S. 363 / Nr. 54 Eisenbahnhaftpflicht (d)

BGE 57 II 363

54. Urteil der II. Zivilabteilung vom 11. Juni 1931 i. S.
Eisenbahngesellschaft Langenthal-Huttwil gegen Lowa, Tuchfabrik A.-G.

Regeste:
Haftpflicht der Eisenbahn aus Zusammenstoss mit einem Automobil auf
unbewachtem Niveauübergang verneint wegen sehr grober Fahrlässigkeit des
Chauffeurs. Verschulden der Eisenbahn verneint.
Haftung des Geschäftsherrn des Chauffeurs für die Schädigung der Eisenbahn
mangels Entlastungsbeweises bejaht. EHG Art. 1 und 11. OR Art. 55.

A. - Durch den Zusammenstoss des vom Chauffeur Nyffeler auf einer
Geschäftstour geführten Lastautomobils der Klägerin «Lowa» mit einem
Motorwagenzug der Beklagten auf einem unbewachten Bahnübergang ist

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sowohl der Klägerin «Lowa» als auch der Beklagten Sachschaden entstanden und
zwar (nach der Feststellung der Vorinstanz) der Klägerin im Betrage von 5000
Fr., der Beklagten im Betrage von 300 Fr. Ausserdem hat der Chauffeur Nyffeler
eine Körperverletzung erlitten.
Mit vorliegender Klage und Widerklage verlangten einerseits die Lowa und
Nyffeler, anderseits die Beklagte gegenseitig Ersatz ihres Schadens.
B. - Der Appellationshof des Kantons Bern hat am 22. Januar 1931 die Klage des
Nyffeler abgewiesen, die Klage der Lowa im Betrage von 1000 Fr. und die
Widerklage im Betrage von 240 Fr. zugesprochen, letzteres unter solidarischer
Haftung beider Widerbeklagten.
C. - Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die Berufung an das Bundesgericht
eingereicht mit dem Antrag, die Klage der Lowa sei abzuweisen und die
Widerklage ihr gegenüber im vollen Umfange gutzuheissen.
D. - Die Klägerin Lowa hat sich der Berufung angeschlossen mit dem Antrag,
ihre Klage sei in vollem, eventuell nach richterlichem Ermessen in höherem
Umfange zuzusprechen und die Widerklage abzuweisen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Die Vorinstanz hat angenommen, Hauptursache der streitigen Sachschäden sei ein
grobes Verschulden des Chauffeurs Nyffeler, Mitursachen seien aber auch ein
leichtes Verschulden der Klägerin Lowa, ein leichtes Verschulden der Beklagten
und die ihrer Eisenbahnunternehmung innewohnende besondere Betriebsgefahr. Das
Bundesgericht sieht im Verschulden des Chauffeurs Nyffeler die einzige
Schadensursache. Dies hat zur Folge, dass einerseits die Klägerin Lowa wegen
Verschuldens eines Dritten keinen Schadenersatz von der Beklagten zu
beanspruchen hat (EHG Art. 1 und 11), anderseits die Beklagte vollen Ersatz im
Umfange des von der Vorinstanz ermittelten Schadens von der Lowa beanspruchen
kann (Art. 41
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 41 - 1 Wer einem andern widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es aus Fahrlässigkeit, wird ihm zum Ersatze verpflichtet.
1    Wer einem andern widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es aus Fahrlässigkeit, wird ihm zum Ersatze verpflichtet.
2    Ebenso ist zum Ersatze verpflichtet, wer einem andern in einer gegen die guten Sitten verstossenden Weise absichtlich Schaden zufügt.
, 55
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 55 - 1 Der Geschäftsherr haftet für den Schaden, den seine Arbeitnehmer oder andere Hilfspersonen in Ausübung ihrer dienstlichen oder geschäftlichen Verrichtungen verursacht haben, wenn er nicht nachweist, dass er alle nach den Umständen gebotene Sorgfalt angewendet hat, um einen Schaden dieser Art zu verhüten, oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre.30
1    Der Geschäftsherr haftet für den Schaden, den seine Arbeitnehmer oder andere Hilfspersonen in Ausübung ihrer dienstlichen oder geschäftlichen Verrichtungen verursacht haben, wenn er nicht nachweist, dass er alle nach den Umständen gebotene Sorgfalt angewendet hat, um einen Schaden dieser Art zu verhüten, oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre.30
2    Der Geschäftsherr kann auf denjenigen, der den Schaden gestiftet hat, insoweit Rückgriff nehmen, als dieser selbst schadenersatzpflichtig ist.
OR) und zwar in Konkurrenz (unechter Solidarität)

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mit dem Chauffeur Nyffeler bis zu dem von der Vorinstanz rechtskräftig
festgesetzten Betrage seiner Haftung.
Freilich ist der Bahnübergang, auf welchem sich der Zusammenstoss ereignete,
nicht gerade übersichtlich. Immerhin ist für denjenigen, welcher sich in der
Fahrrichtung des Automobils dem die Strasse fast rechtwinklig kreuzenden
Bahnkörper nähert, die Sicht nach rechts auf den letzten 90 Metern frei, wenn
Bäume und Sträucher nicht belaubt sind, wie es am Tage des Unfalls, 20. April,
zutraf. Dagegen stehen links auf dieser Strecke noch drei Häuser, zwischen
denen hindurch jedoch der Bahnkörper einigermassen überblickt werden kann, so
namentlich zwischen den beiden letzten Häusern vor dem Bahnübergang auf eine
längere, bis auf 100 Meter an den Bahnübergang heranreichende Strecke. Das
letzte Haus (Järmann) befindet sich gegen 15 Meter vom Bahnkörper entfernt,
sodass die Sicht auch nach links auf diese Distanz gänzlich frei wird, die zum
Anhalten von Automobilen genügt, wenn die Fahrgeschwindigkeit dem Zustande des
nur 3,5 m breiten Strässchens angepasst ist und die Bremsen richtig
funktionieren. Da der Chauffeur Nyffeler seit längerer Zeit täglich mehrmals
hier durchfuhr, ja seit zwei Wochen selbst im Hause Järmann wohnte, waren ihm
die örtlichen Verhältnisse genau bekannt, wusste er insbesondere, dass er auf
einen unbewachten Bahnübergang zufahre und dass er nichts aus der
hochgezogenen Barrière herleiten dürfe, die zwar von den Benützern des
Überganges jeweils hätte geschlossen werden sollen, jedoch meist offen
gelassen wurde. Wenn er des Zuges erst im letzten Augenblick vor dem
Zusammenstoss ansichtig wurde, als es zu spät war um anzuhalten, so kann dies
auf nichts anderes als darauf zurückgeführt werden, dass er blindlings, mit
einer kaum zu überbietenden Sorglosigkeit auf den Bahnübergang zufuhr, ohne
sich im geringsten danach umzusehen, ob sich ein Zug nähere. Eine solche
Unvorsichtigkeit muss dem Automobilführer, der

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dadurch nicht nur sich selbst und das von ihm geführte Automobil, sondern auch
einen Eisenbahnzug und dessen Insassen in Gefahr bringen kann, zum schweren
Verschulden angerechnet werden. Die besonderen Umstände des Falles lassen
diese Fahrlässigkeit des Chauffeurs als besonders grob erscheinen: Einmal
hatte er trotz trockener Witterung das Verdeck des Führersitzes nicht
zurückgeschlagen, weshalb der seitliche Ausblick erschwert war und zudem die
wegen des starken Eigenlärms des Wagens bereits bestehende Gefahr,
Pfeifensignale heranfahrender Züge zu überhören, noch erhöht wurde; umsoeher
war er verpflichtet, Ausblick zu halten, auch wenn ihn dies eine besondere
Anstrengung kosten und ihn vielleicht zu langsamerem Fahren zwingen mochte.
Ferner kannte er den wenig guten Zustand der Bremsen und durfte er auch
deshalb nur mit besonderer Vorsicht fahren. Dass seine Aufmerksamkeit durch
andere Strassenbenützer voll in Anspruch genommen worden sei, haben er und die
Lowa zwar behauptet, jedoch nach der für das Bundesgericht verbindlichen
Beweiswürdigung der Vorinstanz nicht darzutun vermocht; zudem hätten derartige
Hindernisse ihn zur Verlangsamung der Fahrt veranlassen sollen, was ihm
vielleicht ermöglicht hätte, doch noch rechtzeitig anzuhalten, als er endlich
den heranfahrenden Zug bemerkte.
Neben einem derart groben Verschulden des Automobilfahrers kann die mit einem
unbewachten Bahnübergang zusammenhängende besondere Betriebsgefahr der
Eisenbahn nicht mehr als Mitursache des Zusammenstosses angesprochen werden.
Zwar bedeutet der Grundsatz der Kausalhaftung der Eisenbahnen, dass diese sich
der Folgen von Betriebsunfällen nicht schlechthin durch den Hinweis darauf
entschlagen können, der Unfall hätte sich ohne Fahrlässigkeit des Betroffenen
- oder eines Dritten - gar nicht ereignet. Allein wenn der Unfall nur hat
eintreten können, weil der Betroffene oder ein Dritter sich eine kaum mehr zu
überbietende Unvorsichtigkeit hat zu

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schulden kommen lassen, so lässt es sich nicht mehr rechtfertigen, die
Eisenbahn hiefür zu belasten, sei es auch nur teilweise (vgl. BGE 55 II S.
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).
Ein kausales Mitverschulden der Eisenbahn kann das Bundesgericht im Gegensatz
zur Vorinstanz nicht annehmen. Es ist unwahrscheinlich, dass sich der mit den
örtlichen Verhältnissen völlig vertraute Chauffeur Nyffeler durch eine
auffälligere Warnungstafel zu grösserer Vorsicht hätte bestimmen lassen;
infolgedessen scheidet die allfällig ungenügende Markierung des Überganges im
vorliegenden Fall als Mitursache des Zusammenstosses aus. Und dem Zugführer
darf nicht zum Vorwurfe gemacht werden, dass er seine Pfeifensignale nicht
wiederholte, als er zwischen den beiden letzten Häusern hindurch das
heranfahrende Automobil sah; denn die Häufung oder sonstige Verlängerung
schriller Signale ist, zumal in der Nähe bewohnter Häuser, unerwünscht und
soll vermieden werden, wenn nicht besondere Umstände (z. B. auch schlechtes
Wetter) sie erheischen. Hier lag jedoch nichts derartiges vor, namentlich
nichts, was beim Zugführer den Gedanken hätte aufkommen lassen müssen, das
Automobil könnte unter Ausserachtlassung jeglicher Vorsicht hemmungslos weiter
auf den Übergang zufahren. Umsoweniger war sofortige Verlangsamung der Fahrt
geboten. Würde dies den Lokomotivführern zur Pflicht gemacht, so müsste
befürchtet werden, dass die Automobilführer öfter den Versuch machen, noch vor
einem heranfahrenden Zug durchzukommen, als es ohnehin geschehen mag.
Für den der Beklagten erwachsenen Schaden haftet die Lowa als Geschäftsherr
des Nyffeler. Den in Art. 55
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 55 - 1 Der Geschäftsherr haftet für den Schaden, den seine Arbeitnehmer oder andere Hilfspersonen in Ausübung ihrer dienstlichen oder geschäftlichen Verrichtungen verursacht haben, wenn er nicht nachweist, dass er alle nach den Umständen gebotene Sorgfalt angewendet hat, um einen Schaden dieser Art zu verhüten, oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre.30
1    Der Geschäftsherr haftet für den Schaden, den seine Arbeitnehmer oder andere Hilfspersonen in Ausübung ihrer dienstlichen oder geschäftlichen Verrichtungen verursacht haben, wenn er nicht nachweist, dass er alle nach den Umständen gebotene Sorgfalt angewendet hat, um einen Schaden dieser Art zu verhüten, oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre.30
2    Der Geschäftsherr kann auf denjenigen, der den Schaden gestiftet hat, insoweit Rückgriff nehmen, als dieser selbst schadenersatzpflichtig ist.
OR vorgesehenen Entlastungsbeweis hat sie
überhaupt nicht angetreten; denn allermindestens hätte sie dartun müssen, dass
Nyffeler ihr als tüchtiger und zuverlässiger Chauffeur bekannt war, wenn sie
ihn ohne weitere Unterweisung auf dieser nicht ungefährlichen Zufahrt zu ihrer
Fabrik fahren liess, dazu noch mit einem mangelhaften Wagen.

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Übrigens darf sich die Lowa über den ihr ungünstigen Ausgang des Prozesses
umsoweniger beklagen, als unabhängig vom Verschulden des Nyffeler ein
selbständiges, nicht besonders leichtes Verschulden sie selbst insofern
trifft, als ihr Wagen von vorneherein den Mangel aufwies, dass das
heruntergelassene Verdeck dem Chauffeur den Blick nach der Seite nicht ohne
weiteres ermöglichte, und sich dazu noch in reparaturbedürftigem Zustande
befand, deshalb besonders starken Lärm machte und sich nicht normal rasch
bremsen liess, wie bereits in anderem Zusammenhang erwähnt wurde.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Anschlussberufung wird abgewiesen, dagegen die Hauptberufung begründet
erklärt, das Urteil des Appelationshofes des Kantons Bern vom 22. Januar 1931
aufgehoben, soweit es nicht den Kläger und Widerbeklagten Nyffeler betrifft,
die Hauptklage abgewiesen und die Widerklage gegenüber der Lowa A.-G. im
Betrage von 300 Fr. zugesprochen.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 57 II 363
Date : 01. Januar 1931
Published : 11. Juni 1931
Source : Bundesgericht
Status : 57 II 363
Subject area : BGE - Zivilrecht
Subject : Haftpflicht der Eisenbahn aus Zusammenstoss mit einem Automobil auf unbewachtem Niveauübergang...


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OR: 41  55
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55-II-336 • 57-II-363
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