BGE 54 I 86
15. Urteil vom 8. Juni 1928 i.S. Haudenschild gegen Bern
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Regeste:
Art. 31 litt. c BV. Anwendung der Bedürfnisklausel im Wirtschaftswesen.
Überprüfungsbefugnis des Bundesgerichtes. Verneinung der Bedürfnisfrage für
die Eröffnung einer neuen Wirtschaft in einem städtischen Aussenquartier, wo
noch keine solche besteht (Erw. 3).
Es verstösst nicht gegen die Rechtsgleichheit, wenn die Bedürfnisklausel in
der Regel nur bei der Prüfung von Patentgesuchen für neue Wirtschaften
angewendet wird (Erw. 4).
A. - Der Rekurrent ersuchte um das Patent zur Errichtung und Führung einer
Schenk- und Speisewirtschaft auf dem Murifeld an der Muristrasse in Bern. Die
Direktion des Innern des Kantons Bern wies das Gesuch entsprechend dem
Gutachten des Regierungsstatthalters ab, und eine vom Rekurrenten hiegegen
erhobene Beschwerde wurde vom Regierungsrat am 29. Dezember 1927 mit folgender
Begründung abgewiesen: «Der Regierungsrat hält, in Übereinstimmung mit der
Direktion des Innern, dafür, dass die Frage des Bedürfnisses für die
Errichtung einer neuen Wirtschaft heute nach strengern Grundsätzen beurteilt
werden muss, als es früher der Fall war. Dies liegt im Interesse des
öffentlichen Wohles, das eine energische Bekämpfung des Alkoholismus fordert,
weil dieses Übel die Arbeitskraft des Menschen lähmt und dessen leibliche und
geistige Gesundheit untergräbt. Da aber die Errichtung einer neuen Wirtschaft
zweifellos eine Vermehrung der Gelegenheiten zum Alkoholkonsum zur Folge hat,
und somit denselben fördert, so dürfen die Behörden nur dann zu ihr Hand
bieten, wenn triftige Gründe, namentlich des Handels und Verkehrs, für eine
Wirtschaft am betreffenden Orte vorhanden sind und also ein wirkliches und
dringendes Bedürfnis nach gewiesen ist. - Wie in der angefochtenen Verfügung
der Direktion des Innern richtig ausgeführt und übrigens vom Rekurrenten nicht
bestritten wird, hat das
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Murifeldquartier als eine Vorstadt der Stadt Bern den ausgesprochenen
Charakter einer Wohnkolonie, bestehend aus grösseren und kleineren
Wohnhäusern, deren Wohnungen grösstenteils an Leute vermietet sind, welchen
ihr Verdienst nur die Bezahlung eines bescheidenen Mietzinses gestattet.
Eigentliche Geschäftshäuser und Fabriken sind im Quartier nicht vorhanden. Die
dort bestehenden Handlungen und Gewerbe dienen ausschliesslich zur Deckung von
Bedürfnissen der Haushaltung. Von Handel und Verkehr im Quartier kann nicht
gesprochen werden. Für die Errichtung einer Wirtschaft im Quartier liegt also
aus diesem Grunde kein Bedürfnis vor. Der Rekurrent stellt denn auch für die
Bejahung der Bedürfnisfrage fast ausschliesslich auf die Bevölkerungszahl des
Quartiers ab. Er macht geltend, dass ein so stark bevölkertes Quartier
(ungefähr 3000 Bewohner) einen Anspruch auf eine Wirtschaft habe und dass
dieser Anspruch für das Murifeld durch die Unterschriften von 367
stimmberechtigten Bürgern, und durch Eingaben von drei Vereinen belegt sei.
Ein solcher Anspruch kann nun vom Regierungsrat schon deshalb nicht anerkannt
werden, weil er keine gesetzliche Grundlage besitzt. Sollte aber für die
entscheidenden Behörden der Wunsch der Mehrheit der Bewohner einer Ortschaft
oder eines Quartiers für oder gegen die Errichtung einer Wirtschaft
ausschlaggebend sein, so mag auf die Tatsache hingewiesen werden, dass sich
gegen die Errichtung einer Wirtschaft auf dem Murifeld über 600 Männer und
Frauen des Quartiers und seiner Umgebung aus gesprochen haben. Ebensowenig
vermag die vom Rekurrenten angerufene Statistik der Zahl der Wirtschaften im
Verhältnis zur Bevölkerungszahl im Kanton Bern, laut welcher die Stadt Bern
die geringste Zahl von Wirtschaften besitze, die Errichtung einer neuen
Wirtschaft in einem Vorstadtquartier von Bern zu rechtfertigen. Abgesehen
davon, dass die verhältnismässig grössere Zahl von Wirtschaften in andern
Ortschaften
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sich aus den lokalen Verhältnissen und Bedürfnissen erklärt, und an manchen
Orten noch aus der Zeit her rührt, wo die Errichtung einer Wirtschaft keinen
Beschränkungen unterlag, muss nämlich diese Statistik für die Beurteilung der
Bedürfnisfrage als nicht erheblich bezeichnet werden, weil in derselben nur
die Zahl der Wirtschaften, nicht aber deren Grösse berücksichtigt wird. Die
Grösse der Wirtschaftsräume ist aber, besonders in einer Stadt, für die
Beurteilung der Bedürfnisfrage von grösserer Bedeutung, als die Zahl der
Wirtschaften an und für sich. Dass die Berücksichtigung der Grösse der
Wirtschaftsräume in einer Wirtschaftsstatistik des Kantons für die Stadt Bern
eine andere ungünstigere Stellung ergeben würde, ist zweifellos. Vielmehr
können für die Beurteilung der Bedürfnisfrage im vorliegenden Falle ausser den
Bedürfnissen des Handels und des Verkehrs nur die Lage des Quartiers und die
Verhältnisse der Bevölkerung desselben massgebend sein. Das Murifeldquartier
ist nun nicht ein so in sich abgeschlossenes Quartier, wie der Rekurrent
glauben machen will: dasselbe erfreut sich einer guten Strassenbahnverbindung
mit der Stadt und ist nicht weit entfernt von einer geräumigen Wirtschaft
(Burgernziel), die übrigens einem grossen Teil des Quartiers näher liegt als
die projektierte neue Wirtschaft. Ferner sind die ökonomischen Verhältnisse
der Mehrzahl der Bewohner des Murifeldquartiers derart, dass das
Nichtvorhandensein einer Wirtschaft nicht als ein Mangel, sondern als ein
Vorzug und als eine Wohltat für die dortige Bevölkerung bezeichnet werden
muss. Dies ist übrigens auch bei Wohnkolonien anderer grosser Städte, die
ebenfalls grossenteils mit Hilfe öffentlicher Mittel erstellt worden sind, der
Fall. Es ist zweifellos, dass der Betrieb einer Wirtschaft in einem derartigen
Quartier keinen günstigen Einfluss auf dessen Bewohner ausübt und dass zudem
deren Inhaber nur mühsam sein Auskommen findet, wenn nicht ein gewisser
Geschäftsverkehr die Wirtschaft
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alimentiert. Letzteres würde aber bei der projektierten Wirtschaft nicht
zutreffen. Auch der geltendgemachte Spaziergängerverkehr auf der Muristrasse
im Sommer und der Wunsch einiger lokaler Vereine nach einem Versammlungslokal
im Quartier können den Regierungsrat nicht dazu bestimmen, die Bedürfnisfrage
für eine ständig betriebene Wirtschaft zu bejahen. Es wird in dieser Beziehung
auf die Ausführungen im angefochtenen Entscheid der Direktion des Innern
verwiesen. Der Regierungsrat hält, in Übereinstimmung mit der Direktion des
Innern, dafür, dass die Errichtung einer Wirtschaft im Murifeldquartier sowohl
dem lokalen Bedürfnis dieses Quartiers als dem öffentlichen Wohl zuwider ist.»
Die Ausführungen der Direktion des Innern, worauf der Regierungsrat verweist,
lauten wie folgt: «Die Lage der projektierten Wirtschaft an der Muristrasse,
die an Sonntagen, namentlich im Sommer, einen grossen Spaziergängerverkehr
aufweist, könnte die Patenterteilung nicht rechtfertigen, denn dieser Verkehr
wäre nach wie vor ein durchgehender, weil das Ziel der Spaziergänger durchwegs
Muri und Gümligen mit ihren Gartenwirtschaften ist und sie sich auf der
verhältnismässig kurzen Wegstrecke sehr selten aufhalten werden. Endlich kann
auch die projektierte Erstellung eines Saales zu Sitzungs- und
Versammlungszwecken für die Erteilung des nach gesuchten Wirtschaftspatentes
nicht ins Gewicht fallen. Denn wenn auch ein Saal den im Quartier bestehenden
politischen und Sportvereinen gelegentlich für Versammlungen und Sitzungen
gute Dienste leistet, so darf doch dessen Erstellung an und für sich die
Behörden nicht dazu führen, das Bedürfnis für eine Tag und Nacht betriebene
Wirtschaft zu bejahen».
B. - Gegen den Entscheid des Regierungsrates hat Haudenschild die
staatsrechtliche Beschwerde an das Bundesgericht ergriffen mit dem Antrag, er
sei aufzuheben und der Regierungsrat anzuhalten, dem Rekurrenten das
Wirtschaftspatent zu erteilen.
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Der Rekurrent macht geltend: Ǥ 6 des bernischen Wirtschaftsgesetzes bestimme:
Das Patent für die Errichtung einer neuen, sowie die Erneuerung oder
Übertragung eines Patentes für eine bestehende Wirtschaft soll verweigert
werden, wenn das Entstehen oder die Weiterführung einer Wirtschaft am
betreffenden Orte dem lokalen Bedürfnis und dem öffentlichen Wohle zuwider
ist». Dass diese Voraussetzung zutreffe, müsse angesichts der feststehenden
Tatsachen zweifellos verneint werden, weil das Murifeld sich immer mehr
entwickle, die Muristrasse an Sonntagen einen grossen Spaziergängerverkehr
habe und drei Vereine, sowie 367 Stimmberechtigte eine neue Wirtschaft mit
Vereins- und Sitzungslokalen für nötig hielten. Die Bedürfnisklausel dürfe als
Ausnahmebestimmung nicht, wie es hier geschehen sei, ausdehnend ausgelegt
werden. Nach § 6 des Wirtschaftsgesetzes sei es unzulässig, einen Unterschied
zwischen der Eröffnung einer neuen und der Weiterführung einer bestehenden
Wirtschaft zu machen. Solange der Regierungsrat bei Patentgesuchen für
bestehende Wirtschaften nicht auch seine strengen Grundsätze, die er im
vorliegenden Fall vertrete, anwende, dürfe er sie ohne Willkür und
Verfassungsverletzung dem Rekurrenten gegenüber nicht zur Geltung bringen. Es
liege somit eine Verletzung der Gewerbefreiheit und der Rechtsgleichheit,
sowie Willkür vor.
C. - Der Regierungsrat hat Abweisung der Beschwerde beantragt.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
...
3. Wenn auch die Bedürfnisklausel des § 6 des Wirtschaftsgesetzes im
Verhältnis zur Handels- und Gewerbefreiheit eine Ausnahmebestimmung ist, so
hindert das nicht, dass die bernischen Behörden es mit der Annahme eines
Bedürfnisses streng nehmen dürfen, soweit sie sich dabei innert der Schranken
der Bundesverfassung halten.
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Im vorliegenden Falle ist nun nicht dargetan, dass der Regierungsrat diese
Schranken überschritten habe. Bei der Frage, ob ein Bedürfnis für eine
Wirtschaft vorliege, handelt es sich im wesentlichen um die Würdigung
tatsächlicher Verhältnisse nach freiem Ermessen. Wenn das Bundesgericht, wie
im vorliegenden Falle, zu prüfen hat, ob eine Patentverweigerung wegen
mangelnden Bedürfnisses mit der Handels- und Gewerbefreiheit vereinbar sei, so
weicht es daher nach feststehender Praxis bei der Untersuchung der
Bedürfnisfrage nicht ohne triftige Gründe, ohne Not von der Auffassung der
obersten kantonalen Behörde ab (vgl. BGE 51 I S. 25 f. und dort zitierte
Entscheide). In all dem, was der Rekurrent anführt, kann nun aber kein solcher
Grund gefunden werden, der dazu führen müsste, hier in der Verneinung der
Bedürfnisfrage eine Verletzung der Gewerbefreiheit zu erblicken. Am ehesten
spricht für deren Bejahung der Umstand, dass das grosse Murifeldquartier noch
keine Wirtschaft hat. Allein es erscheint nicht ohne weiteres als notwendig,
dass jedes städtische Quartier von einer gewissen Grösse eine Wirtschaft haben
muss. Verschiedene Umstände können zur Folge haben, dass für ein solches
Quartier die in den andern Quartieren vorhandenen Wirtschaften auch genügen.
Der Regierungsrat nimmt an, dass das im vorliegenden Fall für das
Murifeldquartier zutreffe, indem er darauf hinweist, dass dieses fast
ausschliesslich aus Wohnhäusern besteht und dort nur Gewerbe betrieben werden?
die für die laufenden Bedürfnisse der Haushaltung dienen, dass ferner gute
Strassenbahnverbindungen mit der innern Stadt bestehen, wo sich zahlreiche
Wirtschaften befinden, und zudem an der innern Grenze des Quartiers, beim
Burgernziel, eine geräumige Wirtschaft vorhanden ist. Diese Tatsachen, die der
Rekurrent nicht bestreitet, lassen die Annahme, dass offensichtlich im
Murifeldquartier ein Bedürfnis nach einer Wirtschaft bestehe, nicht zu. Es ist
nicht notwendig, dass die Einwohner in nächster Nähe ihrer Wohnungen
Gelegenheit zum
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Besuch von Alkoholwirtschaften haben, und es ist durch aus lobenswert, wenn
die Behörden solche Wirtschaften von Wohnkolonien, wie dem Murifeldquartier,
fernhalten, sofern deren Bewohner ihr Bedürfnis nach dem Besuch derartiger
Wirtschaften ohne allzu grosse Mühe in andern Quartieren befriedigen können.
Dass viele Bewohner des Murifeldquartiers eine neue Wirtschaft wünschen, kann
demgegenüber nicht entscheidend sein, zumal da die hiefür gesammelten
Unterschriften, wie die Erfahrung zeigt, wohl zum Teil aus blosser
Gefälligkeit gegeben worden sind (vgl. SALIS, Bundesrecht, II Nr. 935) und
sich andererseits erheblich mehr Quartierbewohner gegen als für eine
Wirtschaft ausgesprochen haben. Auch der Umstand, dass drei Vereine das
Patentgesuch des Rekurrenten unterstützen, kann nicht zum Schlusse führen,
dass die geplante Wirtschaft offensichtlich für das Murifeldquartier ein
Bedürfnis bilde. Diese Vereine rekrutieren sich nicht ausschliesslich aus
diesem Quartier und können daher ihr Versammlungslokal ebensogut in andern
Quartieren, z. B. im Obstberg wählen. Und wenn sie auch die Absicht haben
sollten, ihre Versammlungen im Interesse der verschiedenen Mitglieder
abwechslungsweise in den Quartieren abzuhalten, denen diese angehören, so kann
ihnen doch im Interesse der Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs zugemutet
werden, auf die Annehmlichkeit zu verzichten, sich auch im Murifeldquartier zu
versammeln, und zwar umsomehr, als dem Wirt zum Burgernziel nach dem Bericht
des Regierungsstatthalters in letzter Zeit ein Saalbau bewilligt worden ist.
Gegen die Bejahung der Bedürfnisfrage spricht auch der Umstand, dass
Wirtschaften in Aussenquartieren einer Stadt in der Regel keinen genügenden
Besuch haben, wenn sie nicht das Publikum durch Belustigungen oder auf andere
Weise besonders anziehen können, wie der Regierungsrat und der
Regierungsstatthalter auf Grund ihrer Erfahrung feststellen. Der
Spaziergängerverkehr an Sonntagen auf
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der Muristrasse hat unbestrittenermassen Muri und Gümligen zum Ziel und nicht
das Murifeld; dass es für diese Spaziergänger offensichtlich eine erhebliche
Unannehmlichkeit bedeute, auf dem Murifeld keine Alkoholwirtschaft
vorzufinden, ist nicht dargetan. Freilich hat die Stadt Bern verhältnismässig
weniger Wirtschaften als andere bernische Ortschaften; nach der unbestrittenen
Feststellung des Regierungsrates sind aber dafür in Bern verhältnismässig mehr
grosse Wirtschaftsräume, was unzweifelhaft bei der Prüfung der Bedürfnis frage
zu berücksichtigen ist.
4.- Dass eine ungleiche verfassungswidrige Behandlung vorliege, ist ebenfalls
nicht dargetan. Wenn auch nach § 6 des Wirtschaftsgesetzes die Bewilligung
nicht nur für die Errichtung einer neuen, sondern auch für die Weiterführung
einer bestehenden Wirtschaft verweigert werden soll, sofern dafür kein
Bedürfnis besteht, so ist doch die Anwendung der Bedürfnisklausel auf bereits
bestehende Wirtschaften mit grossen Schwierigkeiten verbunden, weil dabei
bestimmt werden muss, welche von mehreren Wirtschaften weichen müssen, wenn
alle zusammen das Bedürfnis übersteigen (vgl. SALTS, Bundes recht, II Nr. 922
und 923). Es verstösst daher nicht gegen Art. 4
SR 101 Costituzione federale della Confederazione Svizzera del 18 aprile 1999 Cost. Art. 4 Lingue nazionali - Le lingue nazionali sono il tedesco, il francese, l'italiano e il romancio. |
der Regel, soweit nicht besondere Verhältnisse vorliegen, die Bedürfnisklausel
nur gegenüber den Patentgesuchen für neue Wirtschaften anwendet.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Vgl. auch Nr. 16 und 20. - Voir aussi Nos 16 et 20.