BGE 57 I 172
27. Auszug aus dem Urteil vom 15. Mai 1931 i. S. Zimmerli und Genossen gegen
Luzern, Grossen Rat.
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Regeste:
Bestimmung eines kantonalen Gesetzes, wonach die Gemeinderäte im
Verhältniswahlverfahren (statt nach dem System des absoluten Mehrs) gewählt
werden sollen, wenn auf das unterschriftliche Begehren von 1/6 der
Stimmberechtigten der Gemeinde um Anordnung einer Gemeindeabstimmung darüber
sich an der letzteren 2/5 der giltig stimmenden Bürger zu Gunsten der
Anwendung dieses Wahlverfahrens ausgesprochen haben. Anfechtung wegen
Verstosses gegen Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 6 Individuelle und gesellschaftliche Verantwortung - Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei. |
Die luzernische Verfassungsnovelle vom 3. März 1909 sah in § 3 vor, dass die
sog. Gemeindeausschüsse im Verhältniswahlverfahren zu bestellen seien, wenn in
Gemeinden mit weniger als 600 Stimmberechtigten wenigstens ein Drittel
derselben und in Gemeinden mit 600 und mehr Stimmberechtigten wenigstens 200
stimmberechtigte Bürger bis zu einem bestimmten Zeitpunkte das schriftliche
Begehren um Anordnung einer Gemeindeabstimmung über die Frage stellen und an
der letzteren mindestens 1/3 der giltig Stimmenden der Anwendung dieses
Wahlverfahrens zustimme. Die Bundesversammlung verweigerte jedoch dieser
Verfassungsvorschrift die eidgenössische Gewährleistung (der Nationalrat durch
Beschluss vom 3. November 1910 mit 62 gegen 48 Stimmen, der Ständerat durch
Beschluss vom 14. Dezember 1910 mit 23 gegen 16 Stimmen). In der Botschaft des
Bundesrates (Bbl 1910 II 595 ff.) war ausgeführt worden, dass die
Differenzierung zwischen kleinen und grösseren Gemeinden hinsichtlich
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der Zahl der notwendigen Unterschriften für die Veranlassung einer
Gemeindeabstimmung gegen die Rechtsgleichheit verstosse. Ob auch die weitere
Bestimmung, dass bei dieser Gemeindeabstimmung 1/3 der giltig Stimmenden
entscheide, der BV widerspreche, möge zweifelhafter sein. Die Verfassungen von
Zug (§ 78 der Partialrevision von 1894) und Wallis (von 1907 Art. 87), wonach
eine Minderheit der Stimmberechtigten der Gemeinde (1/10 bezw. 1/5) durch
Petition die Anwendung des Verhältniswahlverfahrens auf die Gemeindewahlen
verlangen könne, seien s. Z. von der Bundesversammlung gewährleistet worden.
Die Regelung der luzernischen Verfassungsnovelle sei aber eine andere. Sie
verlange auf diese Petition hin noch eine Gemeindeabstimmung, um dann in
dieser die Mehrheit gegenüber einer Drittelsminderheit unterliegen zu lassen.
Das sei ein Missbrauch der republikanisch-demokratischen Formen. Wenn man
schon der Minderheit ein Sonderrecht einräumen wolle, so solle man auch sie
allein zur Erklärung ihres Willens auffordern. Rufe man die ganze Gemeinde zu
einer Willenskundgebung auf, so verlange es die republikanisch-demokratische
Staatsform (Art. 6 b
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 6 Individuelle und gesellschaftliche Verantwortung - Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei. |
Mehrheit gewollt habe. In den Beratungen der Bundesversammlung wurde ebenfalls
auf die aus § 3 Eingang der Vorlage inbezug auf die notwendige
Unterschriftenzahl sich ergebende Rechtsungleichheit verwiesen, daneben aber
unter Berufung auf Art. 6 b
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 6 Individuelle und gesellschaftliche Verantwortung - Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei. |
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hinausgehend - von Rednern der Mehrheit, insbesondere vom Referenten der
Kommissionsmehrheit im Nationalrat, die Auffassung vertreten: der Kanton könne
zwar, ohne mit Bundesrecht in Widerspruch zu geraten, auch für die
Gemeindewahlen das Verhältniswahlverfahren obligatorisch vorschreiben; dagegen
dürfe, wenn die kantonale Gesetzgebung den Gemeinden dieses Verfahren nur
fakultativ zur Verfügung stelle, seine Einführung immer nur auf Grund eines
Mehrheitsbeschlusses
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der Gemeinde, nicht auf das Begehren einer Minderheit von Bürgern geschehen,
gleichgiltig, ob sich dieses Begehren in der Form einer Petition oder bei
einer Abstimmung äussere. Auch die Verfassungen von Zug und Wallis hätten
daher nicht genehmigt werden sollen.
Am 9. September 1930 hat der Grosse Rat des Kantons Luzern ein «Gesetz
betreffend die Wahl der Gemeinderäte und der Ortsbürgerräte» erlassen, das
infolge ergriffenen Referendums in der Volksabstimmung vom 11. Januar 1931
angenommen worden ist. Es sieht für die Wahl der Gemeinderäte zwar als Regel -
entsprechend dem bisherigen Zustande - das absolute Mehr vor, bestimmt aber
dann in den §§ 2-4:
§ 2: Reicht im Monat Januar des Jahres, in welchem die ordentlichen
Erneuerungswahlen der Gemeinderäte stattfinden, wenigstens ein Sechstel der
Stimmberechtigten bei der Gemeinderatskanzlei zu Handen des Gemeinderates das
schriftliche Begehren ein, dass in der Gemeinde darüber abgestimmt werde, ob
die Mitglieder des Gemeinderates nach dem Verhältniswahlverfahren zu wählen
seien, so hat der Gemeinderat im Laufe des Monats Februar die Abstimmung auf
einen Sonntag vor Ende März anzuordnen.
Der Gemeinderat kann. auch von sich aus, ohne dass ein von den
Stimmberechtigten eingereichtes Begehren vorliegt, eine solche Abstimmung
anordnen.
Die Abstimmung erfolgt geheim mittelst der Urne.
§ 3: Das Verhältniswahlverfahren gilt als beschlossen, wenn sich zwei Fünftel
der gültig stimmenden Bürger dafür ausgesprochen haben.
§ 4: Die Stimmberechtigten oder der Gemeinderat können vor jeder neuen
Amtsperiode nach Massgabe des § 2 eine Wiederholung der Abstimmung darüber
veranlassen, ob für die Wahl der Mitglieder des Gemeinderates das
Verhältniswahlverfahren zur Anwendung zu kommen habe.
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Sprechen sich in einer solchen nochmaligen Abstimmung nicht zwei Drittel der
gültig stimmenden Bürger gegen das Verhältniswahlverfahren aus, so bleibt es,
wenn es bisher zufolge eines frühern Gemeindebeschlusses Geltung hatte, weiter
in Kraft.»
Eine staatsrechtliche Beschwerde einer Anzahl stimmberechtigter luzernischer
Gemeindeeinwohner gegen diese Bestimmungen hat das Bundesgericht abgewiesen.
Die Beschwerdeführer hatten darin - neben der Behauptung, dass es für die
getroffene Ordnung nach luzernischem Verfassungsrecht einer
Verfassungsrevision bedurft hätte - geltend gemacht dass es gegen die BV Art.
4 und 6 litt. b verstosse, wenn die Entscheidung über die Einführung dieser
neuen Wahlart in der Gemeinde einer Minderheit der Bürger übertragen werde,
und sich zur Begründung dafür auf den oben angeführten Beschluss der
Bundesversammlung von 1910 und ein von ihnen eingelegtes Rechtsgutachten von
Professor Fleiner in Zürich berufen. Die Anfechtung wurde in dem erwähnten
Punkte als unzutreffend erklärt, mit der
Begründung:
1. - Nach § 3 der kantonalen Verfassungsnovelle von 1909, dem die
Bundesversammlung die Gewährleistung versagt hat, sollte in Gemeinden mit
weniger als 600 Stimmberechtigten nur das unterschriftliche Verlangen von
wenigstens 1/3 der Stimmberechtigten, in grösseren Gemeinden dagegen immer
schon dasjenige von 200 Stimmberechtigten zur Anordnung einer
Gemeindeabstimmung über die Anwendung des Verhältniswahlverfahrens genügen.
Das heute angefochtene Gesetz enthält diese Unterscheidung nicht mehr: in
allen Gemeinden ist danach für die Anordnung einer solchen Abstimmung das
schriftliche Begehren von wenigstens 1/6 der Stimmberechtigten erforderlich
und in allen müssen sich bei der Abstimmung wenigstens 2/5 der giltig
Stimmenden für das Verhältniswahlverfahren ausgesprochen haben, damit
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es anwendbar wird. Die Rüge der Verletzung der Rechtsgleichheit, die die
Rekurrenten unter Berufung auf den Entscheid der Bundesversammlung von 1910
gegen das angefochtene Gesetz erheben, kann sich deshalb zum vorneherein nicht
auf eine ungleiche Behandlung der einzelnen Gemeinden hinsichtlich des
Bruchteils der Stimmberechtigten beziehen, die schriftlich das Begehren um
eine Gemeindeabstimmung gestellt oder bei ihr zu Gunsten der Verhältniswahl
gestimmt haben müssen. Auch wird nicht etwa behauptet, dass die Verhältniswahl
der Gemeindebehörden, wenn sie überhaupt eingeführt werden solle, von Kantons
wegen notwendig einheitlich für alle Gemeinden angeordnet werden müsse und
dass es unzulässig sei, wenn in den einen Gemeinden die Bestellung dieser
Behörden nach dem Verhältniswahlverfahren, in den anderen dagegen noch nach
dem System des absoluten Mehrs geschehe. In den Beratungen der
Bundesversammlung von 1910 ist es denn - auch von den Sprechern der Mehrheit -
ohne weiteres als selbstverständlich angesehen worden, dass der kantonale
Gesetzgeber, statt die Verhältniswahl für die Gemeinden obligatorisch
einzuführen, deren Einführung auch den Gemeinden überlassen könne und
lediglich eingewendet worden, dass alsdann ihre Anwendung nur von der Mehrheit
der Gemeinde beschlossen werden könne und das Begehren einer blossen
Minderheit nicht ausreiche. Da die Rekurrenten für die behauptete Verletzung
der BV lediglich auf jene Verhandlungen hinweisen, ohne eine selbständige
Begründung beizufügen, muss angenommen werden, dass auch sie damit nichts
anderes geltend machen wollen. Der Streit dreht sich also nicht darum, ob in
den einzelnen Gemeinden in dieser Beziehung (für die Wahl der
Gemeindebehörden) kraft divergierender dahingehender Willensäusserungen der
Bürgerschaft ein verschiedenes Wahlverfahren zur Anwendung kommen kann, ohne
dass dadurch Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
offenbar kein Zweifel bestehen
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kann (vgl. für einen verwandten Tatbestand bei der Genehmigung der Genfer
Verfassungsnovelle von 1912, Bbl. 1912 II 783, AS 28 S. 551). Die Missachtung
der Rechtsgleichheit, welche die Beschwerde behauptet, soll vielmehr in der
gleichen Anordnung liegen, aus der auch der Verstoss gegen Art. 6 lit. b
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 6 Individuelle und gesellschaftliche Verantwortung - Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei. |
hergeleitet wird, nämlich darin, dass schon eine Minderheit der
Stimmberechtigten oder Stimmenden in der Gemeinde die Anwendung des
Verhältniswahlverfahrens soll erzwingen können, es dazu also nicht eines
Mehrheitsbeschlusses der Gemeinde bedarf. Ausschliesslich in diesem Sinne
zieht denn auch das von den Rekurrenten eingelegte Gutachten Fleiner den Art.
4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
Grundsatz des auf der Demokratie beruhenden schweizerischen Staatsrechtes
bezeichnet wird, dass bei allen Sachentscheidungen - und eine solche sei die
Einführung eines neuen Wahlverfahrens - die Mehrheit den Ausschlag gebe
(«König ist») und in der Missachtung dieses Grundsatzes durch den luzernischen
Gesetzgeber ein Akt der Willkür und damit ein Verstoss gegen Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
erblickt wird.
2. - Die Forderung, dass die Ausübung der politischen Rechte nach
republikanischen (repräsentativen oder demokratischen) Formen gesichert sein
muss, wird in Art. 6 litt
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 6 Individuelle und gesellschaftliche Verantwortung - Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei. |
Verfassungen aufgestellt. Es ist indessen klar, dass sie a fortiori auch für
die kantonalen Gesetze in dieser Materie gelten muss. Während aber der
Entscheid darüber, ob eine kantonale Verfassung jener Anforderung entspricht,
zunächst der Bundesversammlung bei der durch Art. 6
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 6 Individuelle und gesellschaftliche Verantwortung - Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei. |
Beschlussfassung über die Gewährleistung der Kantonsverfassungen zusteht, kann
die Aufhebung eines einfachen kantonalen Gesetzes, das sich mit dem Postulat
in Widerspruch setzt, nur durch staatsrechtliche Beschwerde an das
Bundesgericht erwirkt werden.
3. - Dass die politische Bundesbehörde im Jahre 1910 einer luzernischen
Verfassungsbestimmung die Gewährleistung
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verweigert hat, die in dem gemäss dem Gesagten allein noch in Betracht
kommenden Punkte wesentlich den gleichen Inhalt hatte wie das heute
angefochtene Gesetz, kann für das Bundesgericht bei Beurteilung der
vorliegenden Beschwerde nicht ohne weiteres massgebend sein. Einmal hat der
Gewährleistungsbeschluss nach Art. 6
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Folgen, Pflichten für den Bund (Art. 5
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 5 Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns - 1 Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht. |
|
1 | Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht. |
2 | Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein. |
3 | Staatliche Organe und Private handeln nach Treu und Glauben. |
4 | Bund und Kantone beachten das Völkerrecht. |
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 85 * - 1 Der Bund kann auf dem Schwerverkehr eine leistungs- oder verbrauchsabhängige Abgabe erheben, soweit der Schwerverkehr der Allgemeinheit Kosten verursacht, die nicht durch andere Leistungen oder Abgaben gedeckt sind. |
|
1 | Der Bund kann auf dem Schwerverkehr eine leistungs- oder verbrauchsabhängige Abgabe erheben, soweit der Schwerverkehr der Allgemeinheit Kosten verursacht, die nicht durch andere Leistungen oder Abgaben gedeckt sind. |
2 | Der Reinertrag der Abgabe wird zur Deckung von Kosten verwendet, die im Zusammenhang mit dem Landverkehr stehen.47 |
3 | Die Kantone werden am Reinertrag beteiligt. Bei der Bemessung der Anteile sind die besonderen Auswirkungen der Abgabe in Berg- und Randgebieten zu berücksichtigen. |
Bedeutung als ein bundesgerichtliches Urteil, womit die staatsrechtliche
Beschwerde gegen ein kantonales Gesetz abgewiesen wird. Es mag dies
gelegentlich dazu führen, dass die Bundesversammlung auch bei der Frage, ob
eine kantonale Verfassungsvorschrift den Bedingungen des Art. 6 litt
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 6 Individuelle und gesellschaftliche Verantwortung - Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei. |
entspreche, eine freiere Stellung für sich in Anspruch nimmt, als sie dem
Bundesgericht zuzukommen vermag, das gegen kantonale Gesetzgebungsakte nur bei
feststehender Verfassungsverletzung, nicht schon bei erheblichen Zweifeln über
ihre Verfassungsmässigkeit einschreiten kann. Sodann ist der fragliche
Entscheid auch - wie die Beschlüsse der Bundesversammlung über die
Gewährleistung kantonaler Verfassungen überhaupt - nicht motiviert. Aus den
Voten einzelner Redner, welche die Beschwerde (mangels eines amtlichen
Stenogramms aus den Sitzungsberichten der «Neuen Zürcher Zeitung») anführt,
lässt sich ein sicherer Schluss auf die Gründe, welche für die Mehrheit
schliesslich bei Verweigerung der Gewährleistung bestimmend waren, nicht
ziehen. Dies umsoweniger, als gegenüber der damals in Betracht kommenden
Verfassungsbestimmung ausser der Einwendung, dass der Entscheid über die
Einführung eines neuen Wahlverfahrens in die Hände einer Minderheit gelegt
werde, noch eine weitere, für das heute streitige Gesetz nicht mehr
zutreffende erhoben worden war, nämlich die verschiedene Behandlung der
kleinen und grösseren Gemeinden hinsichtlich der Unterschriftenzahl, die für
die Anordnung einer Gemeindeabstimmung nötig sein sollte.
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4. - Sachlich aber erweist sich der damals aus dem ersteren Grunde gegen eine
Regelung, wie sie das heute angefochtene Gesetz enthält, erhobene Vorwurf des
Verstosses gegen Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 6 Individuelle und gesellschaftliche Verantwortung - Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei. |
Wenn das Verhältniswahlverfahren, was heute ausser Streit steht, als solches
mit Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 6 Individuelle und gesellschaftliche Verantwortung - Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei. |
vor der Revision des Art. 73
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 73 Nachhaltigkeit - Bund und Kantone streben ein auf Dauer ausgewogenes Verhältnis zwischen der Natur und ihrer Erneuerungsfähigkeit einerseits und ihrer Beanspruchung durch den Menschen anderseits an. |
und der Bundesversammlung in Sachen Jahn Bbl. 1900 III 594/5, IV 92; 1902 I
822) und wenn es infolgedessen, wie die Rekurrenten wiederum mit Recht nicht
bestreiten, durch das kantonale Gesetz auch für die Gemeindewahlen allgemein
vorgeschrieben werden kann, falls nicht etwa die KV die Bestimmung der Wahlart
bei solchen auch nach dieser Richtung den Gemeinden als Teil ihrer Autonomie
überlässt, so muss der kantonale Gesetzgeber es hier aber auch nur alternativ
neben der Wahl nach dem absoluten Mehr vorsehen können, in dem Sinne, dass es
statt der letzteren anwendbar wird, sobald ein gewisser Bruchteil der Wähler
der Gemeinde es wünscht. Darf der Staat die Verhältniswahl den Gemeinden sogar
gegen den Willen sämtlicher Gemeindebürger aufzwingen, so ist darin auch die
Möglichkeit als das Mindere eingeschlossen, die Gemeinde zur Anwendung dieses
Wahlverfahrens anzuhalten, wenn ein derartiges Minderheitsbegehren vorliegt.
Durch eine gesetzliche Regelung, welche in dieser Weise die Verhältniswahl für
Gemeindewahlen nur «fakultativ» vorsieht, wird keineswegs, wie in den
Beratungen der eidgenössischen Räte von 1910 angenommen worden ist und wie es
auch das Gutachten Fleiner auffassen möchte, die «Entscheidung über die
Einführung der Verhältniswahl in der Gemeinde» dieser «übertragen
(delegiert)». Daher ist auch der aus dieser unzutreffenden Voraussetzung
gezogene Schluss verfehlt, dass es infolgedessen für «die Einführung» eines
Mehrheitsbeschlusses der Gemeinde bedürfe und nicht eine Minderheit in der
Gemeinde der
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Mehrheit vorschreiben könne, was für sie Rechtens sein solle. Vielmehr wird
ausschliesslich die vom kantonalen Gesetz selbst bestimmte Anwendung dieses
Wahlverfahrens als die Ausnahme von der sonst geltenden Regel der Wahlen nach
dem System des absoluten Mehrs von einer Bedingung abhängig gemacht, die mit
dem Wesen der Einrichtung - auch erheblichen Minderheiten innert eines
Wahlkörpers eine Vertretung in den zu wählenden Behörden zu sichern - in
innerem sachlichen Zusammenhang steht, nämlich von der Bedingung, dass in der
Gemeinde tatsächlich eine solche erhebliche Minderheit vorhanden sei, der an
ihrer Vertretung gelegen ist. Mögen nun die Wahlen nach dem
Verhältniswahlverfahren oder mit absolutem Mehr stattfinden, immer ist es das
kantonale Gesetz und nicht der Wille der Gemeindebürgerschaft oder eines
Teiles derselben, worauf diese Wahlart beruht. Das Vorliegen oder
Nichtvorliegen eines Begehrens einer gewissen Anzahl von Wählern (nicht «der
Gemeinde») ist nur die Tatsache, das Merkmal, nach dem auf Grund der vom
staatlichen Gesetz getroffenen Entscheidung die Anwendbarkeit des einen oder
anderen Verfahrens sich bestimmt. Es kann infolgedessen auch durch diese
Regelung der von den Rekurrenten verfochtene Grundsatz des republikanischen
Staatsrechtes nicht verletzt sein, dass Sachentscheidungen immer von der
Mehrheit der zur Entscheidung berufenen öffentlichen Körperschaft ausgehen
müssen. Er ist dadurch gewahrt, dass der staatliche rechtschaffende Akt, das
Gesetz, dem die Regelung des Gegenstandes auch gegen den Willen der Gemeinden
zusteht und der daher nicht nur diese, sondern auch jeden Gemeindeeinwohner
bindet, von der Mehrheit des Staatsvolkes oder, beim System des bloss
fakultativen Gesetzesreferendums, wenn ein solches nicht ergriffen wurde oder
nicht zustandekam, von der Mehrheit der Volksvertretung beschlossen,
angenommen worden ist, wie es hier zutrifft. Anders würde es sich nur
verhalten, wenn nach kantonalem Verfassungsrecht die
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Entschliessung über die Anwendung des einen oder anderen Wahlverfahrens zur
Autonomie der Gemeinde gehörte, insofern als dann jedenfalls für einen solchen
staatlichen Rechtssatz eine Verfassungsnovelle notwendig wäre und ein
einfaches Gesetz nicht genügen würde. Dass dies im Kanton Luzern der Fall
wäre, wird aber von den Rekurrenten nicht behauptet und es kann davon auch
nach den oben Fakt. A wiedergegebenen Bestimmungen der KV offenbar nicht die
Rede sein.
Das angefochtene Gesetz weicht allerdings von anderen ähnlichen kantonalen
Ordnungen, wie z. B. den durch die Bundesversammlung s. Z. gewährleisteten
Verfassungen von Zug und Wallis, nach einer Richtung ab. Für die Anwendung des
im Gesetz alternativ neben dem System der einfachen Mehrheitswahlen
vorgesehenen Verhältniswahlverfahrens reicht danach nicht schon das
schriftliche Begehren eines Bruchteils der Stimmberechtigten der Gemeinde aus.
Es muss ausserdem an einer daraufhin anzuordnenden Gemeindeversammlung, bei
der nicht nur die Anhänger, sondern auch die Gegner der Verhältniswahl zur
Willenskundgebung aufgerufen werden, ein bestimmter grösserer Bruchteil der
Stimmenden sich im gleichen Sinne ausgesprochen haben. Doch ist diese
Verschiedenheit unerheblich. Denn auch damit wird die Entscheidung über die
«Einführung der Verhältniswahl», die bereits durch das kantonale Gesetz
getroffen ist, nicht zum Gegenstand eines «Gemeindebeschlusses» im
eigentlichen Sinne, einer autonomen Entschliessung der Gemeinde gemacht. Es
liegt darin .nur eine besondere Art der Feststellung darüber, ob dieses
Wahlverfahren wirklich, wie es das kantonale Gesetz für dessen Anwendbarkeit
fordert, dem Willen einer genügenden Anzahl von Wählern entspricht. Daran
ändert auch die in § 3 des angefochtenen Gesetzes gebrauchte Wendung: «das
Verhältniswahlverfahren gilt als beschlossen» und die Bezeichnung des
Ergebnisses der Abstimmung als «Gemeindebeschluss» in § 4 nichts.
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Massgebend muss der wirkliche Inhalt des Gesetzes sein. Handelt es sich danach
sachlich, wie dargelegt, nicht um eine Willensäusserung der Gemeinde als
solcher, als öffentlicher Körperschaft, sondern einfach um eine Feststellung
in dem oben umschriebenen Sinne, so kann das Gesetz nicht deshalb als
verfassungswidrig erklärt werden, weil es sich für die Bezeichnung dieses
Vorganges einer ungenauen, unzutreffenden Ausdrucksweise bedient. Auch ist,
sobald einmal das Verhältniswahlverfahren durch das kantonale Gesetz auch nur
alternativ, neben der einfachen Mehrheitswahl, unter der Voraussetzung
vorgesehen werden kann, dass es von einer bestimmten Minderheit der
Stimmberechtigten verlangt wird, kein verfassungsrechtlicher Grund
ersichtlich, warum das Vorhandensein dieser Minderheit nicht ebensogut wie mit
einer Petition durch eine Gemeindeabstimmung sollte festgestellt werden
können, bei der auch die Gegner Gelegenheit zur Kundgabe ihres Willens
erhalten, mag man schon vielleicht dieses Vorgehen als kaum zweckmässige
Komplikation und im Interesse der Verhütung vermeidlicher Parteikämpfe in der
Gemeinde als nicht sehr glücklich betrachten. Schon die Sprecher der Mehrheit
in der Bundesversammlung im Jahre 1910 haben denn auch im Gegensatz zur
Botschaft des Bundesrates vom 1. April 1910 den Standpunkt eingenommen, dass
diese besondere Art der Feststellung des Vorhandenseins einer hinreichenden
Minderheit gegenüber der sonst üblichen im Wege einer blossen Petition die
Beanstandung der Vorlage aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 6 Individuelle und gesellschaftliche Verantwortung - Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei. |
könnte. Auf demselben Boden steht das Gutachten Fleiner. Es betrachtet die
beiden Ermittlungsarten ebenfalls als grundsätzlich gleichwertig und erblickt
die behauptete Verletzung von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
einer Minderheit in der Gemeinde, gleichgiltig in welcher Form, der
entscheidende Einfluss auf die Einführung einer bestimmten Wahlart eingeräumt
werde.
Es ist aber bereits ausgeführt worden. dass dieser
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Einwand deshalb nicht Stich hält, weil die Anwendung des
Verhältniswahlverfahrens - gleich wie die mangels entsprechender
Willenskundgabe einer hinreichenden Minderheit Platz greifende Wahl nach dem
System des absoluten Mehrs, - immer auf dem kantonalen Gesetz, also einem
rechtsetzenden Akte des Staates und nicht auf einer der Gemeinde überlassenen
Entschliessung beruht und jener Akt seinerseits im Mehrheitsverfahren
zustandegekommen ist (vgl. im gleichen Sinne auch BURCKHARDT Kommentar 2.
Aufl. zu Art. 6
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 6 Individuelle und gesellschaftliche Verantwortung - Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei. |
durch die Mehrheit des Volkes oder seiner Vertreter angenommenes Gesetz die
Entscheidung über eine bestimmte Frage, z. B. die Einführung des
Proportionalwahlverfahrens, von der Entschliessung einer Minderheit abhängig
macht und noch weniger, wenn es darüber in den Gemeinden die Minderheit
entscheiden lässt»). Da der Grundsatz, dass in allen Sachfragen die Mehrheit
den Ausschlag geben muss - mag man ihn nun in Art. 6 litt
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 6 Individuelle und gesellschaftliche Verantwortung - Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei. |
miteingeschlossen ansehen oder mit dem Gutachten Fleiner als eine aus den
demokratischen Grundlagen des schweizerischen Staatsrechtes auch ohne
besondere Vorschrift sich ergebende selbstverständliche Folgerung ansehen -
demnach durch die angefochtene Regelung nicht verletzt sein kann, braucht
nicht untersucht zu werden, ob ihm wirklich die absolute Geltung zukomme, die
von den Rekurrenten behauptet wird, oder ob und inwiefern nicht davon unter
gewissen Umständen Ausnahmen denkbar sind, ohne dass dadurch die BV verletzt
würde. Eine mögliche Ausnahme geben übrigens die Rekurrenten selbst durch die
Berufung auf das Gutachten Winkler zu, das im Jahre 1910 vom Stadtrat Luzern
der Bundesversammlung gegen die Gewährleistung der damaligen luzernischen
Verfassungsnovelle eingereicht worden ist, indem hier, ohne damit eine Kritik
zu verbinden, ausgeführt wird: es komme allerdings hin und wieder vor, dass
für das Abweichen von einer gesetzlichen Norm oder für die
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Abänderung eines bestehenden Zustandes eine qualifizierte Mehrheit (z. B. 2/3)
statt des absoluten Mehrs gefordert werde. Auch dies bedeutet aber im Ergebnis
nichts anderes, als dass in solchen Fällen eine Minderheit (von 1/3 plus 1 der
Stimmenden) der Mehrheit ihren Willen aufzwingen kann.