S. 67 / Nr. 13 Familienrecht (d)

BGE 54 II 67

13. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 2. Februar 1928 i.S. R.
gegen R.


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Regeste:
Art. 158 Ziffer 1 ZGB schliesst nicht aus, dass der kantonale Gesetzgeber dem
Richter die Kompetenz verleiht, von Amtes wegen von den Parteien nicht
vorgebrachte Tatsachen zur Beurteilung der Begründetheit eines
Scheidungsbegehrens heranzuziehen.

Der Berufungskläger bemängelt in erster Linie, dass die Vorinstanz bei der
Beurteilung der vorwürfigen Scheidungsklage sich nicht auf die Würdigung des
von den Parteien vor Kantonsgericht vorgebrachten Prozessstoffes beschränkt,
sondern auch die Akten des bezirksgerichtlichen Verfahrens beigezogen und die
Instruktion auf die darin angeführten Tatsachen ausgedehnt habe, obwohl jener
Prozess von den Parteien absichtlich nicht weiter geführt worden sei. Diese
Bemängelung erscheint vom Standpunkt des Bundesrechtes aus, dessen Anwendung
hier allein zu überprüfen ist, nicht begründet. Es kann allerdings nicht gegen
den Willen der Parteien von Amtes wegen ein Scheidungsanspruch berücksichtigt
werden, den die Parteien selber gar nicht geltend machen. Ob aber zur
Begründung eines geltend gemachten Anspruches Tatsachen von Amtes wegen
beigezogen und berücksichtigt werden dürfen, die die Parteien selber nicht
namhaft gemacht haben, das ist eine ausschliesslich dem kantonalen
Prozessrecht anheimstehende Frage. Dem steht auch die Vorschrift des Art. 158
Ziff. 1 ZGB nicht entgegen, wonach der Richter Tatsachen, die zur Begründung
einer Klage auf Scheidung oder Trennung dienen, nur dann als erwiesen annehmen
darf, wenn er

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sich von deren Vorhandensein überzeugt hat; denn damit wollte nur im Sinne
einer Mindestanforderung gesagt werden, dass der Richter sich selber von der
Wahrheit einer von den Parteien vorgebrachten Behauptung überzeugen müsse und
nicht auf blosse Geständnisse der Parteien abstellen dürfe. Das schliesst
jedoch keineswegs aus, dass der kantonale Gesetzgeber darüber hinaus dem
Richter durch Einführung der Untersuchungsmaxime die Kompetenz verleiht, von
Amtes wegen von den Parteien nicht vorgebrachte Tatsachen zur Beurteilung der
Begründetheit eines Scheidungsbegehrens heranzuziehen. Wenn sich daher die
Vorinstanz vorliegend zum amtlichen Beizug der bezirksgerichtlichen Akten und
Mitberücksichtigung der darin enthaltenen Tatsachen nach den Vorschriften des
st. gallischen Prozessrechtes für zuständig erachtete, so kann dies vom
Bundesgericht als Berufungsinstanz nicht auf seine Zulässigkeit hin überprüft
werden, sondern es hat das Bundesgericht seinerseits die bezüglichen
Feststellungen hinzunehmen und seiner eigenen Beurteilung der streitigen
Scheidungsklage zugrunde zu legen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 54 II 67
Datum : 01. Januar 1927
Publiziert : 02. Februar 1928
Quelle : Bundesgericht
Status : 54 II 67
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Art. 158 Ziffer 1 ZGB schliesst nicht aus, dass der kantonale Gesetzgeber dem Richter die Kompetenz...


Gesetzesregister
ZGB: 158
BGE Register
54-II-67
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
von amtes wegen • scheidungsklage • vorinstanz • bundesgericht • verfahren • frage • wahrheit • untersuchungsmaxime • wille • kantonsgericht