S. 259 / Nr. 42 Gleichheit vor dem Gesetz (Rechtsverweigerung) (d)

BGE 57 I 259

42. Auszug aus dem Urteil vom 14. November 1931 i. S. St. gegen Regierungsrat
St. Gallen.


Seite: 259
Regeste:
Art. 329 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 329 - 1 Der Anspruch auf Unterstützung ist gegen die Pflichtigen in der Reihenfolge ihrer Erbberechtigung geltend zu machen und geht auf die Leistung, die zum Lebensunterhalt des Bedürftigen erforderlich und den Verhältnissen des Pflichtigen angemessen ist.
1    Der Anspruch auf Unterstützung ist gegen die Pflichtigen in der Reihenfolge ihrer Erbberechtigung geltend zu machen und geht auf die Leistung, die zum Lebensunterhalt des Bedürftigen erforderlich und den Verhältnissen des Pflichtigen angemessen ist.
1bis    Kein Anspruch auf Unterstützung kann geltend gemacht werden, wenn die Notlage auf einer Einschränkung der Erwerbstätigkeit zur Betreuung eigener Kinder beruht.464
2    Erscheint die Heranziehung eines Pflichtigen wegen besonderer Umstände als unbillig, so kann das Gericht die Unterstützungspflicht ermässigen oder aufheben.465
3    Die Bestimmungen über die Unterhaltsklage des Kindes und über den Übergang seines Unterhaltsanspruches auf das Gemeinwesen finden entsprechende Anwendung.466
ZGB kann ohne Willkür so ausgelegt werden, dass der von einer
Ehefrau aus ihrem persönlichen Einkommen an Geschwister zu leistende
Unterstützungsbeitrag sich unter Mitberücksichtigung des Vermögens- und
Arbeitseinkommens auch des Ehemannes bestimmt.

Aus dem Tatbestand:
Der Ehemann der Rekurrentin versteuert ein Einkommen von über 6000 fr. Sie
selber bezieht aus einem eigenen Gewerbebetrieb mit ständigen Arbeiterinnen
ein nicht näher beziffertes persönliches Einkommen. Die Gemeinde legte ihr
deshalb die Pflicht zur Leistung eines Unterstützungsbeitrages an zwei
internierte Brüder von 10 Fr. monatlich auf. Der Regierungsrat St. Gallen
bestätigte auf Rekurs hin diesen Entscheid. Die dagegen eingereichte
staatsrechtliche Beschwerde wurde abgewiesen, u. a. mit der
Begründung:
Nach Art. 329 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 329 - 1 Der Anspruch auf Unterstützung ist gegen die Pflichtigen in der Reihenfolge ihrer Erbberechtigung geltend zu machen und geht auf die Leistung, die zum Lebensunterhalt des Bedürftigen erforderlich und den Verhältnissen des Pflichtigen angemessen ist.
1    Der Anspruch auf Unterstützung ist gegen die Pflichtigen in der Reihenfolge ihrer Erbberechtigung geltend zu machen und geht auf die Leistung, die zum Lebensunterhalt des Bedürftigen erforderlich und den Verhältnissen des Pflichtigen angemessen ist.
1bis    Kein Anspruch auf Unterstützung kann geltend gemacht werden, wenn die Notlage auf einer Einschränkung der Erwerbstätigkeit zur Betreuung eigener Kinder beruht.464
2    Erscheint die Heranziehung eines Pflichtigen wegen besonderer Umstände als unbillig, so kann das Gericht die Unterstützungspflicht ermässigen oder aufheben.465
3    Die Bestimmungen über die Unterhaltsklage des Kindes und über den Übergang seines Unterhaltsanspruches auf das Gemeinwesen finden entsprechende Anwendung.466
ZGB sind die Geschwister nur dann zur gegenseitigen
Unterstützung verpflichtet, wenn

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sie sich in «günstigen Verhältnissen» befinden. Das setzt nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichtes als Berufungsinstanz voraus, dass das zu
Unterstützungsbeiträgen herangezogene Geschwister diese Beiträge aus dem
eigenen Einkommen - dem Ertrag des eigenen Vermögens oder der eigenen
Erwerbstätigkeit - zu leisten vermag. Nicht beitragspflichtig ist also nach
dieser Praxis das Geschwister, das die Beiträge aus dem Einkommen seines
Ehegatten leisten müsste, auch wenn es gerade aus diesem Einkommen in
günstigen Verhältnissen lebte (BGE 45 II S. 510).
Damit wurde aber noch nicht gesagt, dass auch der Betrag der von einem
Geschwister aus seinem eigenen Einkommen zu leistenden Beiträge sich allein
nach der Höhe dieses Einkommens selber ohne Berücksichtigung desjenigen seines
Ehegatten zu bestimmen habe. Für die gegenteilige Auffassung lässt sich ohne
Willkür geltend machen, dass nach der Meinung des Gesetzes ein
Unterstützungspflichtiger die Beiträge an den Unterhalt seines bedürftigen
Geschwisters aus dem Teil seines persönlichen Einkommens zu bezahlen habe,
welcher ihm nach pflichtgemässer Obsorge für die eigene Haushaltung übrig
bleibt, dass ein verheiratetes unterstützungspflichtiges Geschwister nicht
allein, sondern bloss neben seinem Ehegatten, und namentlich eine Ehefrau nur
subsidiär neben ihrem Ehegatten an die Haushaltungskosten beizutragen habe,
sodass eine Ehefrau zur Unterstützung bedürftiger Geschwister insoweit
verpflichtet ist, als ihr persönliches Einkommen nach Abzug ihres
pflichtgemässen Beitrags an die eigene Haushaltung eine solche
Unterstützungsleistung zu tragen vermag. Nach dieser Auffassung ist in der Tat
für die Bestimmung des von einer Ehefrau aus dem Ertrag ihres persönlichen
Vermögens oder Erwerbs an ihre Geschwister zu leistenden
Unterstützungsbeitrages ausser ihrem persönlichen Einkommen auch dasjenige
ihres Ehemannes in Berücksichtigung zu ziehen.
Wenn also der Regierungsrat bei Verpflichtung der Rekurrentin zur
Unterstützung ihrer Brüder sich darauf

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berief, dass ihr Ehemann ein hinreichendes Erwerbseinkommen habe, so hielt er
sich damit nicht nur im Rahmen der bundesgerichtlichen Berufungspraxis,
sondern er hat die von dieser Praxis noch offen gelassenen Fragen in einer
nicht willkürlichen Weise gelöst - ganz abgesehen davon, dass eine kantonale
Behörde aus dem Gesichtspunkt von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV überhaupt nicht verpflichtet ist,
sich an die Rechtsprechung des Bundesgerichtes zu der betreffenden Rechtsfrage
unter allen Umständen zu halten.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 57 I 259
Datum : 01. Januar 1931
Publiziert : 14. November 1931
Quelle : Bundesgericht
Status : 57 I 259
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : Art. 329 Abs. 2 ZGB kann ohne Willkür so ausgelegt werden, dass der von einer Ehefrau aus ihrem...


Gesetzesregister
BV: 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
ZGB: 329
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 329 - 1 Der Anspruch auf Unterstützung ist gegen die Pflichtigen in der Reihenfolge ihrer Erbberechtigung geltend zu machen und geht auf die Leistung, die zum Lebensunterhalt des Bedürftigen erforderlich und den Verhältnissen des Pflichtigen angemessen ist.
1    Der Anspruch auf Unterstützung ist gegen die Pflichtigen in der Reihenfolge ihrer Erbberechtigung geltend zu machen und geht auf die Leistung, die zum Lebensunterhalt des Bedürftigen erforderlich und den Verhältnissen des Pflichtigen angemessen ist.
1bis    Kein Anspruch auf Unterstützung kann geltend gemacht werden, wenn die Notlage auf einer Einschränkung der Erwerbstätigkeit zur Betreuung eigener Kinder beruht.464
2    Erscheint die Heranziehung eines Pflichtigen wegen besonderer Umstände als unbillig, so kann das Gericht die Unterstützungspflicht ermässigen oder aufheben.465
3    Die Bestimmungen über die Unterhaltsklage des Kindes und über den Übergang seines Unterhaltsanspruches auf das Gemeinwesen finden entsprechende Anwendung.466
BGE Register
45-II-509 • 57-I-259
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
bundesgericht • ehegatte • entscheid • erwerbseinkommen • frage • gemeinde • gerichts- und verwaltungspraxis • geschwister • haushalt • kantonale behörde • monat • regierungsrat • sachverhalt • sozialhilfeleistung • staatsrechtliche beschwerde • unterstützungspflicht • willkürverbot