S. 214 / Nr. 35 Bundesstrafrecht (d)
BGE 58 I 214
35. Urteil des Kassationshofes vom 14. Juli 1933 i. S. Bundesanwaltschaft
gegen Bröhl.
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Regeste:
Art. 67 B.St.R. Begriff der Gefährdung.
Überfahren eines optisch-akustischen Signals bei einem nur durch eine solche
Signaleinrichtung bewachten Bahnübergang.
A. - Der Niveauübergang der Burgdorf-Thun-Bahn bei Gomerkinden ist mit einer
optisch-akustischen Signaleinrichtung gemäss Art. 2 a und 4 b der Verordnung
des Bundesrates vom 7. Mai 1929 betreffend den Abschluss und die
Signalisierung der Niveaukreuzungen der Eisen bahnen mit öffentlichen Strassen
und Wegen (AS 45, 219) geschützt. Wenn sich der heranfahrende Zug auf 540 m
dem Übergang genähert hat, so wird das Blinklicht mit Läutwerk vor dem
Übergang in Funktion gesetzt. Gemäss Art. 11 Ziff. 2 a gilt der mit Blinklicht
und Glocken versehene Bahnübergang in gleicher Weise wie der mit Barrieren
geschützte als bewachter Übergang und bedeutet
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das in Tätigkeit befindliche Signal gleich der geschlossenen Barriere die
Sperrung des Übergangs.
Am 17. September 1931 näherte sich der Kassationsbeklagte mit seinem Automobil
diesem Niveauübergang, als das Blinklicht aufzuleuchten begann. Er hielt
ungefähr 12 m vor dem Geleise an und als er sah, dass in Sichtweite - diese
beträgt ca. 150 m - kein Zug herannahte, setzte er die Fahrt fort und überfuhr
das Bahngeleise. Nachdem er ungefähr 10m vom Übergang entfernt war, sah er
rückblickend den heranfahrenden Zug in einer Entfernung von 110-120 m. vom
Übergang. Wegen Gefährdung der Sicherheit des Eisenbahnverkehrs angeklagt,
wurde er vom Gerichtspräsidenten von Burgdorf verurteilt, von der Strafkammer
des Obergerichtes dagegen freigesprochen, hingegen der Widerhandlung gegen
Art. 11, Ziff. 2, al. a der cit. bundesrätlichen Verordnung und Art. 3 und 8
BG vom 18. Februar 1872 betreffend die Handhabung der Bahnpolizei schuldig
erklärt und zu einer Busse von 10 Fr. verurteilt.
Das Urteil geht davon aus, dass Gefährdung des Eisenbahnverkehrs nur vorliege,
wenn die Gefahr naheliegend und nach den konkreten Umständen wahrscheinlich
sei. Das sei hier nicht der Fall gewesen, wo nach Passierung des Übergangs
durch das Automobil der Zug immer noch 110-120 m, das sind 11-12 Sekunden
Fahrzeit, vom Übergang entfernt gewesen. Ein Versagen des Motors auf dem
Übergang, das zwar immer im Bereich der Möglichkeit liege, habe der
Automobilführer als unwahrscheinlich ausser Berücksichtigung lassen dürfen.
Auch der subjektive Tatbestand der strafbaren Fahrlässigkeit fehle, weil von
einem Mangel an Vorsicht nicht gesprochen werden könne, wenn er die Fahrt
fortsetzte, als er auf 150m Sichtweite keinen Zug erblickte.
B. - Gegen dieses Urteil hat die Bundesanwaltschaft Kassationsbeschwerde
eingereicht. Sie will die Eisenbahngefährdung bejaht wissen, wenn die Handlung
nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge geeignet war, das
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Schadensereignis herbeizuführen. Entgegen der Auffassung der Strafkammer
brauche daher das Schadensereignis nicht naheliegend und nach den konkreten
Umständen wahrscheinlich zu sein, sondern es genüge schon jede Möglichkeit des
Schadeneintrittes. Diese Möglichkeit sei hier zu bejahen, denn die 11-12
Sekunden, die der Zug noch entfernt war, sei eine ausserordentlich kurze Zeit
spanne, die mit aller Deutlichkeit dartue, wie die Möglichkeit eines
erheblichen Schadeneintrittes nahe lag und wie die geringste Verzögerung in
der Fahrt des Automobilisten zu einer Katastrophe hätte führen müssen. Das
Befahren eines Bahnkörpers trotz Signalisierung des herannahenden Zuges sei in
der Gefahrsbegründung ähnlich zu werten, wie das Einfahren einer Barriere oder
wie das Befahren der Geleise, das ermöglicht werde durch nicht ordnungsgemässe
Bedienung der Schranken; darin sei immer eine Eisenbahngefährdung erblickt
worden. Auch subjektiv sei der Tatbestand gegeben. Der Kassationsbeklagte möge
sich die von ihm geschaffene Gefahrsmöglichkeit nicht vorgestellt haben, er
sei aber hierzu verpflichtet und imstande gewesen.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
Die Auffassung der Bundesanwaltschaft, dass für die Annahme der
Eisenbahngefährdung im Sinne des Art. 67 BStG schon jede objektive Möglichkeit
des Schadenseintrittes genüge, steht nicht im Einklang mit der Rechtsprechung
des Kassationshofes. Es ist sozusagen allgemein anerkannt, dass der
Gefährdungsbegriff des Gefährdungsdeliktes und speziell der
Eisenbahngefährdung die nahe Möglichkeit, das ist die Wahrscheinlichkeit des
Schadeneintrittes, voraussetzt (vgl. die Lehrbücher des deutschen Strafrechtes
LISZT, S. 100, BERNER, S. 644, ALLFELD, S. 100, v. HIPPEL, S. 100; SCHWARTZ,
Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, Ziff. 1 von § 306; übereinstimmend die
Rechtsprechung des Reichsgerichtes, cit. in EGER. Preussisches Eisenbahnrecht,
S. 165 A.
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74 a - 76; ebenso MANFREDINI, Mannale di Diritto Penale, S. 361, ferner, für
die Eisenbahngefährdung nach schweiz. Recht die von STÄMPFLI in JZ 339 Anm. 13
angegebene Literatur). Die Rechtsprechung des Bundesgerichtes steht auf
demselben Boden (vgl. STÄMPFLI 1. C. S. 339 Ziff. 3). Wenn in BGE 54 I 363 von
Dringlichkeit der Gefahr gesprochen wurde, so ergibt sich aus der diesem Wort
anschliessend gegebenen Definition, sowie auf Grund des dortigen Tatbestandes
und aus der widersprechenden Schlussbemerkung über die Strafzumessung, dass
dieser Ausdruck lediglich im Sinne einer nahen Möglichkeit oder
Wahrscheinlichkeit verstanden und der Begriff der Dringlichkeit nur dem der
Erheblichkeit der Gefahr gegenüber gestellt werden wollte. Anderseits lässt
sich die strengere, in der Beschwerde vertretene Auffassung keineswegs aus den
dort angezogenen Urteilen Toller vom 25. März 1925 und Demierre vom 13.
Oktober 1930 herauslesen; in jenen Fällen war die Wahrscheinlichkeit des
Schadeneintrittes unzweifelhaft gegeben. Ob nun eine bloss entfernte
Möglichkeit oder die Wahrscheinlichkeit des Schadens anzunehmen ist, bleibt in
jedem Fall nach den konkreten Umständen zu entscheiden.
Es geht nicht an, das Passieren des Niveauüberganges bei tätigem Signal, das
schon einsetzt, wenn der Zug noch mehr als 1/2 km entfernt ist, ohne weiteres
dem Durch fahren durch geschlossene Barrieren gleichzusetzen und die
Rechtsprechung in diesen Fällen auch auf jene anzuwenden, nur weil die
Verordnung vom 7. Mai 1929 geschlossene Barrieren und in Tätigkeit
befindliches Signal in gleicher Weise als Sperrung des Überganges erklärt.
Dazu sind die beiden Tatbestände zu verschieden, und die Frage der Gefährdung
kann überhaupt nicht in dieser Weise ein- für allemal, sondern nur unter
Erwägung aller Umstände des Einzelfalles beantwortet werden. Im vorliegenden
Falle nun ist kaum möglich, eine Gefährdung der Bahn anzunehmen, dadurch, dass
das Automobil die Geleise kreuzte, als der Zug, der mit 36 km
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Geschwindigkeit fuhr, noch 180-120 m vom Übergang entfernt war. Man müsste
denn schon an ein Versagen des Motors oder an ein kopfloses Manöver des
Autolenkers auf dem Übergang bei Ansichtigwerden des auftauchenden Zuges
denken, auch etwa daran, dass der Zugführer bei Ansichtig werden des
passierenden Automobils mit solcher Möglichkeit rechnen und darum zu
plötzlichem Anhalten des Zuges sich veranlasst sehen könnte, das feststehender
massen nicht unerhebliche Schädigungen aller Art im Gefolge haben kann. Allein
diese Möglichkeiten sind so entfernt, dass von einer Wahrscheinlichkeit der
Schädigung vernünftigerweise nicht die Rede sein kann; tatsächlich hat ja auch
der Zugführer, obschon er das Auto mobil auf dem Übergang (auf 180 m)
erblickte, nicht für nötig gefunden, etwas vorzukehren. Ein Tatbestand der
vorliegenden Art könnte nur dann als Gefährdung des Bahnbetriebes geahndet
werden, wenn das Gesetz selbst das Passieren des Überganges trotz
funktionierendem Signal ohne Rücksicht auf die konkreten Umstände als
Eisenbahngefährdung erklärt und damit ein abstraktes Gefährdungsdelikt
aufgestellt hätte. Das ist nicht der Fall. Dieses Verhalten ist bloss als
Widerhandlung gegen das Bahnpolizeigesetz ein- für allemal unter Strafe
gestellt (VO Art. 11 Ziff. 2 a und Bahnpolizeigesetz Art. 3 und 4).
Demnach erkennt der Kassationshof: Die Kassationsbeschwerde wird abgewiesen.