BGE 57 II 428
66. Urteil der II. Zivilabteilung vom 15. Juli 1931 i. S. Businger gegen
Kanton Basel-Stadt.
Regeste:
Haftpflicht der Eisenbahn und unerlaubte Handlung des Automobilführers:
Gegenseitige Pflichten beim Befahren eines unübersichtlichen unbewachten
Niveauüberganges (Erw. 1 u. 4).
Einfluss des Mitverschuldens des Automobilführers auf die an ihn abgetretene
Schadenersatzforderung seines mitfahrenden Gastes (Erw. 3).
A. - Am 18. September 1929 wurde das vom Kläger selbst gesteuerte Automobil
desselben in Muttenz auf der
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rechtwinkligen Kreuzung des Seevogelsträsschens mit dem auf eine längere
Strecke geradlinig verlaufenden Bahnkörper der Überlandbahn von einem Zuge der
Basler Strassenbahn angefahren und etwa 13 m weit vor sich hergeschoben, wobei
das Automobil (wie auch der Strassenbahnwagen) beschädigt und der 61jährige
Kläger schwer, sein Fahrgast Rickenbach leicht verletzt wurden.
Der Kläger war von Norden her auf den Übergang zugefahren und hatte die rund
30 m vor demselben angebrachte Warnungstafel beachtet. Rund 15 m vor dem
Geleise öffnet sich die Sicht auf die gegen die Kreuzung hin zufahrenden
Strassenbahnfahrzeuge um die Ecke der letzten Häuser. Und zwar ist die Sicht
nach rechts sofort sozusagen unbehelligt, während nach links, woher der
Strassenbahnzug kam, bis auf die wenigen letzten Meter vor der Geleisekreuzung
die Sicht auf das Geleise selbst verunmöglicht und auch auf den lichten Raum
über dem Geleise, m.a.W. auf heranfahrende Strassenbahnfahrzeuge,
beeinträchtigt wird durch den Lattenzaun und die Sträucher und kleineren Bäume
des Vorgartens des letzten Hauses. Zur Zeit des Unfalles stand noch ein
weiterer, jedoch kranker und daher nicht dicht belaubter Baum dort. Der
Kläger, der vor der Kreuzung ein Warnungssignal gegeben hat, bestreitet, dass
dies auch seitens des Strassenbahnführers geschehen sei.
Das Kriminalgericht des Kantons Basel-Landschaft hat am 16. Juli 1930 den
wegen Eisenbahngefährdung angeklagten Kläger von Schuld und Strafe
freigesprochen.
B. - Mit der vorliegenden Klage verlangt der Kläger vom Beklagten als Inhaber
der Strassenbahnunternehmung Ersatz seines Schadens, sowie gestützt auf eine
Zession Ersatz des Schadens des Rickenbach, im Betrage von zusammen 15430 Fr.
sowie Genugtuung im Betrage von 3000 Fr.
Der Beklagte trägt auf Abweisung der Klage an und erhebt Widerklage im Betrage
von 73 Fr. 40 Cts., welchen Betrag er «bei der Schadensverteilung
berücksichtigt» wissen will.
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Der Kläger beantragt Abweisung der Widerkläge.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. - Belanglos ist, ob sich die Signaleinrichtungen, durch welche die
Strassenbenützer auf den in Betracht kommenden Niveauübergang aufmerksam
gemacht werden, als verbesserungsbedürftig erwiesen haben. Denn wenn auch die
bisherigen Signaleinrichtungen ungenügend gewesen sein sollten, so stünde der
dem Kläger zugestossene Unfall damit nicht im Zusammenhang, weil ja der Kläger
jene Signale gesehen hat und durch sie rechtzeitig auf die ihm drohende Gefahr
aufmerksam gemacht worden ist. Damit war auch die dem unbewachten
Niveauübergang innewohnende Gefahr behoben, sofern der Kläger nur nicht die
Sorgfaltspflicht ausser Acht liess, welche ihm die Annäherung an den
Niveauübergang auferlegte, und zwar nicht nur zum Schutze gegen eigene
Schädigung, sondern auch zum Schutze der Bahn und ihrer Insassen, die durch
einen Zusammenstoss mit einem Automobil ebenfalls erheblichen Gefahren
ausgesetzt werden. Diese Sorgfaltspflicht bestand darin, dass der Führer des
Automobils dessen Gangart derart verlangsamen musste, um nötigenfalls noch vor
dem Geleise anhalten zu können, und dass er sich danach umsehen musste, ob
sich ein Strassenbahnfahrzeug nähere. Und zwar musste er sich nach links
ebensowohl umsehen wie nach rechts, da keine Rede davon sein kann, dass die
auf eigenem Bahnkörper daher fahrenden Eisenbahnfahrzeuge auf Niveauübergängen
den von rechts herankommenden Motorfahrzeugen den Vortritt lassen müssten.
Dies würde ja eine Verlangsamung der Fahrt der Bahn vor jedem nicht
abgeschrankten Übergang erheischen und den auf fahrplanmässigen Massenverkehr
eingestellten Bahnbetrieb in nicht zu rechtfertigender Weise hemmen, was der
Automobilist umsoweniger mit Fug für sich beanspruchen darf, als ihm ja der
Vortritt vor dem Fussgänger zugestanden ist, und zwar auch dann, wenn
letzterer es eiliger hat als jener. Durch das nachgewiesene
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Hupen konnte also der Kläger keinesfalls erreichen, nicht von links her von
einem Strassenbahnzug angefahren zu werden. Dass von rechts her kein
Strassenbahnzug komme, davon konnte er sich verhältnismässig rasch und ohne
jede Schwierigkeit überzeugen. Wenn er dagegen nach links wegen des Vorgartens
«rein nichts» sah, wie sich sein Vertreter heute ausdrückte, so durfte er sich
nicht mit dem Blick über den Garten hinweg begnügen und nun unbekümmert um
einen möglichen Zusammenstoss den Niveauübergang überqueren. Vielmehr musste
er die Gangart des Automobils noch weiter verlangsamen, sobald er gewahr
wurde, dass er sich erst nach dem Vorbeifahren am Garten, wenige Meter vor dem
Übergang, die Gewissheit verschaffen könne, ob er ihn ungefährdet befahren
könne oder aber wegen eines heranfahrenden Strassenbahnzuges anhalten müsse -
und zwar so sehr verlangsamen, dass er nun auf der Stelle anzuhalten
vermochte. Gleichzeitig musste der Kläger seine ganze Aufmerksamkeit zur
Umschau nach links konzentrieren, wohin er bis jetzt noch nicht hatte
unbehindert blicken können und woher einzig noch Gefahr drohen konnte. Hätte
er beides getan, so würde der Zusammenstoss vermieden worden sein, da der
Zwischenraum zwischen dem Punkt inmitten der Strasse, wo die Sicht auf den
Bahnkörper selbst frei wird, und dem Geleise bei wirklich langsamer Fahrt zum
Anhalten genügt. Kann also der Zusammenstoss nur eingetreten sein, weil der
Kläger entweder in der einen oder in der anderen Beziehung die erforderliche
Sorgfalt nicht walten liess, so würde durch den blossen Nachweis genügend
langsamen Fahrens noch nicht dargetan werden, dass er seine Sorgfaltspflicht
erfüllt habe, weshalb davon abgesehen werden kann, in die Würdigung der
daherigen widersprechenden Beweise einzutreten. Unerheblich wäre auch, selbst
wenn bewiesen, dass der Begleiter Rickenbach dem Kläger sagte, er könne ruhig
zufahren; denn wenn der Kläger «rein nichts» sah, solange er nicht vor der
Ecke des
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Vorgartens des Eckhauses hindurch die Fahrbahn überblicken konnte, so durfte
er sich auf den Freipass des Rickenbach nicht verlassen, der seinerseits ja
keinen bessern Ausblick haben konnte als der Kläger selbst.
Somit ist der Zusammenstoss in erster Linie auf das Selbstverschulden des
Klägers zurückzuführen. Und zwar ist es so schwer, dass die dem unbewachten
Bahnübergang anhaftende besondere Betriebsgefahr daneben nicht als Mitursache
in Betracht kommt, weil sie ja ausgeschaltet war, sobald der Kläger noch
rechtzeitig auf das Bestehen des Überganges aufmerksam wurde.
Nichtsdestoweniger kann die Haftpflicht des Inhabers der Bahnunternehmung
nicht gemäss Art. 1 EHG gänzlich verneint, sondern es kann nur gemäss Art. 5
EHG die Entschädigung ermässigt werden, weil den Kläger nur ein Teil der
Schuld an dem Unfall trifft. Freilich kann es nach dem Ausgeführten dem
Beklagten nicht zum Verschulden angerechnet werden, dass die - an sich nicht
zu beanstandende - Geschwindigkeit des Strassenbahnzuges von 25 km auch gegen
den Strassenübergang hin nicht vermindert wurde. Dagegen dürfen sich die
Bahnen nicht ohne weiteres darauf verlassen, dass die vor den unbewachten
Übergängen angebrachten Warnungstafeln genügende Gewähr dafür bieten, dass
sich Strassenbenützer nur dann auf den Übergang begeben, wenn sie es ohne
Gefahr tun können. Vielmehr muss von den Bahnen verlangt werden, dass sie auch
ihrerseits alles tun, was dazu beizutragen geeignet ist, die Gefahren wenig
übersichtlicher Niveauübergänge zu vermindern. Dazu gehört aber, dass noch
durch akustische Signale auf die sich im gegebenen Momente verwirklichende
Gefahr besonders aufmerksam gemacht wird, wobei es auf freiem Feld ein
mehreres braucht als bloss einmaliges Läuten mit einer gewöhnlichen schwachen
Trambahnglocke. In der Tat hat de Beklagte bezüglich des in Rede stehenden
Überganges eine solche Vorschrift aufgestellt. Allein dafür; dass sie vom
Führer des schadenstiftenden Zuges befolgt worden wäre, hat
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der Beklagte keinen positiven Beweis zu leisten vermocht weshalb angenommen
werden muss, es sei vom Strassenbahnzug kein akustisches Signal gegeben
worden, was ihm zur Schuld anzurechnen ist,
Indessen ist die hauptsächliche Ursache doch in dem gekennzeichneten
Verschulden des Klägers zu sehen. Einmal ist es nur wahrscheinlich, aber
keineswegs sicher, dass der Zusammenstoss durch akustische Signale des
Strassenbahnzuges vermieden worden wäre, weil sie ja vom Kläger hätten
überhört werden können. Sodann ist das Verschulden des Klägers, der die
Schienen überqueren wollte, ohne sich mit aller Sorgfalt bis zuletzt
vergewissert zu haben, ob der Übergang frei sei, grösser als dasjenige des
Zugführers, der zu läuten unterliess, weil der Automobilist empfindlicherer
Schädigung an Leib und Gut ausgesetzt ist als der Trambahnführer, weshalb er
sich der Pflicht zur Abwendung eines Zusammenstosses auf dem Niveauübergang
eindringlicher bewusst wird als der Zugführer. Dementsprechend kann der Kläger
keine Genugtuung fordern und sind vom Schaden 2/3 ihm und nur 1/3 dem
Beklagten zur Last zu legen.
2. - (Schaden des Klägers = 14595 Fr. 75 Cts.)
3. - Würde Rickenbach persönlich seinen Schaden von 311 Fr. 85 Cts. geltend
gemacht haben, so hätte der Beklagte ihn trotz des Mitverschuldens des Klägers
voll vergüten müssen (vgl. e contrario Art. 7 EHG, sowie Art. 51
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 51 - 1 Haften mehrere Personen aus verschiedenen Rechtsgründen, sei es aus unerlaubter Handlung, aus Vertrag oder aus Gesetzesvorschrift dem Verletzten für denselben Schaden, so wird die Bestimmung über den Rückgriff unter Personen, die einen Schaden gemeinsam verschuldet haben, entsprechend auf sie angewendet. |
|
1 | Haften mehrere Personen aus verschiedenen Rechtsgründen, sei es aus unerlaubter Handlung, aus Vertrag oder aus Gesetzesvorschrift dem Verletzten für denselben Schaden, so wird die Bestimmung über den Rückgriff unter Personen, die einen Schaden gemeinsam verschuldet haben, entsprechend auf sie angewendet. |
2 | Dabei trägt in der Regel derjenige in erster Linie den Schaden, der ihn durch unerlaubte Handlung verschuldet hat, und in letzter Linie derjenige, der ohne eigene Schuld und ohne vertragliche Verpflichtung nach Gesetzesvorschrift haftbar ist. |
aber gemäss Art. 18
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 51 - 1 Haften mehrere Personen aus verschiedenen Rechtsgründen, sei es aus unerlaubter Handlung, aus Vertrag oder aus Gesetzesvorschrift dem Verletzten für denselben Schaden, so wird die Bestimmung über den Rückgriff unter Personen, die einen Schaden gemeinsam verschuldet haben, entsprechend auf sie angewendet. |
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1 | Haften mehrere Personen aus verschiedenen Rechtsgründen, sei es aus unerlaubter Handlung, aus Vertrag oder aus Gesetzesvorschrift dem Verletzten für denselben Schaden, so wird die Bestimmung über den Rückgriff unter Personen, die einen Schaden gemeinsam verschuldet haben, entsprechend auf sie angewendet. |
2 | Dabei trägt in der Regel derjenige in erster Linie den Schaden, der ihn durch unerlaubte Handlung verschuldet hat, und in letzter Linie derjenige, der ohne eigene Schuld und ohne vertragliche Verpflichtung nach Gesetzesvorschrift haftbar ist. |
Macht nun aber der Kläger auch diesen Schaden geltend, so kann sich der
Beklagte durch die exceptio doli generalis der Bezahlung desjenigen
Teilbetrages entziehen, den ihm der Kläger nachher doch wieder zurückbezahlen
müsste.
4. - Den mit der Widerklage geforderten Ersatz für den dem Beklagten
erwachsenen Schaden im anerkannten Betrage von 73 Fr. 40 Cts. schuldet der
Kläger gemäss Art. 41
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 41 - 1 Wer einem andern widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es aus Fahrlässigkeit, wird ihm zum Ersatze verpflichtet. |
|
1 | Wer einem andern widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es aus Fahrlässigkeit, wird ihm zum Ersatze verpflichtet. |
2 | Ebenso ist zum Ersatze verpflichtet, wer einem andern in einer gegen die guten Sitten verstossenden Weise absichtlich Schaden zufügt. |
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 44 - 1 Hat der Geschädigte in die schädigende Handlung eingewilligt, oder haben Umstände, für die er einstehen muss, auf die Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens eingewirkt oder die Stellung des Ersatzpflichtigen sonst erschwert, so kann der Richter die Ersatzpflicht ermässigen oder gänzlich von ihr entbinden. |
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1 | Hat der Geschädigte in die schädigende Handlung eingewilligt, oder haben Umstände, für die er einstehen muss, auf die Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens eingewirkt oder die Stellung des Ersatzpflichtigen sonst erschwert, so kann der Richter die Ersatzpflicht ermässigen oder gänzlich von ihr entbinden. |
2 | Würde ein Ersatzpflichtiger, der den Schaden weder absichtlich noch grobfahrlässig verursacht hat, durch Leistung des Ersatzes in eine Notlage versetzt, so kann der Richter auch aus diesem Grunde die Ersatzpflicht ermässigen. |
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Hauptklage wird im Betrage von 4969 Fr. 20 Cts. und die Widerklage im
Betrage von 48 Fr. 90 Cts. zugesprochen und demgemäss der Beklagte zur Zahlung
von 4920 Fr. 30 Cts. nebst 5% Zins seit 31. August 1930 an den Kläger
verurteilt.