S. 540 / Nr. 85 Obligationenrecht (d)

BGE 57 II 540

85. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 1. Dezember 1931 i. S.
Eisen gegen Stucki.

Regeste:
Kausalzusammenhang zwischen einem Automobilunfall und dem kurz darauf
erfolgten Tod der Geschädigten infolge eines Schlaganfalles. Tat- und
Rechtsfrage. Beschleunigung des Todes durch den Unfall?
OG Art. 81, OR Art. 41.

A. - Samstag, den 27. April 1929, etwa um 13 Uhr, überfuhr der Beklagte,
Melchior Stucki, mit seinem Personenautomobil, Marke Citroën, auf der
Hauptstrasse des Städtchens Lauten die 57jährige Ehefrau des Klägers, Lina
Eisen-Karrer, die auf einem Auge einen Verband trug, eben aus dem Laden der
Metzgerei Stebler im «Löwen» getreten und im Begriffe war, die Strasse zu
überqueren. Stucki, der mit einer Geschwindigkeit von ungefähr 20 km vom
untern Tor her gekommen war, erblickte Frau Eisen nach seiner eigenen
Darstellung erst, als sie, von der linken Seite in der Fahrrichtung gesehen,
in einer Entfernung von etwa 3-4 Metern vor seinem Fahrzeug in seine Fahrbahn
getreten war, nachdem er eben noch weiter nach vorn, zum obern Tor, geschaut
hatte. Er hätte beinahe noch hinter ihr vorbeigelangen können, denn er riss,
als er sie gewahr wurde, seinen Wagen sofort nach links und bremste
gleichzeitig; allein sie

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wurde trotzdem vom rechten Kotflügel erfasst, fiel um und schlug mit dem
Hinterkopf auf dem Boden auf.
Die erste ärztliche Hilfe liess ihr im Domizil von Dr. Spieler in Laufen
dessen Vertreter cand. med. Baumgartner zuteil werden. Sie konnte mit
Unterstützung mühsam gehen, klagte über starke Kopfschmerzen und stöhnte laut.
Sie war auch aufgeregt, sass dann aber bei der Untersuchung mit auf die Brust
gesenktem Kopf und schlafenden Gliedern auf dem Stuhl und gab keine Auskunft.
Am Hinterkopf fand sich eine blutende Hautwunde, am rechten Kleinfinger eine
kleine Schürfung und am rechten Knie Schmerzhaftigkeit und beginnende
Schwellung. An allgemeinen Symptomen bemerkte Baumgartner eine auffällige
Blässe und Pulsbeschleunigung. Auf Grund dieser Feststellungen gelangte er zu
folgender Diagnose: Leichte Quetschungen, leichte Gehirnerschütterung und
Verstauchung des rechten Kniegelenkes. Nachdem der Arzt Ruhe und kalte
Umschläge angeordnet hatte, wurde die Verunfallte in einem Automobil nach
Hause geführt, da sie wegen Benommenheit und der Verletzung des Knies nicht
gehen konnte.
In den nächsten Tagen besserte sich der Zustand der Frau Eisen zusehends. Die
Quetschwunde am Kopf heilte, das Allgemeinbefinden gab zu keinem Bedenken
Anlass und auch der Befund am Knie war so, dass Dr. Spieler, der die
Behandlung fortgesetzt hatte, diese am 3. Mai 1929, dem sechsten Tage nach dem
Unfall, wieder einstellen konnte.
Fünf Tage später, am 8. Mai 1929, als von der geringfügigen Kopfverletzung
schon nichts mehr zu sehen war, fanden Hausgenossen Frau Eisen jedoch vor
ihrem Bette auf dem Boden liegend. Ihre linke Seite war gelähmt. Die Diagnose
Dr. Spielers lautete auf Hirnschlag infolge Blutung in die Capsula interna der
rechten Gehirnhälfte. Am 15. Mai 1929 starb Frau Eisen im St. Claraspital in
Basel, wohin sie am 10. Mai verbracht worden war.
Prof. Dr. Rössle in Basel, der am 16. Mai die Sektion

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der Leiche vornahm, erstattete dem Regierungsstatthalter von Laufen am 29. Mai
1929 ein Gutachten. Die Untersuchung habe entsprechend der ärztlichen Diagnose
ergeben, dass Frau Eisen einen Schlaganfall erlitten habe, dessen Sitz in der
rechten Gehirnhälfte gewesen sei und der die linksseitige Lähmung verursacht
habe. Der Herd habe sich langsam vergrössert und sei zuletzt in die
Hirnkammern eingebrochen. Eine hinzutretende Lungenentzündung habe das Ende
beschleunigt. Das Aussehen der Hirnerweichung habe die Angabe bestätigt, dass
der Schlaganfall acht Tage alt sei. Wenn nun das Schlagadernsystem der
Verstorbenen gesund gewesen wäre, hätte man ohne weiteres einen Zusammenhang
des schon einige Tage zurückliegenden Unfalles mit dem Schlaganfall im Sinne
einer traumatischen Spätapoplexie annehmen können. Allein die mikroskopischen
Untersuchungen an den kleinsten Gehirn- und Nierenarterien hätten schwerste
arteriosklerotische Veränderungen gezeigt, und zwar in einem solchen Grade,
dass man mit Sicherheit sagen könne, Frau Eisen wäre über kurz oder lang,
höchst wahrscheinlich aber in kurzer Zeit auch ohne den Unfall ihrer
Schlagaderverkalkung erlegen. Das Gutachten gelangt dann zu folgender
Zusammenfassung der Ergebnisse: «Es ergibt sich mithin, dass es nur sehr
geringer und vielleicht gar keiner Hilfsmomente bedurft hat, um bei Frau Eisen
einen Schlaganfall auszulösen. Es besteht darüber kein Zweifel, dass die
Schlagaderveränderungen bei Frau Eisen schon lange so bedrohlich
fortgeschritten waren; es ist nicht auszuschliessen, dass die Aufregungen,
welche mit ihrem Unfall verbunden waren, bei der, wie uns bekannt wurde, sehr
temperamentvollen Frau eine gewisse Beschleunigung des Leidens herbeigeführt
haben; da sie sich aber bereits so wohl fühlte, dass sie aufstehen wollte, der
Arzt seine Besuche eingestellt hatte, keine Zeichen von Kopfverletzung während
des Lebens und nach dem Tode feststellbar waren, so ist höchstens ein ganz
loser und mittelbarer Zusammenhang zwischen dem Unfall

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und dem tötlichen Schlaganfall zuzugeben. Die weitaus grössere
Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass keinerlei ursächlicher Zusammenhang
zwischen dem Unfall vom 27. April und dem tötlichen Schlaganfall vom 15. Mai
besteht.»
B. - Am 5. Oktober 1929 hat der Ehemann der Frau Eisen, Josef Eisen, gegen
Melchior Stucki Klage auf Bezahlung von 23372 Fr. erhoben.
C. - Der Beklagte hat Abweisung der Klage beantragt, da kein
Kausalzusammenhang zwischen Unfall und Tod bestehe und da ihn keine Schuld an
dem Unfall treffe. 100 Fr. habe er freiwillig und ohne Anerkennung einer
Rechtspflicht zur Ermöglichung der Spitalbehandlung bezahlt.
D. - Über die Frage des Kausalzusammenhanges hat der kantonale
Instruktionsrichter eine ärztliche Expertise angeordnet, und er hat es, da
Frau Eisen schon gestorben und zwar einem Schlaganfall erlegen war, als
gegeben erachtet, dass die Begutachtung einem Vertreter der pathologischen
Anatomie übertragen werde. Als Experte ist im Einverständnis der Parteien der
Ordinarius der Universität Zürich, Prof. von Meyenburg, ernannt worden. Er
hat, nachdem er noch Vernehmlassungen von cand. med. Baumgartner und Dr.
Spieler eingeholt hatte, seinen Befund am 13. Januar 1930 dahin abgegeben,
dass zwischen dem Unfall vom 27. April 1929 und dem Schlaganfall vom 15. Mai
1929 kein ursächlicher Zusammenhang bestehe, da bei Frau Eisen keine
erhebliche Gewalteinwirkung auf den Schädel stattgefunden habe, da
insbesondere entgegen der Diagnose Baumgartners eine Gehirnerschütterung nicht
erwiesen sei, indem vor allen Dingen das Kardinalsymptom der retrograden
Amnesie fehle, da weiter anatomische Grundlage des tötlichen Schlaganfalles
eine Gehirnerweichung und nicht eine Gehirnblutung gewesen sei, da nach
Schädeltraumen zwar Gehirnblutungen, nicht aber Gehirnerweichungen beobachtet
würden, da die Schlagadern nicht nur im Gehirn, sondern auch in

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den Nieren schwer erkrankt gewesen seien, und da diese Schlagadererkrankung
nicht durch den Unfall verursacht worden sein könne.
Mit Eingabe vom 23. Januar 1930 hat der Kläger die Annahme des
Sachverständigen beanstandet, dass keine erhebliche Gewalteinwirkung auf den
Schädel der Verstorbenen stattgefunden habe, der Zeuge Stebler könne eine
solche Gewalteinwirkung bestätigen. Überdies sei zu berücksichtigen, dass Frau
Eisen eine lebhafte, eher etwas aufgeregte Person gewesen sei. Nachdem diese
Kritik dem Experten bekanntgegeben worden war, erklärte er am 27. Januar 1930,
er betrachte weder die Einvernahme des Zeugen Stebler mit dem ihm durch den
Kläger zugedachten Beweisthema, noch die Feststellung über das Temperament der
Frau Eisen als erheblich.
In der Folge hat der Instruktionsrichter im Einverständnis der Parteien noch
Prof. Dr. Bing in Basel als weitern Experten einvernommen; das Ergebnis dieser
Besprechung ist folgendermassen zusammengefasst worden: Prof. Dr. Bing
erklärte nach dem Studium sämtlicher Akten, dass das Gutachten von Prof. von
Meyenburg nach den vom Instruktionsrichter dargelegten Gesichtspunkten
durchaus haltbar sei und insbesondere, dass die Begutachtung der betreffenden
Frage des Kausalzusammenhanges durchaus in das Gebiet der pathologischen
Anatomie falle.
E. - Durch Urteil vom 14. Januar 1931 hat der Appellationshof des Kantons Bern
die Klage im Betrage von 35 Fr. gutgeheissen und im übrigen abgewiesen...
F. - Gegen das Urteil des Appellationshofes des Kantons Bern hat der Kläger
rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form die Berufung an das Bundesgericht
erklärt...
G. - ...
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. - In Übereinstimmung mit der Vorinstanz ist

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zuerst die Frage des Kausalzusammenhanges zwischen dem Unfall und dem Tod der
Frau Eisen zu behandeln, denn die Verantwortlichkeit des Beklagten für den
Schaden, den der Kläger durch den Hinschied seiner Ehefrau erlitten hat, ist
gemäss OR Art. 41 unter anderem an die Voraussetzung geknüpft, dass der Tod
durch den Unfall vom 27. April 1929 verursacht worden sei. Das Bundesgericht
könnte jedoch darauf zum vorneherein nur insoweit eintreten, als Rechtsfragen
zu beurteilen wären, denn an die Feststellungen des Appellationshofes über die
tatsächlichen Verhältnisse ist es gemäss OG Art. 81 gebunden...
Nach der ununterbrochenen Rechtsprechung des Bundesgerichtes ist nun im
Gebiete des Kausalzusammenhanges Rechtsfrage nur, ob der festgestellte
natürliche Zusammenhang, hier zwischen Unfall und Tod, auch im Rechtssinne
genüge, d. h. ob die Tat gemäss der Theorie von der adäquaten Verursachung
eine Bedingung war, die nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der Erfahrung
des Lebens an sich geeignet war, einen Erfolg von der Art des eingetretenen
herbeizuführen und daher der Eintritt dieses Erfolges durch die konkrete
Tatsache allgemein als begünstigt erscheint (BGE 25 II S. 13; 48 ff.; 26 II S.
99, 569; 31 II S. 593; 57 II S. 38 ff., 208; WEISS, Berufung S. 197 ff.; GMÜR,
Der Kausalzusammenhang in der zivilrechtlichen Rechtsprechung des
Bundesgerichtes S. 40). Im vorliegenden Fall ist jedoch nicht die Adäquanz
eines festgestellten Zusammenhanges zwischen Unfall und Tod streitig, sondern
ob überhaupt ein Zusammenhang festzustellen sei; die Vorinstanz hat den
Kausalzusammenhang nicht verneint, weil dieser als bloss entfernter rechtlich
nicht genüge, sondern weil der Schlaganfall und Tod auf eine selbständige
Ursachenkette, die Arterienverkalkung und Gehirnerweichung, zurückzuführen
sei, die mit dem Unfall überhaupt nichts zu tun habe. Diese Feststellung nun,
dass ein Ereignis die Wirkung eines andern sei oder nicht sei, hier, dass der
Tod

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der Frau Eisen infolge Schlaganfalles nicht auf den dem Beklagten zur Last
gelegten Unfall zurückgeführt werden könne, ist nach der schon erwähnten
Praxis des Bundesgerichtes Tatfrage und der Beurteilung der Berufungsinstanz
entzogen (BGE 23 S. 865; 24 II S. 322; 25 II S. 339; 26 II S. 99; 27 II S. 16;
29 II S. 329; 30 II S. 41; 31 II S. 232; 32 II S. 600; 33 II S. 693; 56 II S.
286; 57 II S. 38, 208). Daher muss es bei der Entscheidung der Vorinstanz sein
Bewenden haben, dass der Unfall überhaupt nicht Ursache des Schlaganfalles und
des Todes der Frau Eisen gewesen sei.
2. - Nach dem Gesagten scheidet die Möglichkeit einer traumatischen
Spätapoplexie, die allerdings begrifflich Unfallfolge gewesen wäre, für das
Bundesgericht aus; sie ist durch die Experten mit übrigens auch für den Laien
einleuchtenden Gründen widerlegt worden, und die über Tatsachen endgültig
entscheidende Vorinstanz hat sich ihnen angeschlossen. Denkbar wäre dagegen an
sich noch gewesen, dass Frau Eisen, wie Prof. Rössle sich ausdrückt, über kurz
oder lang an ihrer Arteriosklerose doch gestorben wäre, und zwar höchst
wahrscheinlich in Bälde, dass aber die Aufregungen des Unfalles bei der
temperamentvollen Frau eine Beschleunigung des Leidens herbeigeführt hätten.
Im Falle einer solchen Beschleunigung hätte der Unfall doch als Ursache des
Todes betrachtet werden müssen, und zwar als Mitursache, die zur Annahme eines
Kausalzusammenhanges nach ständiger Rechtsprechung genügt (BGE 6 S. 272; 42 II
S. 364, 660; 43 II S. 325; 46 II S. 465; 48 II S. 150, 477; 51 II S. 521; 57
II S. 41; VON TUHR OR I S. 73), denn Beschleunigung bedeutet nichts anderes
als Mitverursachung, und es hätte sich dann unter anderem bei Ermittlung des
Schadens die schon im Urteil der I. Zivilabteilung i. S. Dietiker gegen Suter
vom 19. Mai 1931 (BGE 57 II S. 301 ff.) aufgeworfene Frage gestellt, ob
angesichts der schweren Erkrankung der Frau Eisen eine geringere als die durch
die Piccardschen Tabellen ausgewiesene Lebenserwartung hätte angenommen

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werden müssen. Allein diese Möglichkeit einer beschleunigenden Wirkung des
Unfalles ist durch den gerichtlichen Experten, Professor von Meyenburg, dem
Prof. Bing und die Vorinstanz gefolgt sind, nicht übersehen, sondern für den
vorliegenden Fall abgelehnt, und zwar schlechthin, nicht nur als entfernte
Möglichkeit abgelehnt worden.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 57 II 540
Datum : 01. Januar 1931
Publiziert : 01. Dezember 1931
Quelle : Bundesgericht
Status : 57 II 540
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Kausalzusammenhang zwischen einem Automobilunfall und dem kurz darauf erfolgten Tod der...


BGE Register
25-II-9 • 57-II-292 • 57-II-540
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