BGE 56 II 347
60. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 31. Oktober 1930 i. S.
M.-E. gegen I.
Regeste:
ZGB Art. 636: Begriff des Vertrages über eine noch nicht angefallene
Erbschaft.
Aus dem Tatbestand:
Der Vater der Beklagten schloss im Jahre 1915 «zur Vermeidung eines Prozesses
wegen des von ihm verschuldeten Verlöbnisbruches und zur Erledigung aller
bestehenden Differenzen» mit der Klägerin einen Vergleich ab, in welchem er
anerkannte, der Klägerin die Summe von 24000 Fr. schuldig geworden zu sein.
«Diese Summe setzt sich zusammen aus den Barbeträgen, die Herr I, während
mehrerer Jahre von Fräulein E. empfangen hat, aus einer angemessenen
Entschädigung für die von Fräulein E. nach und nach angeschafften Aussteuer
und einer den Verhältnissen entsprechenden Genugtuungssumme für die der
Fräulein E. zugefügte moralische und seelische Unbill.
Von der Vergleichssumme sind 17000 Fr. seit 1. Mai 1914 zu 5% jährlich zu
verzinsen. Herr I. kann den Zins
Seite: 348
nach seinem Belieben alle Jahre entrichten oder aber zum Kapital schlagen
lassen.
Die Kapitalschuld wird von Herrn I. wie folgt abbezahlt:
a) Die von ihm seit Juli 1914 deponierten 7000 Fr.... sind sofort an Fräulein
E. auszuhändigen.
b) Weitere 3000 Fr. sind innerhalb angemessener Frist nach Beendigung des
Krieges zu leisten...
c) Die alsdann restierenden 14000 Fr. samt den kapitalisierten Zinsen werden
bei Anfall der väterlichen Erbschaft ohne weiteres zahlfällig.»
B. - Als nach dem Ende 1927 erfolgten Tode des I. die Klägerin ihre Forderung
zum öffentlichen Inventar anmeldete, wurde sie von seinen die Erbschaft
annehmenden Kindern zur vorliegenden Klage provoziert, mit der ihr sie
vertretender Ehemann beantragt: «Es sei richterlich festzustellen, dass die
Klägerin gegen die Beklagten eine Forderung von 17000 Fr. hat mit Zins... und
zwar in dem Sinne, dass die gesamte Forderung ohne weiteres zahlfällig wird
bei Anfall der väterlichen Erbschaft des ursprünglichen Schuldners, d. h. beim
dereinstigen Ableben des Herrn I.
Mit den Beklagten trägt ihr Grossvater als streitgenössischer
Nebenintervenient in gemeinsamen Rechtsvorkehren auf Abweisung der Klage an.
C. - Das Obergericht des Kantons Aargau hat am 22. August 1930 die Klage
abgewiesen.
D. - Gegen dieses Urteil hat die Klägerin die Berufung an das Bundesgericht
eingelegt mit dem Antrag auf Gutheissung der Klage.
Aus den Erwägungen:
4.- Die Vorinstanzen haben angenommen, der Vergleich sei als Vertrag, den ein
Erbe über eine noch nicht angefallene Erbschaft ohne Mitwirkung und Zustimmung
des Erblassers mit einem Dritten abgeschlossen habe, gemäss Art. 636
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 636 - 1 Verträge, die ein Erbe über eine noch nicht angefallene Erbschaft ohne Mitwirkung und Zustimmung des Erblassers mit einem Miterben oder einem Dritten abschliesst, sind nicht verbindlich. |
|
1 | Verträge, die ein Erbe über eine noch nicht angefallene Erbschaft ohne Mitwirkung und Zustimmung des Erblassers mit einem Miterben oder einem Dritten abschliesst, sind nicht verbindlich. |
2 | Leistungen, die auf Grund solcher Verträge gemacht worden sind, können zurückgefordert werden. |
verbindlich. Dem kann nicht beigestimmt werden. Was für Verträge über eine
noch nicht
Seite: 349
angefallene Erbschaft ohne Mitwirkung und Zustimmung des Erblassers nicht
zugelassen werden wollten, ergibt sich aus dem französischen Text «l'hérédité
a fait l'objet de la convention» und noch deutlicher aus dem Zusammenhang des
Art. 636
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 636 - 1 Verträge, die ein Erbe über eine noch nicht angefallene Erbschaft ohne Mitwirkung und Zustimmung des Erblassers mit einem Miterben oder einem Dritten abschliesst, sind nicht verbindlich. |
|
1 | Verträge, die ein Erbe über eine noch nicht angefallene Erbschaft ohne Mitwirkung und Zustimmung des Erblassers mit einem Miterben oder einem Dritten abschliesst, sind nicht verbindlich. |
2 | Leistungen, die auf Grund solcher Verträge gemacht worden sind, können zurückgefordert werden. |
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 635 - 1 Verträge unter den Miterben über Abtretung der Erbanteile bedürfen zu ihrer Gültigkeit der schriftlichen Form.545 |
|
1 | Verträge unter den Miterben über Abtretung der Erbanteile bedürfen zu ihrer Gültigkeit der schriftlichen Form.545 |
2 | Werden sie von einem Erben mit einem Dritten abgeschlossen, so geben sie diesem kein Recht auf Mitwirkung bei der Teilung, sondern nur einen Anspruch auf den Anteil, der dem Erben aus der Teilung zugewiesen wird. |
über Abtretung der Erbanteile (beim Einzelerben: der Erbschaft), die, wenn
entweder der Erbanteil bereits angefallen ist oder aber der Erblasser mitwirkt
und zustimmt, dem Dritten zwar kein Recht auf Mitwirkung bei der Teilung
geben, wohl aber einen Anspruch auf den Anteil, der dem abtretenden Erben aus
der Teilung zugewiesen wird. Um einen derartigen Vertrag handelt es sich
jedoch vorliegend nicht, sondern es ist nur die Fälligkeit des grössten Teiles
der von I. eingegangenen Verbindlichkeit bis zum Zeitpunkte des Todes seines
Vaters hinausgeschoben worden, damit er die ihm damals nicht zur Verfügung
stehenden Zahlungsmittel aus seinem Erbanteil entnehmen und, bei
Nichterfüllung, die Klägerin den Erbanteil bezw. das Teilungsprodukt pfänden
lassen könne, letzteres aber eben nur in Konkurrenz mit allen übrigen
Gläubigern des I, was nicht den gleichen «Effekt», wie die Abtretung des
künftigen Erbanteils hervorbringen kann, worauf die Vorinstanz abstellen
möchte. Dafür, dass die Klägerin «den Anteil, der dem Erben in der Teilung
zugewiesen wird», vor den übrigen Gläubigern vorwegnehmen könnte, lässt sich
dem Vergleiche nicht der mindeste Anhaltspunkt entnehmen. Diese Frage stellt
sich für den Erbanteil jedes einzelnen Miterben gesondert, weshalb aus der
Bürgschaftsleistung des (vermutlichen) Miterben und der Haushälterin des
Vaters schlechterdings nichts weiteres entnommen werden kann, als was ohnehin
unzweifelhaft feststeht: dass nämlich die Klägerin aus vom Vater I. stammendem
Vermögen befriedigt werden soll. Weder dies, noch der Einfluss, den die
Erbanwartschaft auf die Höhe der Vergleichssumme gehabt haben mag, genügt
jedoch auch nur zu
Seite: 350
einer analogen Anwendung des Art. 636
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 636 - 1 Verträge, die ein Erbe über eine noch nicht angefallene Erbschaft ohne Mitwirkung und Zustimmung des Erblassers mit einem Miterben oder einem Dritten abschliesst, sind nicht verbindlich. |
|
1 | Verträge, die ein Erbe über eine noch nicht angefallene Erbschaft ohne Mitwirkung und Zustimmung des Erblassers mit einem Miterben oder einem Dritten abschliesst, sind nicht verbindlich. |
2 | Leistungen, die auf Grund solcher Verträge gemacht worden sind, können zurückgefordert werden. |
werden darf, wie das Bundesgericht bereits ausgesprochen hat, mit Rücksicht
darauf, dass es sich um einen Einbruch in die Vertragsfreiheit handelt (BGE 42
II S. 190). Die analoge Anwendung des Art. 636
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 636 - 1 Verträge, die ein Erbe über eine noch nicht angefallene Erbschaft ohne Mitwirkung und Zustimmung des Erblassers mit einem Miterben oder einem Dritten abschliesst, sind nicht verbindlich. |
|
1 | Verträge, die ein Erbe über eine noch nicht angefallene Erbschaft ohne Mitwirkung und Zustimmung des Erblassers mit einem Miterben oder einem Dritten abschliesst, sind nicht verbindlich. |
2 | Leistungen, die auf Grund solcher Verträge gemacht worden sind, können zurückgefordert werden. |
Rechtsprechung zunächst gerechtfertigt werden durch den Schutz des
Erbanwärters gegen Ausbeutung (Verpflichtung «zur Leistung des Gegenwertes
einer zukünftigen Erbschaft, also zu einer Leistung von unbestimmbarem Werte,
gegen ein entsprechend niedrig angesetztes Entgelt»). Allein vorliegend hat ja
I. nicht einen ziffermässig nicht bestimmten und zum voraus nicht bestimmbaren
Bruchteil seines künftigen Erbanteiles aufgeopfert, dessen Wert viel grösser
sein könnte als die damit zu tilgende Verbindlichkeit, und dass nicht etwa
nach anderer Richtung Ausbeutung vorliegt, ist bereits in Erwägung 2 hievor
dargetan worden. Den weiteren Grund, der für die analoge Anwendung des Art.
636
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 636 - 1 Verträge, die ein Erbe über eine noch nicht angefallene Erbschaft ohne Mitwirkung und Zustimmung des Erblassers mit einem Miterben oder einem Dritten abschliesst, sind nicht verbindlich. |
|
1 | Verträge, die ein Erbe über eine noch nicht angefallene Erbschaft ohne Mitwirkung und Zustimmung des Erblassers mit einem Miterben oder einem Dritten abschliesst, sind nicht verbindlich. |
2 | Leistungen, die auf Grund solcher Verträge gemacht worden sind, können zurückgefordert werden. |
W. dass vermieden werden solle, das Interesse einer Drittperson am Tode des
Erblassers zu begründen, lässt das schweizerische Recht nicht gelten, wie im
früheren Urteil einlässlich nachgewiesen worden ist. In Bestätigung desselben
kann also das Versprechen, aus einer künftigen Erbschaft eine Schuld zu
bezahlen, nicht beanstandet werden (worüber, entgegen der damaligen Annahme,
nicht einmal die französische Rechtsprechung übereinstimmt; vgl. COLIN et
CAPITANT. Droit civil français 2 S. 297).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird begründet erklärt, das Urteil des Obergerichtes des Kantons
Aargau vom 25. August 1930 aufgehoben und die Klage zugesprochen.