S. 90 / Nr. 18 Beamtenrecht (d)

BGE 59 I 90

18. Urteil der Kammer für Beamtensachen vom 11. Mai 1933 i. S. P. gegen die
Generaldirektion der Post- und Telegraphenverwaltung.

Regeste:
1. Art. 31 Abs. 1 Ziff. 9 Beamtengesetz, Art. 34 VDG: Die Beschwerde wegen
ungerechtfertigter disziplinarischer Entlassung steht dem provisorischen
Beamten nicht zu. Erw. 1.
2. Art. 24 Abs. 1, Statuten der Bundesbeamten-Versicherungskasse (vom 8.
Oktober 1920): Invalidität ist die Unfähigkeit, die Amtspflichten technisch
richtig zu erfüllen. Erw. 2 a.
Art. 24 Abs. 2 Statuten der Bundesbeamten-Versicherungsphase: Diebstahl bei
Ausübung des Amts gilt erst dann als unverschuldeter Entlassungsgrund, wenn
dem Täter das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit fehlte. Erw. 2 b.


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A. - P. war seit dem 1. Juni 1907 Postbeamter. Wegen Unregelmässigkeiten wurde
er vom 1. April bis zum 9. November 1930 im Dienste eingestellt und durch
Disziplinarverfügung vom 9. Dezember 1930 rückwirkend auf den 10. November
1930 ins Provisorium versetzt. Das Strafverfahren wurde eingestellt, weil der
Schaden wieder gutgemacht worden war. Die Disziplinarverfügung blieb
unangefochten.
Im Dezember 1931 wurde erneut eine Strafuntersuchung wegen Postdiebstahls
gegen ihn eröffnet, dann aber am 2. Mai 1932 «wegen mangelnden Beweises der
Zurechnungsfähigkeit» wieder eingestellt, gestützt auf ein psychiatrisches
Gutachten vom 8. März 1932, das zum Schlusse kam:
«Die Zurechnungsfähigkeit des P. war zur Zeit der Begehung der strafbaren
Handlungen in mittlerem bis schwerem Masse vermindert, da seine freie
Willensbestimmung weitgehend eingeschränkt war.»
und auf ein Nachtragsgutachten vom 20. April 1932, mit dem Schluss:
«Es ist also möglich, dass P. nicht nur weitgehend vermindert war in seiner
Zurechnungsfähigkeit beim Begehen seiner strafbaren Handlungen, sondern dass
dabei seine freie Willensbestimmung ganz aufgehoben war.»
Am 24. November 1932 eröffnete ihm die Postverwaltung, dass er auf den
Zeitpunkt seiner Einstellung im Dienst ohne Rentenanspruch entlassen sei, wenn
er nicht binnen zehn Tagen auf den gleichen Zeitpunkt seinen Rücktritt
erkläre. Zur Begründung wurde namentlich ein Gegengutachten des Oberarztes der
Allgemeinen Bundesverwaltung verwendet.
B. - P. trat aber nicht freiwillig vom Amte zurück. Er verlangte vielmehr mit
Eingabe vom 23. Dezember 1932 an das Bundesgericht die Aufhebung der Verfügung
vom 24. November 1932 und die Zuerkennung einer jährlichen Rente gemäss Art.
24 der Statuten der

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Versicherungskasse. Gegen die Entlassung an und für sich wendet er nichts ein,
wohl aber gegen die disziplinarische Entlassung, die unzulässig sei, da ihm
nach der psychiatrischen Expertise bei Begehung der Strafhandlungen die freie
Willensbestimmung völlig gefehlt habe. (Auf das gegenteilige Parteigutachten
des Oberarztes dürfe nicht abgestellt werden, allenfalls sei eine
Oberexpertise anzuordnen.) Als Entschädigung für die ungerechtfertigte
Entlassung sei ihm gemäss Art. 40 VDG eine Invalidenrente nach den Statuten
der Versicherungskasse zuzusprechen. Eventuell sei er wieder anzustellen,
worauf ihn die Verwaltung nach Art. 55 des Beamtengesetzes entlassen und ihm
die Rente gewähren könne.
C. - Die Generaldirektion der Post- und Telegraphenverwaltung schliesst auf
Abweisung der Beschwerde, unter Kostenfolge. Sie macht geltend, die
psychiatrische Expertise nehme in ihren Ausführungen keineswegs völlige
Unzurechnungsfähigkeit an; P. sei auch nicht invalid im Sinne der
Kassenstatuten, da er mit gutem Erfolg sich als Journalist betätige. Sollte er
später in Not geraten, so könne er gemäss Art. 56 des Beamtengesetzes um
freiwillige Unterstützungen nachsuchen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Soweit sich die Eingabe an das Bundesgericht als Beschwerde wegen
ungerechtfertigter disziplinarischer Entlassung darstellt (Art. 31 Abs. 1
Ziff. 9 BG vom 30. Juni 1927 über das Dienstverhältnis der Bundesbeamten; Art.
34 BG vom 11. Juni 1928 über die Verwaltungs- und Disziplinarrechtspflege),
kann auf sie nicht eingetreten werden:
Art. 34 VDG gibt die Disziplinarbeschwerde nur gegen Verfügungen, durch welche
ein Bundesbeamter «während der Amtsdauer», wegen Verletzung seiner
Dienstpflichten entlassen worden ist. Das setzt voraus, dass die Entlassung
einen auf bestimmte Amtsdauer gewählten Beamten trifft (so KIRCHHOFER, Die
Disziplinarrechtspflege,

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Zeitschrift f. schweiz. Recht, N. F. N. 52 S. 18 f.; KEHRLI, Schweiz. Jur.
Ztg., 27 J. S. 370 Sp. 1 unten, unter Hinweis auf Ziff. 19 der Prov. Allg.
Dienstvorschrift der SBB über das Disziplinarwesen, vom 6. Juni 1931).
Dementsprechend wurde (auf Antrag der ständerätlichen Komm. Sten. Bull. 1926
S. 132) in Art. 34 VDG die Disziplinarbeschwerde den auf bestimmte Amtsdauer
gewählten Beamten schon gegen die Versetzung während derselben ins Provisorium
eingeräumt. Die Beschwerde gegen die disziplinarische Entlassung daneben auch
dem provisorischen (dem bereits ins Provisorium zurückversetzten) Beamten
einzuräumen, hätte überdies schon darum keinen Sinn, weil dieser (nach Art. 25
Abs. 3 der Beamtenordnung I vom 24. Oktober 1930 und Art. 20 Abs. 3 der
Beamtenordnung II vom 24. Oktober 1930) jederzeit auf vierzehn Tage entlassen
werden kann und dem fristlos Entlassenen die Klage entweder nach Art. 17 bis a
VDG beim Bundesgericht oder (aus privatrechtlichem Dienstvertrag) bei den
Zivilgerichten auf den Lohn für vierzehn Tage zusteht, wenn er das Bestehen
wichtiger Gründe für die Entlassung ohne Frist bestreitet (vgl. KIRCHHOFER,
a.a.O. S. 19). Stände die Beschwerde gegen eine disziplinarische Entlassung
auch dem provisorischen Beamten offen, so würde das bedeuten, dass die
Verwaltung hier zwischen der Kündigung auf vierzehn Tage und der sofortigen
Entlassung aus wichtigen Gründen nicht frei wählen dürfte (BGE 56 I S. 494),
was angesichts des zeitlich geringen Unterschiedes zwischen den beiden
Entlassungsarten nicht verständlich wäre.
Da P. bei seiner Entlassung in einem provisorischen Dienstverhältnis stand
(Art. 25 Abs. 2 der Beamtenordnung I), so fehlt ihm nach Art. 34 VDG in der
ihm soeben gegebenen Auslegung die Befugnis zur Disziplinarbeschwerde gegen
seine endgültige Entlassung.
2.- Mit der Disziplinarbeschwerde ist aber eine Klage auf Bezahlung einer
Invalidenrente durch die Versicherungskasse verbunden. Auf diese Klage ist
einzutreten,

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auch insofern sie auf die erst in der Replik behauptete Invalidität gestützt
wird. Diese Behauptung ist nicht verspätet, weil die Klagefrist von zwei
Jahren gemäss Art. 17 Abs. 3 der Statuten auch durch das erst in der Replik
Vorgebrachte gewahrt ist.
a) Die Klage ist jedenfalls insoweit unbegründet, als sie sich auf Art. 24
Abs. 1 der Statuten der Versicherungskasse für die eidgenössischen Beamten,
Angestellten und Arbeiter (vom 6. Oktober 1920) stützt. Dauernde Invalidität
im Sinne dieser Vorschrift kann nämlich bei P. deswegen nicht angenommen
werden, weil er sich über den Besitz der körperlichen und geistigen
Fähigkeiten für den Beruf nicht nur eines Postbeamten, sondern auch eines
Journalisten voll ausgewiesen hat. Nichts hinderte ihn, seine
Postbeamtenpflichten technisch richtig zu erfüllen. Darauf kommt es bei Art.
24 Abs. 1 der Statuten an.
b) Zu entscheiden bleibt noch, ob die Klage begründet sei, soweit sie sich auf
Art. 24 Abs. 2 der Statuten stützt. Nach dieser Vorschrift haben solche Beamte
Anspruch auf eine Rente, die nach mindestens fünfzehn Dienstjahren ohne
eigenes Verschulden entlassen worden sind. Dass die von P. begangenen
Postdiebstähle einen Entlassungsgrund dar stellen, wird nicht bestritten. Es
fragt sich nur, ob im Hinblick auf die psychopathische Veranlagung des P.
dieser Entlassungsgrund von ihm selbst verschuldet sei oder nicht.
In dieser Beziehung ist das psychiatrische Gutachten vom 8. März/20. April
1932 nicht ohne weiteres massgebend. Einmal wurde es eingeholt zur Frage der
strafrechtlichen Verantwortlichkeit des P. für die von ihm begangenen
Postdiebstähle, die nicht gleichbedeutend ist mit der andern Frage, ob die
Entlassung wegen dieser Diebstähle seinem eigenen Verschulden im Sinne von
Art. 24 Abs. 2 der Statuten zuzuschreiben sei. Ausserdem hat das Bundesgericht
frei zu untersuchen, «ob die Tatsachen, aus denen der Experte seine Schlüsse
zieht, als nachgewiesen betrachtet werden dürfen» (B1. f. zürch Rechtsprechung
N. F. VII S. 239 2. Sp.).

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Diebstahl bei Ausübung des Amts kann erst dann als unverschuldeter
Entlassungsgrund gelten, wenn dem Täter das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit
fehlte - weil er infolge Geisteskrankheit zu Erwägungen dieser Art überhaupt
nicht fähig ist, oder weil der krankhaft Übersteigerte Aneignungstrieb solche
Erwägungen zeitweise nicht aufkommen lässt (während auch der krankhaft
übersteigerte Aneignungstrieb an sich den Diebstahl solange nicht
entschuldigt, als das noch rege Bewusstsein der Rechtswidrigkeit dem Täter
ermöglicht hätte, dagegen anzukämpfen, vgl. BGE 58 I S. 348).
Dass P. infolge Geisteskrankheit überhaupt nicht mehr fähig gewesen sei, das
Rechtswidrige seines Verhaltens einzusehen, nimmt auch die Expertise nicht an.
Es fragt sich nur, ob der psychopathische Hang zur Aneignung fremder Sachen
bei ihm zeitweise so Übermächtig war, dass diese Einsicht dann überhaupt nicht
aufzukommen vermochte. Soweit geht nun der Experte trotz der speziell im
Nachtrag enthaltenen Schlüsse selber nicht. Es wird wohl gesagt, dass P. zu
gewissen Zeiten «von einer Welle der Unlust (infolge unbefriedigten
krankhaften geltungsbedürfnisses) überrannt werde und dann nicht mehr Herr
seiner selbst» sei. Der hemmende Einfluss der klaren Überlegung falle weg und
sonst durch die Erziehung gebändigte Triebe gewännen die Oberhand. Aber dass
die Einsicht in das Unrechtmässige seines Handelns in solchen Augenblicken
völlig ausgelöscht sei, wird damit noch nicht gesagt. Überdies geht die
Expertise bei der Feststellung, dass P. bei Begehung seiner Diebstähle nicht
mehr recht Herr seiner selbst sei, von tatbeständlichen Annahmen aus, die von
der Postverwaltung und vom Oberarzt der allgemeinen Bundesverwaltung widerlegt
werden. Der Experte nimmt nämlich an, P. vergreife sich an Postsendungen,
deren Wert unverhältnismässig gering sei im Vergleich zu der Gefahr des
Ertapptwerdens, was das Triebhafte seines Handelns beweise, während die
Postverwaltung und der Oberarzt darauf hinweisen, dass P.

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(wie auch der Experte anerkennt) sich nur an uneingeschriebenen Sendungen
vergriffen hat, deren Entwendung äusserst schwer festzustellen ist, und dass
in solchen uneingeschriebenen Sendungen häufig Geld und andre Sachen von
erheblichem Wert sich finden, auf was P. nach den Untersuchungsergebnissen es
gerade abgesehen hatte. Wenn er dabei gelegentlich sich täuschte und
Unverwertbares sich aneignete, so ändert das nichts an seiner klarbedachten
Absicht, bei möglichst geringer Gefahr sich möglichst viel anzueignen. Dass er
manchmal auch an uneingeschriebenen Marken- und Chokolademustersendungen und
dergleichen sich vergriff, beweist nur, wie leicht er sich zum Diebstahl
verleiten liess, nicht aber seine mangelnde Einsicht in das Verwerfliche
seines Tuns.
Mildernde Umstände sind nicht vorhanden. P. befand sich in keiner Notlage
(vgl. BGE 58 I S. 345). Er lebte auf zu grossem Fuss, so dass sein Beamten-
und sein erhebliches Nebeneinkommen als Journalist ihm nicht genügte. Sein
Verhalten läset sich um so weniger entschuldigen, als er durch seine
Versetzung ins Provisorium nach zeitweiliger Amtseinstellung schon verwarnt
worden war.
Ein Anspruch auf eine Rente gemäss Art. 24 Abs. 2 der Statuten steht ihm
deshalb nicht zu.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Auf die Disziplinarbeschwerde wird nicht eingetreten.
2. Der Anspruch auf eine Rente wird abgewiesen.
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Document : 59 I 90
Date : 01. Januar 1932
Published : 11. Mai 1933
Source : Bundesgericht
Status : 59 I 90
Subject area : BGE - Verwaltungsrecht und internationales öffentliches Recht
Subject : 1. Art. 31 Abs. 1 Ziff. 9 Beamtengesetz, Art. 34 VDG: Die Beschwerde wegen ungerechtfertigter...


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