S. 366 / Nr. 59 Obligationenrecht (d)

BGE 58 II 366

59. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 12. Oktober 1932 i. S.
Baumann gegen Hubschmid,

Regeste:
Automobilunfall, Vorfahrtsrecht. Der in der Hauptstrasse Fahrende hat trotz
des Vorfahrtsrechtes die Geschwindigkeit seines Motorfahrzeuges vor
unübersichtlichen Strassenkreuzungen zu mässigen. Mitverschulden des aus der
Seitenstrasse kommenden Führers? OR Art. 41. 44.

A. - In die aargauische Kantonsstrasse, welche von Wohlenschwil nach Mellingen
führt, mündet vor der Ortschaft Mellingen auf der Höhe der evangelischen
Kirche und neben der katholischen Kapelle in einem rechten Winkel die
Bremgartenstrasse ein, und zwar von rechts, in der Richtung gegen Mellingen
gesehen. Diese Bremgartenstrasse, die Nesselnbach mit Mellingen verbindet, hat
auf der andern Seite der Kantonsstrasse nur eine kurze Sackgasse als
Fortsetzung, welche zur evangelischen Kirche führt. Die Sicht auf die
Einmündung der Bremgartenstrasse ist sowohl für den von Nesselnbach Kommenden,
als für den von Wohlenschwil Kommenden schlecht; man sieht nicht, ob auf der
andern Strasse Fahrzeuge heranfahren, weil die im Winkel der beiden
Verkehrswege stehende katholische Kapelle von einer zwei Meter hohen Mauer
umfasst ist, welche um die Ecke herumführt.
Am Nachmittag des 14. August 1930 vor 17 Uhr wollte sich der Kläger, Theodor
Baumann in Zürich, mit seinem Personenautomobil, in dem noch ein Herr Dreyfuss
sass, auf der Kantonsstrasse von Wichterswil nach Mellingen

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begeben. Zu gleicher Zeit kam auf der Bremgartenstrasse von Nesselnbach her
mit seinem Lastwagen der Beklagte, Johann Hubschmid, Landwirt und Chauffeur.
Er wollte ebenfalls nach Mellingen fahren. Um die Wendung von 90 0 zu
vollziehen, war er genötigt, die Kurve «weit» zu nehmen, d. h. er musste vor
der Strassenkreuzung von der Bremgartenstrasse die linke Seite in Anspruch
nehmen. Er gab zahlreiche Signale, sozusagen ohne Unterbruch, und fuhr dann
mit einer Geschwindigkeit von 5 km in die Kreuzung hinein. Sobald er auf
seinem Führersitz soweit nach vorn gelangt war, dass die Sicht nach links
durch die Mauer nicht mehr behindert war, bemerkte er das Automobil des
Klägers und bremste sofort. Trotzdem kam es zum Zusammenstoss; als der
vorderste Teil des Lastwagens etwa 5 Meter in die Kantonsstrasse hineinragte
und als der Lastwagen schon stillestand oder sich nur noch mit äusserst
geringer Geschwindigkeit bewegte, fuhr das Personenauto mit der rechten Seite
in ihn hinein und verschob ihn um etwa 80 cm. Beide Fahrzeuge wurden
beschädigt. Ausserdem erlitten Dreyfuss und der Kläger einige unbedeutende
Verletzungen.
Am 12. Mai 1931 verurteilte das Bezirksgericht Baden den Kläger wegen
fahrlässiger Körperverletzung und Übertretung der Art. 33, 34 und 35 des
Konkordates betreffend den Verkehr mit Motorfahrzeugen zu einer Busse von 60
Fr.
B. - Am 3. November 1931 hat Baumann gegen Hubschmid Klage auf Bezahlung von
5211 Fr. nebst 5% Zins seit 12. August 1931 erhoben....
C. - Der Beklagte hat Abweisung der Klage beantragt und auf das Ergebnis des
Strafprozesses verwiesen.
D. - Am 27. Februar 1932 hat das Bezirksgericht Bremgarten die Klage
abgewiesen.
E. - Am 20. Mai 1932 hat das Obergericht des Kantons Aargau diesen Entscheid
unter Abweisung der Appellation des Klägers bestätigt.
F. - ....

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Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1 - ....
2.- In rechtlicher Beziehung hängt der Ausgang des Rechtsstreites davon ab, ob
dem Beklagten ein kausales Verschulden an dem Unfall nachgewiesen werden kann.
Der Kläger behauptet ein solches Verschulden des Beklagten und erblickt es
ausschliesslich darin, dass er ihm nicht den Vortritt gelassen habe, wiewohl
er aus einer Nebenstrasse in die Hauptstrasse gefahren sei.
Obschon nun das Konkordat keine dem Art. 27 Abs. 2 des künftigen
Bundesgesetzes über den Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr entsprechende
Bestimmung kennt, wonach das auf der Hauptstrasse verkehrende Fahrzeug den
Vortritt und das aus der Nebenstrasse kommende die Geschwindigkeit zu mässigen
hat, muss davon ausgegangen werden, dass es sich um eine heute schon geltende
allgemeine Verkehrsregel handelt, deren Missachtung, besondere Umstände
vorbehalten, zur Verantwortlichkeit führt. Es kann auch keinem Zweifel
unterliegen, dass die Kantonsstrasse, auf welcher der Kläger verkehrte,
gegenüber der Bremgartenstrasse die Hauptstrasse, diese die Nebenstrasse ist
und dass der Kläger darum den Vortritt gehabt hätte, wiewohl der andere von
rechts kam. Der Beklagte hat jedoch nicht in Abrede gestellt, dass der Kläger
und nicht er den Vortritt hatte, ja er hat sogar alles getan, um die Ausübung
des Vortrittsrechtes durch den Kläger zu gewährleisten, was er auf seinem
Führersitz tun konnte, ohne gänzlich anzuhalten und allenfalls abzusteigen,
und alles, was das Bundesgericht in seinem Entscheid vom 18. Januar 1928 i. S.
Ramu gegen Savio (BGE 54 II S. 14) dem aus der Nebenstrasse Kommenden zur
Pflicht gemacht hat, wenn es ausgeführt hat: «C'est donc au véhicule qui
emprunte la voie principale qu'appartient la priorité, les conducteurs venant
des rues secondaires étant tenus de ralentir leur allure, de signaler leur
présence et de ne s'engager dans l'artère maîtresse qu'avec

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circonspection, après s'être assurés, par la vue et par l'ouïe, qu'elle est
bien libre... L'automobiliste qui suit, à la place qui lui est réservée, une
grande route, est fondé à admettre qu'aucun véhicule débouchant sur sa droite
ne viendra lui couper brusquement le chemin (Semaine judiciaire 1921 P. 444/5
et 1923 P. 546 in fine).» Allerdings ist der Zusammenstoss trotzdem
eingetreten, indem für die Ausübung des Vortrittsrechtes durch den Kläger zu
wenig Raum vorhanden blieb. Ein Verschulden des Beklagten könnte jedoch nur
dann bejaht werden, wenn angenommen werden müsste, er habe angesichts der
Unübersichtlichkeit und Gefährlichkeit der Kreuzung, die ihm übrigens nach der
Feststellung der Vorinstanz bekannt waren, die Pflicht gehabt, vor Befahren
der Kantonsstrasse anzuhalten und wenn nötig von seinem Führersitz, der sich
verhältnismässig weit hinten befindet, abzusteigen. (Vgl. in diesem Sinne ein
Urteil der III. Kammer des Obergerichtes des Kantons Zürich vom 2. Dezember
1930, abgedruckt unter Nr. 121 der Auszüge aus Entscheidungen im
Rechenschaftsbericht 1930 des Obergerichtes.) Es geht jedoch zu weit, wenn der
Kläger dem Beklagten diese Pflicht ohne Weiteres zumuten will, während er
selbst bestreitet, verpflichtet gewesen zu sein, auf die Einmündung der
Nebenstrasse Rücksicht zu nehmen, sondern es muss in Übereinstimmung mit der
Lehre und Gerichtspraxis zu § 24 der deutschen Verordnung über den
Kraftfahrzeugverkehr vom 15. Juli 1930 entschieden werden, dass der
Vortrittsberechtigte von der Beobachtung der allgemeinen Verkehrsbestimmungen
nicht entbunden ist, dass er also nicht wegen seines Vortrittsrechtes auf der
Hauptstrasse unbekümmert drauflos fahren darf (ISAAC-SIEBURG, Automobilgesetz,
2. Aufl., S. 579, MÜLLER, Automobilgesetz, 6. Aufl., S. 667 ff.). Der Kläger
war also auch auf der Hauptstrasse verpflichtet, die Geschwindigkeit seines
Fahrzeuges ständig zu beherrschen und den Lauf zu verlangsamen, wenn das
Fahrzeug Anlass zu einem Unfall oder zu einem Verkehrshemmnis bilden konnte

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(Konkordat Art. 33 und 34). Insbesondere ist sodann darauf zu verweisen, dass
§ 18 der deutschen Verordnung bei Behinderung des Überblickes langsames Fahren
gebietet, dass als Behinderung des Uberblickes auch die Gestaltung des
anliegenden Geländes in Betracht fallen kann (MÜLLER a.a.O., S 621) und dass
in Deutschland anerkannt ist, das Vortrittsrecht befreie nicht von der
Beobachtung der Vorschrift des § 18 (MÜLLER, S. 628, 667). Dieser an das
Vorfahrtsrecht geknüpfte Vorbehalt muss auch für die schweizerischen
Verhältnisse gelten; der Kläger hatte trotz seines Vortrittsrechtes die
Pflicht, seine Geschwindigkeit mit Rücksicht auf die Behinderung der Sicht in
die Nebenstrasse zu reduzieren. Es kann schliesalich auf die vom Kläger selbst
angerufene Entscheidung des deutschen Reichsgerichtes hingewiesen werden, wo
erkannt worden ist, das Vorfahrtsrecht befreie nicht von der Pflicht zur
Einhaltung der Vorschriften über die Mässigung der Geschwindigkeit,
insbesondere bei Kreuzungsstellen (RGZ Bd. 125 S. 203 ff.). Wenn der Kläger
einwendet, es könne dem auf einer grossen Uberlandstrasse Fahrenden doch nicht
zugemutet werden, bei jeder der unzähligen Einmündungen von Nebenstrassen und
-sträsachen den Lauf zu verlangsamen, ist ihm entgegenzuhalten, dass diese
Obliegenheit des Automobilisten ja nur für unübersichtliche Einmündungen und
Kreuzungen streitig ist.
Im vorliegenden Fall ereignete sich der Unfall nicht etwa bei der Abzweigung
eines Feldweges, sondern bei einer Ortschaft, neben einer Kapelle mit einer
ungünstig hohen Umfriedung, also an einer ausgesprochen gefährlichen Stelle.
Der Kläger musste schon aus gehöriger Distanz damit rechnen, dass am Ende der
Mauer ein Weg einmünde, und er konnte nach der Feststellung der Vorinstanz
eine solche Einmündung an dem Wegweiser erkennen, welcher an der Kreuzung
steht und nach Nesselnbach weist. Wenn der Kläger mit seiner unverminderten
Geschwindigkeit von 40 km in die Kreuzung hineinfuhr, trifft ihn ein
Selbstverschulden, welchen

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Standpunkt denn auch die kantonalen Gerichte mit Einschluss des Obergerichtes
eingenommen haben.
Angesichts der Möglichkeit und Obliegenheit der auf der Hauptstrasse
Herankommenden, ihren Lauf auch zu verlangsamen, wäre eine Pflicht des
Beklagten, abzusteigen, gänzlich unpraktisch gewesen. Um nach Gewinnung des
Überblickes wieder einzusteigen und das schwere Fahrzeug in Bewegung zu
setzen, wäre so viel Zeit für ihn verstrichen, dass auf der Hauptstrasse
möglicherweise wieder ein Fahrzeug sich herangemacht hätte, welches wiederum
den Vortritt beansprucht hätte.
Es muss daher mit dem Kläger angenommen werden, dass der Zusammenstoss bei
pflichtgemässem Verhalten beider Parteien nicht unvermeidlich gewesen wäre,
aber mit dem Beklagten und den kantonalen Gerichten, dass der Kläger es ist,
der es an der gebotenen Sorgfalt fehlen liess, soweit nicht eben der Zufall
und die Anlage der Strasse und das Vorhandensein der Mauer am Unfalle
mitwirkten
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichtes des Kantons
Aargau vom 20. Mai 1932 wird bestätigt.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 58 II 366
Datum : 01. Januar 1931
Publiziert : 12. Oktober 1932
Quelle : Bundesgericht
Status : 58 II 366
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Automobilunfall, Vorfahrtsrecht. Der in der Hauptstrasse Fahrende hat trotz des Vorfahrtsrechtes...


BGE Register
54-II-9 • 58-II-366
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
beklagter • hauptstrasse • nebenstrasse • vortritt • kantonsstrasse • bundesgericht • lastwagen • aargau • strassenkreuzung • vorinstanz • obliegenheit • fahrender • selbstverschulden • abweisung • entscheid • kantonales rechtsmittel • gefahr • distanz • verkehrsregel • stelle
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