ihres Postdienstes betroffen werden, besteht keine Haftpflicht
der Bahngesellschaft aus EHG [rev. Art. 128 Ziff. 3 KUVG].
A. - Am 8. März 1930 abends verunglückte auf der Station Cham der
Schweizerischen Bundesbahnen der Briefträger Friedrich Steiger tötlich. Er
hatten den Ein- und Auslad der Post bei Zug 2929 zu besorgen und sich zu
diesem Zwecke mit seinem zweirädrigen Handkarren zwischen den Geleisen III und
IV aufgestellt. Zunächst fuhr der Zug 2938 auf Geleise III ein, der eine
Zeitlang manöverierte, dann der Zug 2929 auf Geleise IV. Als die beiden Züge
abgefertigt und ausgefahren waren, fand man Steiger zwischen den Geleisen III
und IV in seinem Blute liegen; sein Handwagen war seitlich umgeworfen, die
Post nicht besorgt. Der Hergang des Unfalles war unbeobachtet geblieben. Von
der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt in Luzern erhält die Witwe des
Verunfallten eine Rente von 30% des auf 4881 Fr. festgesetzten
Jahresverdienstes, ausmachend monatlich 122 Fr.; ferner von der Postverwaltung
auf Grund der Promesse Comtesse eine monatliche Zuschussrente von 40 Fr. 70
Cts.
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B. - Mit der vorliegenden Klage belangt die Witwe gemeinsam mit dem Sohn des
Verunglückten die Schweizerischen Bundesbahnen auf Grund des EHG auf Ersatz
der Bestattungskosten und auf Genugtuungsleistung. Der Sohn klagt ausserdem
auf Ersatz des ihm durch den Wegfall seiner Versorgers entstehenden Schadens;
denn obwohl volljährig und als Coiffeur ausgebildet, sei er infolge
Herzkrankheit nicht in der Lage, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, so dass
die Voraussetzungen für die Unterstützung durch den Vater gegeben gewesen
wären.
Die Schweizerischen Bundesbahnen beantragen, auf die Klage wegen mangelnder
Aktivlegitimation der Kläger nicht einzutreten, eventuell die Klage
abzuweisen.
C. - Das Obergericht des Kantons Zug hat, im wesentlichen in Bestätigung des
kantonsgerichtlichen Urteils, die Anwendbarkeit des EHG bejaht, die den
Klägern zu ersetzenden Bestattungskosten auf 1000 Fr. festgesetzt und die
Schweizerischen Bundesbahnen zu einer bis auf weiteres, längstens jedoch
während 20 Jahren, zahlbaren monatlichen Rente von 60 Fr. an den Zweitkläger
verurteilt, unter Rektifikationsvorbehalt auf die Dauer von 2 Jahren. Das
Genugtuungsbegehren ist abgewiesen worden.
D. - Gegen dieses Urteil haben beide Parteien die Berufung erklärt, die
Beklagten mit dem Antrag auf Nichteintreten, eventuell Abweisung der Klage,
die Kläger mit dem Antrag, die Beklagten zur Leistung einer Genugtuungssumme
von 8000 Fr. und Auszahlung einer Kapitalentschädigung von 15900 Fr. an den
Zweitkläger zu verpflichten.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Die Aktivlegitimation der Kläger wird von den Beklagten zu Unrecht
bestritten. Wenn Ansprüche auf Grund des EHG, wie die Kläger sie geltend
machen, wirklich bestehen, so stehen sie den Klägern und nur ihnen zu. Ob sie
bestehen, ist Sache der einlässlichen
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Untersuchung, die im Falle der Verneinung zur Abweisung der Klage führt.
Übrigens müsste auch die Verneinung der Aktivlegitimation nicht das
Nichteintreten auf die Klage, sondern die materielle Abweisung derselben zur
Folge haben; denn fehlende Aktivlegitimation ist materieller Abweisungsgrund
und nicht Grund zur prozessualen Zurückweisung der Klage.
2.- Durch Art. 128 Ziff. 3 KUVG in der abgeänderten Fassung des
Ergänzungsgesetzes vom 18. Juni 1915 sind das EHG, sowie Art. 95 des
Bundesgesetzes über das Postwesen, vom 5. April 1910, aufgehoben worden,
«soweit sie die Haftpflicht dieser Unternehmungen für Unfälle im Dienst
gegenüber ihren eigenen obligatorisch versicherten Angestellten und Arbeitern
und den bei dem Eisenbahnbau beschäftigten Angestellten und Arbeitern anderer
Unternehmungen betreffen».
Die Beklagten möchten nun die Haftung der Bahn schon deswegen ausschliessen,
weil Steiger nicht im Bahndienst, sondern im Postdienst verunglückt sei.
Zweifellos war der Dienst Steigers Postdienst und hätte auf Grund der
Gesetzgebung vor Inkrafttreten des KUVG die Haftpflicht der Postverwaltung
bestanden. Aber ebenso gewiss war der Unfall nach den verbindlichen
Feststellungen der Vorinstanz ein Eisenbahnunfall im Sinne von Art. 1 EHG, d.
h. ein durch den Bahnbetrieb verursachter Unfall, und hätte daher ehemals auch
der Haftpflichtanspruch gegen die Bahn gerichtet werden können (vgl. BGE 35 II
544). Die beiden Ansprüche hätten im Verhältnis der unechten Solidarität
zueinander gestanden, durch Befriedigung des einen wäre auch der andere
untergegangen. Wäre nun durch rev. Art. 128 KUVG bloss die eine Haftpflicht,
nämlich hier diejenige der Post, durch die Versicherung abgelöst worden, so
würde zwar im Umfang der Versicherungsleistungen auch der Haftpflichtanspruch
gegen die Bahn dahinfallen; aber über jene hinaus würde er bestehen bleiben,
und hier machen die
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Kläger ja gerade den Schaden geltend, der von der SUVAL nicht gedeckt wird.
3.- In Wirklichkeit schliesst aber rev. Art. 128 Ziff. 3 KUVG die Haftpflicht
der Bahn auch für durch die Bahn verursachte Dienstunfälle der
Postangestellten aus.
Der Wortlaut dieser Bestimmung ist allerdings nicht eindeutig, so dass eine am
Buchstaben haftende Auslegung zum Schluss gelangen könnte, die Haftpflicht der
Bahn werde nur gegenüber dem Eisenbahnpersonal aufgehoben. Allein sowohl die
ratio wie auch die Entstehungsgeschichte der Bestimmung lassen keine Zweifel
daran übrig, dass das Gesetz nicht so verstanden werden darf. Vor der Revision
von 1915 lautete die Bestimmung (Art. 128 Abs. 5 KUVG vom 13. Juni 1911), das
EHG und das Postgesetz seien aufgehoben «bezüglich der Unfälle, von denen die
Angestellten oder Arbeiter dieser Unternehmungen betroffen werden». Wäre
damals wirklich beabsichtigt worden, dem obligatorisch versicherten
Postbeamten, der im Dienst das Opfer eines Bahnunfalles wurde, neben den
Versicherungsansprüchen noch den Anspruch aus dem EHG zu wahren, während der
Bahnbeamte im analogen Falle dieses letztern Anspruchs verlustig gehen sollte,
so hätte das ausdrücklich gesagt werden müssen und wäre es zweifellos auch
ausdrücklich gesagt worden. Der Wortlaut der Bestimmung bietet nun nicht den
geringsten Anhaltspunkt dafür, dass eine solche Unterscheidung beabsichtigt
war, und aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes ergibt sich deutlich das
Gegenteil (vgl. das Votum des Berichterstatters Usteri im Ständerat, welcher
ausführte, «dass nach dem Inkrafttreten der Versicherung nur noch Passagiere
der Bahn, Dampfschiff und Post, sowie Drittpersonen unter der Wohltat des EHG
stehen, nicht aber das im Dienste verunfallte Personal», Sten. Bull. 1910 S.
72). Es ist auch kein Grund ersichtlich, welcher eine solche Bevorzugung des
Postpersonals gegenüber dem Eisenbahnpersonal hätte rechtfertigen können. Bei
der Revision von 1915 war nun die Absicht des
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Gesetzgebers lediglich auf eine weitere Einschränkung der Eisenbahnhaftpflicht
gerichtet, die darin zum Ausdruck kam, dass einem weitern Kreis von
obligatorisch versicherten Personen, nämlich den beim Eisenbahnbau und den auf
den Verbindungsgeleisen (zwischen dem schweizerischen Eisenbahnnetz und
gewerblichen Anstalten) beschäftigten Arbeitern und Angestellten anderer
Betriebe bei Eisenbahnunfällen die Ansprüche aus EHG entzogen wurden und zwar
mit der Begründung, es könne «selbstverständlich neben der Versicherung nicht
für eine kleine Kategorie von Personen der Anspruch aus Eisenbahnhaftpflicht
bestehen bleiben, während er für die eigentlichen Eisenbahnarbeiter und
-angestellten ausdrücklich beseitigt wurde» (Botschaft des Bundesrates,
Bundesblatt 1915 I 954). Mit Bezug auf das Eisenbahn- und Postpersonal wurde
der Text insofern geändert, als die Aufhebung der Ansprüche aus EHG
ausdrücklich nur für Unfälle statuiert wurde, die sich im Dienst ereigneten:
damit wollte jedoch keineswegs eine materielle Änderung gegenüber dem
bisherigen Rechtszustand herbeigeführt. sondern nur der Sinn auch des
bisherigen Gesetzes besser zum Ausdruck gebracht werden (vgl. Botschaft des
Bundesrates a.a.O., sowie die Voten der beiden Berichterstatter im
Nationalrat, Sten. Bull. 1915, Seite 120 und 150) Allerdings ist nun im
revidierten Text von der Haftung der Eisenbahn und der Post «gegenüber ihren
eigenen obligatorisch versicherten Angestellten und Arbeitern» die Rede statt
wie bisher von den «Angestellten oder Arbeitern dieser Unternehmungen». Hierin
allein aber eine materielle Änderung zu erblicken, verbietet sich deswegen,
weil eine solche Änderung, wie schon ausgeführt worden, eine durchaus
ungerechtfertigte Besserstellung des Postpersonals gegenüber dem Bahnpersonal
bedeuten würde und die Geschichte der Revision sowenig wie diejenige des
Gesetzes von 1911 irgendwelchen Anhaltspunkt für einen derartigen Willen des
Gesetzgebers enthält, im Gegenteil aus den Vorarbeiten für beide Gesetze die
Auffassung des Gesetzgebers deutlich hervor
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geht, dass sich Ansprüche aus EHG neben Ansprüchen aus obligatorischer
Unfallversicherung nicht rechtfertigen. Diese Auslegung des Art. 128 Ziff. 3
KUVG führt zur
Abweisung der Berufung der Klägerschaft und zur Gutheissung der Berufung der
Beklagten.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Berufung der Klägerschaft wird abgewiesen.
2. Die Berufung der Beklagten wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts
des Kantons Zug vom 19. Juli 1933 aufgehoben und die Klage abgewiesen.