S. 66 / Nr. 12 Muster- und Modellschutz (d)

BGE 56 II 66

12. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 29. Januar 1930 i. S.
Texor A.-G. gegen Jakob Rohner A.-G.

Regeste:
Abgrenzung der Berufung von der kantonalen Nichtigkeitsbeschwerde.
Art. 12 Ziff. 1 Musterschutzgesetz.
Gegenstand des Experten- und Zeugenbeweises bei der Frage, ob ein Muster bei
der Hinterlegung neu gewesen sei.
Für die Frage der Neuheit eines Musters kommen grundsätzlich nur die
Verhältnisse im Inland in Betracht. Eine einmalige Bestellung des Musters
durch einen Agenten des Inhabers vor der Hinterlegung könnte der Neuheit
nichts schaden, auch wenn bei ausschliesslicher Exportware ausnahmsweise auch
auf die Verhältnisse im Ausland abzustellen wäre.

A. - Die Klägerin hat am 20. Februar 1925 ihre Stickereimuster Nr. 40031 und
40032 und am 22. Januar 1927 Nr. 43885 beim eidgenössischen Amt für geistiges
Eigentum hinterlegt. Die den Mustern entsprechenden Erzeugnisse der Klägerin
sind vorwiegend oder ausschliesslich für die Ausfuhr nach Marokko bestimmt. Im
Jahre 1926, vor der Hinterlegung des Musters Nr. 43885, war dort durch den
Vertreter der Klägerin, Jakob Buenos & Fils ainé in Rabat eine Bestellung auf
diesem Muster aufgenommen worden.

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B. -Die Klägerin stellte fest, dass die Beklagte die drei Muster nachgemacht
und in den Handel gebracht habe, und zwar das Muster der Klägerin Nr. 40 031
unter Nr. 6735, Nr. 40032 der Klägerin unter Nr. 6597, 6320 A und 6597 A, und
Nr. 43 885 der Klägerin unter Nr. 6594 und 6106 A. Sie hat deshalb am 18.
Februar 1928 eine Klage gegen die Beklagte beim Handelsgericht des Kantons St.
Gallen anhängig gemacht und die Rechtsbegehren gestellt:
1. Es sei gerichtlich zu erkennen, die Beklagte habe sich der widerrechtlichen
Kopie resp. Nachahmung der klägerischen Muster 40031, 40032 und 43885 schuldig
gemacht.
2. Die Beklagtschaft habe die fraglichen Muster aus der Kollektion zu
entfernen und die allfällig vorhandenen Warenbestände dem Gerichte resp. der
Klägerschaft zur Verfügung zu stellen.
3. Die Beklagte habe der Klägerin je 25% des direkten und indirekten Schadens
auf den von der Beklagten nach diesen Mustern gelieferten Quantitäten und auf
den klägerischen Preisen berechnet, eventuell einen Betrag nach gerichtlicher
Expertise und richterlichem Ermessen zu bezahlen.
4.- Beweiserhebung.
C. -Die Beklagte hat Widerklage mit dem Rechtsbegehren erhoben, der
Musterschutz der Nr. 40031, 40032, und 43 885 der Klägerin sei ungültig zu
erklären.
D. - Durch Zwischenurteil vom 27. Juni 1928 hat das Handelsgericht des Kantons
St. Gallen gefunden, dass der Vorwurf der Nachahmung begründet sei, da trotz
geringfügiger Abweichungen der Gesamteindruck der Muster derselbe sei. Die
Einrede der mangelnden Neuheit hat es abgewiesen, soweit sich die Beklagte auf
die einmalige Bestellung in Marokko auf dem Muster Nr. 43885 berufen hatte.
Durch Endurteil vom 21. November 1928 hat das Handelsgericht erkannt:

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1. Die Beklagte wird der Nachahmung der klägerischen Muster 40031, 40032 und
43 885 schuldig erklärt.
2. Die Beklagte wird pflichtig erklärt, ihre Dessins Nr. 6735, 6597 und 6594
aus der Kollektion zu entfernen.
3. Die Beklagte hat die Klägerin mit 39014 Fr. 80 Cts. zu entschädigen; die
Mehrforderung der Klägerin wird abgewiesen.
4. Die Widerklage wird abgewiesen.
E. - Die Beklagte hat gegen das handelsgerichtliche Urteil rechtzeitig die
Berufung an das Bundesgericht erklärt und den Antrag gestellt, die Klage
abzuweisen und die Widerklage zu schützen.
F. - Da die Beklagte gleichzeitig die Kassationsbeschwerde an das
Kassationsgericht des Kantons St. Gallen ergriffen hat, hat die Beurteilung
der Berufung bis zum Entscheide über die Nichtigkeitsbeschwerde verschoben
werden müssen. Durch Urteil vom 27. Juni 1929 hat das Kassationsgericht die
Beschwerde abgewiesen.
G. - An der Berufungsverhandlung hat die Beklagte und Berufungsklägerin ihren
Antrag auf Abweisung der Klage und Gutheisssung der Widerklage erneuert; die
Klägerin und Berufungsbeklagte hat Abweisung der Berufung und Bestätigung des
Urteils des Handelsgerichtes beantragt.
Das Bundesgericht zieht an Erwägung:
1.- Sowohl die Klage, als die Widerklage hatte eine zivilrechtliche
Streitigkeit über den Musterschutz aufgeworfen, über die nach Art. 33 Abs. 1
des BG vom 30. März 1900 betreffend die gewerblichen Muster und Modelle und
Art. 2 des st. gallischen Gesetzes über das Handelsgericht dieses als die
durch das Bundesrecht geforderte einzige kantonale Instanz zu erkennen hatte.
Es ist den Kantonen nach Bundesrecht jedoch nicht verwehrt, den Parteien auch
in Musterschutzsachen ein ausserordentliches Rechtsmittel an ein oberes
kantonales Gericht zur Geltendmachung von Mängeln einzuräumen, die durch die

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Berufung an das Bundesgericht nicht gerügt werden können. Wurde ein solches
Rechtsmittel erhoben und beurteilt, so hat das Bundesgericht nicht
nachzuprüfen, ob die Gründe erfüllt seien, die nach kantonalem Recht zur
Gutheissung des Rechtsmittels führen. Seine Prüfung beschränkt sich darauf, ob
das kantonale Rechtsmittel von der Berufung an das Bundesgericht richtig
abgegrenzt worden sei.
Im vorliegenden Fall hat das Kassationsgericht die kantonale
Nichtigkeitsbeschwerde richtig von der Berufung abgegrenzt. Es hat
insbesondere mit Recht abgelehnt, die Rechtserheblichkeit von Tatsachen zu
beurteilen, welche die Beklagte zum Beweis verstellt hatte, über welche das
Handelsgericht aber den Beweis wegen Belanglosigkeit nicht abgenommen hatte.
Die Frage, ob Tatsachen und Beweisanträge aus Gründen des materiellen Rechtes
erheblich sind, hat das Bundesgericht auf dem Wege der Berufung nachzuprüfen,
und es kann eine Ergänzung der Beweise anordnen, auch wenn der Berufungskläger
einen Antrag auf Rückweisung der Sache nicht gestellt hat (vgl. WEISS, Die
Berufung an das Bundesgericht S. 255, BGE 38 II S. 599 ff.). Da sich das
Kassationsgericht also eines Urteiles über Streitfragen enthalten hat, die im
Zusammenhang mit der Frage der Verletzung von Bundesrecht Gegenstand einer
Berufung bilden können, ist dem bundesrechtlichen Satz Genüge getan, dass die
Kantone in Musterschutzsachen nur eine Instanz einsetzen dürfen.
2.- Die Beklagte hatte sich auf den Zeugen Grieder berufen, dass die Muster
Nr. 40031 und 40032 der Klägerin Ramagemuster seien, deren wesentliche
Eigenschaft in der rhythmischen Anordnung, besonders in der wellenförmigen
Stich- und Rankenführung, nicht in der Wahl der Blumen- und Blattformen liege.
Das Handelsgericht hat den Beweis nicht abgenommen, weil die Feststellung, ob
eine unzulässige Nachahmung vorliege, Sache des Richters und nicht eines
Zeugen sei. Gegenstand eines

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Zeugenbeweises hätte nur sein können, dass ein neuheitszerstörendes Muster
schon vor der Hinterlegung der Muster der Klägerin bekannt gewesen sei; einen
solchen Beweis durch den Zeugen Grieder habe die Beklagte nicht angetragen.
Diese Entscheidung des Handelsgerichtes kann das Bundesgericht nicht
nachprüfen; denn es handelt sich hier nicht um die Rechtserheblichkeit von
Tatsachen. Die Frage, was Gegenstand eines Zeugenbeweises sein kann und was
nicht, gehört dem kantonalen Prozessrecht an, und die Feststellung, dass die
Beklagte den für einen Zeugenbeweis geeigneten Beweis nicht angeboten habe,
ist für das Bundesgericht verbindlich.
Nachdem die Beklagte auf die Einvernahme des Zeugen Hörler verzichtet hatte,
blieb noch ihr Beweisantrag durch Expertise aufrecht, dass die Muster der
Klägerin bei der Hinterlegung nicht mehr neu gewesen seien. Das Handelsgericht
hat die Anordnung einer Expertise aber abgelehnt, weil es Sache der Parteien
und nicht eines Sachverständigen sei, nach neuheitszerstörenden Tatsachen zu
forschen. Allein Art. 6 des BG vom 30. März 1900 über die gewerblichen Muster
und Modelle verbietet nicht, wie die Vorinstanz anzunehmen scheint, eine
Expertise darüber, ob Tatsachen gegeben seien, die geeignet sind, die
Vermutung der Neuheit eines Musters als zerstört erscheinen zu lassen. Es kann
vorkommen, dass eine Partei den Beweis, ein Muster sei in den beteiligten
Verkehrskreisen schon bekannt gewesen, gar nicht anders als durch Berufung auf
einen Sachverständigen leisten kann, so etwa, wie in einzelnen Fällen das
Bestehen oder Nichtbestehen einer Handelsübung zum Gegenstand einer Expertise
gemacht werden kann, weil zum Nachweis besondere Sachkenntnis erforderlich
ist. Zumeist kann jedoch auch in einem solchen Fall Beweisthema nicht die
Frage sein, ob die beteiligten Kreise das Muster schon gekannt haben denn sie
würde in ihrer Allgemeinheit und Weite für den Sachverständigen eine
unmögliche Aufgabe sein. Die Begrenzung liegt der beweispflichtigen Partei ob;
sie hat

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zur Begründung ihrer Einrede Tatsachen anzuführen, die, wenn sie durch die
Sachkunde des Experten erwiesen werden, geeignet sind, den Richter zur
Verneinung der Frage der Neuheit zu veranlassen. Diese Tatsachen können den
Ort und die Zeit des Bekanntseins, die Personen oder Personenkreise, welche
die Muster gekannt haben, den Ersteller der Muster, die Art der Versendung und
des Verkaufes, die Zahl der Verkäufe, die Zusammensetzung der Kundenkreise
usw. betreffen; es sind die tatsächlichen Unterlagen, welche die blosse
Behauptung der fehlenden Neuheit erst zu einer substantierten Einrede und die
Aufgabe des Sachverständigen zu einer bestimmten und konkreten Aufgabe machen
können.
Im vorliegenden Fall hat das Handelsgericht festgestellt, dass die Beklagte
überhaupt keine Tatsachen angeführt habe, die abgesehen von ihren übrigen
Beweisanträgen noch Gegenstand einer Expertise sein könnten. Diese
Feststellung ist durch die Beklagte vor Bundesgericht nicht mehr in Abrede
gestellt worden, und sie ist für das Bundesgericht überdies verbindlich. Es
besteht also auch in dieser Richtung kein Anlass, eine Beweisergänzung
anzuordnen.
3.- Soweit die Widerklage in Betracht fällt, bleibt zu entscheiden übrig, ob
das erwiesene und nicht bestrittene einmalige, in Marokko mit der Agenturfirma
der Klägerin vor der Hinterlegung abgeschlossene Kaufgeschäft auf dem Muster
Nr. 43885 die Neuheit desselben zerstört habe. Das Handelsgericht hat die
Frage verneint, da nach dem Urteil des Bundesgerichtes i. S. Alfred Bühler
A.-G. gegen die A.-G. Möbelfabrik Horgen-Glarus vom 31. Januar 1928 (BGE 54 II
S. 58
ff.) für die Frage der Neuheit überhaupt nur die Verhältnisse im
Inlande, nicht die im Auslande, massgebend seien. Die Beklagte hat diese
Auffassung bekämpft und sich ihr gegenüber auf den Wortlaut des Art. 12 Ziff.
1 des Musterschutzgesetzes und seine Entstehungsgeschichte, sowie auf die
Erwägung berufen, dass für manche schweizerische Industrien und

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Erzeugnisse, wie gerade für die Stickerei, die Kunden und beteiligten
Verkehrskreise überhaupt nur im Auslande zu finden seien. Es rechtfertigt
sich, die Frage nochmals zu erörtern.
Art. 12 Ziff. 1 des BG über die gewerblichen Muster und Modelle vom 30. März
1900 lautet: «Die Hinterlegung eines Musters oder Modelles ist ungültig, wenn
es zur Zeit der Hinterlegung nicht neu gewesen ist; ein Muster oder Modell
gilt nach diesem Gesetz als neu, solange es weder im Publikum, noch in den
beteiligten Verkehrskreisen bekannt ist.» Aus diesem Wortlaut ergibt sich
keine Entscheidung. Daraus, dass das Gesetz einfach vom Publikum und den
beteiligten Verkehrskreisen spricht und eine örtliche Grenze nicht zieht,
lässt sich nicht schliessen, wie die Beklagte meint, dass jedes Bekanntsein,
gleichgültig wo, die Neuheit zerstöre. Dieser Sinn lässt sich aus dem Gesetz
nur herauslesen, wenn man ihn entweder vorher schon hineingelegt hat, oder
wenn man annimmt, der Gesetzgeber habe an alles gedacht und jedes Mal auch
durch sein Schweigen, d. h. durch die Unterlassung der gegenteiligen,
ausdrücklichen Anordnung, eine Entscheidung geben wollen. Ein solches
Auslegungsverfahren würde den Regeln nicht entsprechen, die das ZGB in Art. 1
für die Auslegung des gesamten Bundesprivatrechtes aufgestellt hat und die auf
der Anerkennung beruhen, dass ein Gesetz lückenhaft sein kann.
Auch aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes und seines Art. 12, sowie aus
dem Wortlaut des frühern Gesetzes über die gewerblichen Muster und der andern
Gesetze über das geistige Eigentum lässt sich, entgegen der Ansicht der
Beklagten, nichts für die Entscheidung der Frage ableiten. Es ist richtig,
dass Art. 2 des BG über die Erfindungspatente vom 29. Juni 1888 im Gegensatz
zu dem kurz darauf erlassenen Bundesgesetz über die gewerblichen Muster und
Modelle vom 21. Dezember 1888 ausdrücklich bestimmte, nur das Bekannt sein

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in der Schweiz schade der Neuheit, und dass das geltende Bundesgesetz über die
Erfindungspatente vom 21. Juni 1907, revidiert 9. Oktober 1926, im Wortlaut
des Art. 4 in gleicher Weise von dem geltenden Musterschutzgesetz, Art. 12
Ziff. 1 abweicht. Allein auch daraus lässt sich ein zwingender Schluss nicht
ziehen, es wäre denn, dass man in unzulässiger Weise davon ausgehen wollte, in
solchen Verschiedenheiten zwischen ähnlichen und ungefähr zu gleicher Zeit
erlassenen Gesetzen liege stets eine Absicht, nie eine Unvollkommenheit des
Gesetzgebers.
Die Beklagte hat sich darauf berufen, dass unter der Herrschaft des frühern
Musterschutzgesetzes in der Literatur die Ansicht vertreten worden sei, auch
das Bekanntsein im Ausland zerstöre nach dem Gesetz die Neuheit eines Musters
(ALFRED SIMON, Der gewerbliche Rechtsschutz in der Schweiz S. 75) und dass
diese Lehrmeinung dem Gesetzgeber zur Zeit der Neuordnung des
Musterschutzwesens im Jahre 1899/1900 bekannt gewesen sei. Allein auch daraus
lässt sich nicht in zwingender Weise schliessen, der Gesetzgeber habe die
vereinzelte Ansicht übernommen, da er ihr nicht widersprochen habe; denn es
kommt nicht selten vor, dass Auffassungen und Vorschläge der Rechtsliteratur
bei der Gesetzgebung nicht beachtet werden. Es ist nicht statthaft, an
geschichtliche Tatsachen den Masstab der Logik auszulegen und so den Sinn des
Gesetzes herzuleiten; die Folgerichtigkeit würde übrigens dazu führen, dass
man noch Beweise darüber abnehmen müsste, ob der historische Gesetzgeber die
Lehrmeinungen auch wirklich gekannt habe, von denen man annimmt, er habe sie
berücksichtigt.
Bei Erlass des geltenden Gesetzes haben sowohl der Bundesrat in seiner
Botschaft vom 24. November 1899 (Bundesblatt 1899 V S. 619), als der deutsche
und der französische Berichterstatter des Nationalrates (Stenographisches
Bulletin 1900 S. 113/114) betont, dass die Umschreibung des Begriffes der
Neuheit in Art. 12 des Gesetzesentwurfes klar und eindeutig sei. Allein damit

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wollte man nicht sagen, dass dadurch auch die vorliegende Streitfrage
entschieden worden sei. Die Ausführungen des Bundesrates und der
Berichterstatter der Räte beziehen sich darauf, dass das Bundesgericht unter
dem frühern Gesetz für die Neuheit eines Musters das Erfordernis aufgestellt
hatte, es müsse das Erzeugnis einer originellen, schöpferischen Betätigung der
Geisteskraft sein, und sie wollten ausdrücken, dass man im neuen Gesetz dieses
Merkmal aus dem Begriff der Neuheit absichtlich fallen lassen wolle (vgl. BGE
29 II S. 367). Wenn der deutsche Berichterstatter seinen Darlegungen noch
beigefügt hat, dass nach dem neuen Gesetz ein Musterschutz nur bestehe, wenn
das Muster von Anfang an und vor dem Verkauf hinterlegt werde, so gab er damit
offenbar nur eine nähere Schilderung des kurzen Gesetzeswortlautes, ohne die
vorliegende Streitfrage damit anzuschneiden. Selbst wenn man also, wie die
Beklagte dazu neigen würde, der Enstehungsgeschichte eines Gesetzes bei dessen
Auslegung eine entscheidende Bedeutung beizumessen, liesse sich im
vorliegenden Falle nichts dafür ableiten, dass auch das Bekanntsein eines
Musters im Ausland eine Neuheit zerstöre.
Wenn sich der Sinn des Gesetzes nicht aus seinem Wortlaut ergibt, kann aber
nicht massgebend sein, was in den Gesetzesmaterialien steht oder was bei der
Beratung des Gesetzes in den Räten gesagt worden ist. Man kann die Materialien
heranziehen, wenn das Gesetz dunkel ist, um auf den möglichen Sinn überhaupt
zu stossen, aber eine verbindliche Kraft kommt ihnen nicht zu; sie sind blosse
Hilfsmittel. Verbindlich werden durch die Gesetzesverkündung nur die durch
seinen Wortlaut vermittelten Gedanken. Nur der unzweideutige Sinn bleibt
weiterer Prüfung entzogen. Reicht der Wortlaut zur Entscheidung einer Frage
nicht aus, weil er unvollständig oder zweideutig ist, so hat ihn der Richter
nach seinem vernünftigen Urteil zu ergänzen. Das Gesetz trennt sich also bei
seinem Erlass vom tatsächlichen Willen des

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geschichtlichen Gesetzgebers. (BURCKHARDT, Die Lücken des Gesetzes und die
Gesetzesauslegung, S. 66 und 75). Das Bundesgericht hat sich schon in frühern
Urteilen auf diesen Boden gestellt. (Vgl. BGE 34 II S. 826 und CLAUDE DU
PASQUIER, Modernisme Judiciaire et Jurisprudence Suisse S. 206.)
Die ausländische Gesetzgebung, Rechtsprechung und Wissenschaft, auf die man
zum Vergleich hätte verweisen können, ist geteilt. Das belgische
Musterschutzgesetz von 1806 spricht sich über die Streitfrage nicht aus; doch
hat das Gericht von Lüttich in einem Urteil vom 27. Mai 1903 (Propriété
Industrielle 19. Bd. 1903 S. 113 ff.) das Territorialprinzip angenommen. In
Deutschland wird unterschieden zwischen offenkundigem Gebrauch im Inland und
offenkundiger Bekanntmachung im Ausland oder Inland; diese Unterscheidung
hängt jedoch mit dem Wesen des deutschen Gebrauchsmusters und der Eigenart der
deutschen Musterschutzgesetzgebung zusammen. (Vgl. JOSEF KOHLER, Musterrecht
S. 78). Nach Art. 3 der geltenden französischen loi du 14 juillet 1909 sur les
dessins et modèles ist der Ersteller des Musters geschützt, nicht der
Hinterleger, der das Muster gar nicht geschaffen hat; die Veröffentlichung
eines Musters vor der Hinterlegung schadet der Schutzfähigkeit nicht, ob sie
im In- oder Ausland erfolgt sei. (GEORGES CHABAUD, La protection légale des
dessins et modèles, p. 98 et 265).
Im schweizerischen Schrifttum wird die Frage meistens nicht erörtert (GUIDO
DUBLER, Der urheberrechtliche Schutz der Kunstwerke und der Muster und Modelle
S. 43; E. GUYER, Das schweizerische Bundesgesetz über die gewerblichen Muster
und Modelle S. 80 ff.; MACKENROTH, Nebengesetze zum Schweizerischen
Obligationenrecht S. 262 ff.); nur E. GUYER (Kommentar S. 48) deutet an, dass
er gegenüber Simon (a.a.O. S. 75) das Territorialitätsprinzip vorzieht.
Die vom Bundesgericht in seinem Urteil vom 31. Januar 1928 i. S. Alfred Bühler
A.-G. gegen A.-G. Möbelfabrik

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Horgen-Glarus (BGE 54 II S. 58 ff.) vertretene Auffassung ist grundsätzlich
aufrecht zu halten. Als Grund führt die Vorinstanz mit Recht an, dass der
Musterschutz eine Monopolstellung im Inland gewährt, und dass diese Stellung
der Lohn ist für eine Bereicherung der inländischen Kultur durch neue Formen
und Erfindungen. Es rechtfertigt sich daher, bei der Prüfung der Frage, ob
eine Bereicherung wirklich vorliege, auf die inländischen Verhältnisse
abzustellen. Das Bundesgesetz selber scheint diesen Gedanken auszudrücken,
indem es in Art. 11 Ziff. 2 den Hinterleger des Schutzes verlustig erklärt,
wenn er das Muster im Inland nicht ausführt, im Ausland die Einführung des
Musters aber veranlasst oder duldet. Obwohl das schweizerische Recht, im
Gegensatz zum französischen, der Hinterlegung konstitutive Wirkung beilegt,
ist in diesem Zusammenhang zu erwägen, dass die französische Regelung einen
richtigen Grundgedanken enthält, nämlich den, dass der Schutz wenn möglich in
letzter Linie dem Schöpfer des Musters und nicht dem Muster als solchem
zukommen soll. Die schrankenlose Anwendung des Universalitätsprinzipes würde
überdies den Musterdiebstahl fördern; der Nachahmer hätte es oft in der Hand,
nicht nur dem Geschädigten den Prozess sehr zu erschweren, sondern durch die
nachträgliche Berufung auf ein nur zufälliges Bekanntsein des Musters an
irgendeinem ausländischen Ort, das mit der Nachahmung in gar keinem
Zusammenhang steht, sein an sich verwerfliches Handeln zu entschuldigen.
Die Anwendung des Territorialitätsprinzipes führt auch dazu, die
Übereinstimmung mit den andern Gesetzen über das geistige Eigentum zu
erzielen, nämlich mit Art. ~ des BG über die Erfindungspatente vom 21. Juni
1907 und mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtes in den Markenschutzsachen
(vgl. BGE 39 II S. 117). Wie schon die Vorinstanz ausgeführt hat, ist diese
Übereinstimmung wünschenswert, weil das Rechtsbewusstsein verschiedene
Auslegungen gleichartiger Gesetze ohne

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triftige und offensichtliche Gründe nicht versteht. Dazu kommt, das der
Musterschutz unter den mit andern Immaterialgüterrechten gemeinsamen
Oberbegriff des gewerblichen Urheberrechtes fällt, nachdem das neue
Urheberrechtsgesetz vom 7. Dezember 1922 die Muster der angewandten Kunst und
des Kunstgewerbes ausgeschieden und dem Urheberrecht für literarische und
künstlerische Erzeugnisse untergeordnet hat. (Vgl. GIERKE, Deutsches
Privatrecht I S. 769, 840.)
Bei der Anwendung des Territorialitätsprinzipes kann sich freilich mitunter
die Frage stellen, ob aus dem Verkauf und der Verbreitung eines Musters im
Ausland nicht zu schliessen sei, dass es dadurch auch im Inland bekannt
geworden sei. Diese Frage ist jedoch im vorliegenden Falle nicht zu
entscheiden, weil die Beklagte nicht behauptet hat, durch den einmaligen
Verkauf des Musters Nr. 43885 der Klägerin in Marokko sei es auch in den
schweizerischen Verkehrskreisen bekannt geworden.
Dagegen frägt es sich, ob nicht ausnahmsweise doch auf die ausländischen
Verhältnisse abzustellen sei, wenn es sich um ein Muster einer schweizerischen
Exportindustrie handelt, das überhaupt nur im Ausland abgesetzt wird. Ein
solches Muster scheint hier vorzuliegen; immerhin geht aus den Akten nicht
hervor, ob es nach der Hinterlegung auch in der Schweiz verkauft worden ist.
Wenn man auch in solchen Fällen die Verbreitung eines Musters im Ausland bei
der Entscheidung der Frage der Neuheit nicht berücksichtigen würde, wäre die
Neuheit überhaupt keine Voraussetzung des Musterschutzes; denn die einzige
Möglichkeit, wegen der ein solches Muster nicht mehr neu sein könnte, fiele
nicht in Betracht. Die Frage kann jedoch im vorliegenden Fall offen gelassen
werden. Auch wenn nämlich ausnahmsweise die Verhältnisse in Marokko zu
berücksichtigen wären, weil sich nur dort die beteiligten Verkehrskreise
befinden, könnte man im vorliegenden Fall doch nicht davon sprechen, dass das
Muster Nr. 43885 unter dem dortigen Publikum und

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den beteiligten Verkehrskreisen bekannt gewesen sei. Zum Bekanntsein genügt
nicht, dass ein Muster ein einziges Mal bestellt wird, zumal von einem Agenten
des Verkäufers, der in dieser Hinsicht als Vertrauensmann des Verkäufers zu
gelten hat. Das Erfordernis des Musterschutzes, dass die Hinterlegung vor dem
Verkauf stattzufinden hat, ist nicht so aufzufassen, dass in allen Fällen auch
ein einmaliges Zeigen schon ein Bekanntsein begründet; denn es liegt nahe,
dass ein Verkäufer sich vor der Hinterlegung überzeugen will, ob das Muster
den mutmasslichen Abnehmern gefallen wird.
Da das Muster Nr. 43885 der Klägerin bei der Hinterlegung neu war, ist die
Widerklage abzuweisen, und zwar in Bezug auf alle drei Muster der Klägerin.
4.- . . .
5.- . . .
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Handelsgerichtes des Kantons
St. Gallen vom 27. Juni. 21. November 1928 wird bestätigt.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 56 II 66
Datum : 01. Januar 1930
Publiziert : 29. Januar 1930
Quelle : Bundesgericht
Status : 56 II 66
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Abgrenzung der Berufung von der kantonalen Nichtigkeitsbeschwerde.Art. 12 Ziff. 1...


BGE Register
34-II-815 • 38-II-591 • 39-II-112 • 54-II-56 • 56-II-66
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