S. 585 / Nr. 96 Eisenbahnhaftpflicht (d)

BGE 57 II 585

96. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 17. Dezember 1931 i. S.
Neeracher-Heusser gegen Kanton Basel-Stadt.

Regeste:
Eisenbahnhaftpflicht. Art. 1 u . 5 EHG.
Passanten im Gefahrenbereich der Eisenbahn. Es besteht gegenüber früher eine
erhöhte Pflicht zur Aufmerksamkeit. Betreten einer übersichtlichen
Geleiseanlage ohne Vergewisserung, dass kein Bahnfahrzeug im Anzug sei, als
ausschliessliches Selbstverschulden.

Die Klägerin erlitt am 8. Juni 1931 gegen 4 Uhr nachmittags auf der
Riehenstrasse in Basel einen Unfall durch die Strassenbahn. Die Strasse
verläuft auf jener Strecke geradlinig und ist zu beiden Seiten von Trottoirs
eingefasst. Die Strassenbahn

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hat ihren eigenen, jedoch in die Strasse eingebauten Bahnkörper, der sich, in
der Richtung Riehen gesehen, auf der linken Strassenseite befindet und gegen
die rechts liegende Fahrbahn der Strasse durch ein etwas erhöhtes Rasenband
abgegrenzt ist. In gewissen Abständen führen gepflästerte Übergänge über den
Bahnkörper.
Die Klägerin, die an der Wiesenstrasse wohnt, ging mit einer Begleiterin in
der Richtung Riehen anfänglich auf dem rechten Trottoir. Dann überquerten die
beiden Frauen die Fahrbahn der Strasse, angeblich um das andere Trottoir zu
gewinnen, marschierten aber zunächst auf der Strasse dem Strassenbahnkörper
entlang weiter, ohne die beiden ersten Übergänge, an denen sie vorbeikamen, zu
benützen. Beim dritten Übergang schwenkte die Klägerin nach links auf die
Geleiseanlage zu ab. In diesem Augenblick erfasste sie der Motorwagen eines
ebenfalls in der Richtung Riehen fahrenden Strassenbahnzuges, dessen Führer
wiederholt Glockensignale gegeben, die Geschwindigkeit vermindert und, als er
das Einschwenken der Klägerin gewahrte, die Bremse ganz angezogen hatte. Die
Klägerin wurde zu Boden geworfen und schwer verletzt.
In Bestätigung des vorinstanzlichen Urteils hat das Bundesgericht die gegen
den Kanton Basel-Stadt als Inhaber der Strassenbahnunternehmung erhobene
Schadenersatzklage wegen ausschliesslichen Selbstverschuldens der Klägerin
abgewiesen.
Aus den Erwägungen:
... Ein Verschulden liegt somit auf Seite der Bahn nicht vor. Der Unfall ist
vielmehr durch das schuldhafte Verhalten der Klägerin selbst verursacht
worden. Sie hatte dem in ihrem Rücken heranfahrenden Zug und den vom
Motorwagenführer abgegebenen Glockensignalen offenbar infolge ihres Gesprächs
mit der Begleiterin keine Beachtung geschenkt. Umsomehr und unter allen
Umständen musste sie sich vor dem Betreten des Überganges vergewissern, dass
von keiner Seite ein Bahnfahrzeug im Anzug

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sei. Ob sie sich rechts von ihrer Begleiterin befand, wie diese als Zeugin
deponierte, oder links, wie die Zeugen Iseli und Frau Burkhardt aussagten,
spielt dabei selbstverständlich keine Rolle; wenn ihr der Ausblick auf den
Bahnkörper durch die Begleiterin verdeckt war, so brauchte sie sich ja nur
einen Schritt weit wegzuwenden, um ungehindert hinsehen zu können. Ein
einziger Blick auf den Bahnkörper hätte genügt, um den Unfall zu verhindern.
Statt dessen lief die Klägerin blindlings in den Gefahrenbereich hinein. Das
war eine Sorglosigkeit, neben der auch die besondere Betriebsgefahr der Bahn
nicht mehr als Mitursache des Unfalles gewertet werden kann. Zwar ist das
Bundesgericht in seiner frühern Praxis (vgl. insbesondere BGE 33 II S. 21 Erw.
6 und 35 II S. 21 Erw. 3) davon ausgegangen, dass solche Unachtsamkeiten
naturgemäss auch bei an sich sorgfältigen Personen vorkommen können und
deshalb die Haftpflicht der Bahn nicht gemäss Art. 1 EHG gänzlich
auszuschliessen, sondern nur gemäss Art. 5 zu reduzieren vermögen. Allein
seither sind der Verkehr und die damit verbundenen Gefahren derart
angewachsen, dass ein erheblich grösseres Mass von Aufmerksamkeit allgemein
zur Pflicht gemacht werden muss. Wenn das aber allgemein gilt, so würde es
sich durch nichts rechtfertigen, davon zu Ungunsten der Eisenbahnen eine
Ausnahme zu machen. Und zum Minimum der erforderlichen Sorgfalt gehört, dass
man nicht einen Bahnkörper betritt, ohne sich vorher durch Ausschau nach links
und rechts überzeugt zu haben, dass von keinem heranfahrenden Zuge Gefahr
droht. Unterlässt ein Passant an einer Stelle, wo der Bahnkörper gut zu
übersehen ist, auch diese einfachste Vorsichtsmassnahme, so kann er sich
nachher nicht auf die besondere Gefährlichkeit des Eisenbahnbetriebes berufen,
wenn ihm ein Unfall zustösst.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 57 II 585
Date : 01. Januar 1931
Published : 17. Dezember 1931
Source : Bundesgericht
Status : 57 II 585
Subject area : BGE - Zivilrecht
Subject : Eisenbahnhaftpflicht. Art. 1 u. 5 EHG.Passanten im Gefahrenbereich der Eisenbahn. Es besteht...


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