S. 50 / Nr. 9 Bundesstrafrecht (d)

BGE 54 I 50

9. Urteil des Kassationshofes vom 16. Februar 1928 i. S. Gerster gegen
Staatsanwaltschaft Baselland.


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Regeste:
Art. 67 rev. BStR. Eisenbahngefährdung ist die schuldhafte Auslösung einer dem
technischen Eisenbahnbetrieb eigentümlichen erheblichen Gefahr; Begriff der
Erheblichkeit einer Gefahr (Erw. 2 a). Fahrlässigkeit: (Erw. 2 b).

A. - Der Kassationskläger ist Bahndienstarbeiter der Station Gelterkinden. Am
Morgen des 10. Juni 1927, als er zwischen 3.45 und 5.00 Uhr allein den
Abfertigungsdienst versah, liess er infolge einer falschen Weichenstellung
eine Motordraisine auf dem falschen Geleise die Rückfahrt nach Basel antreten.
Die Draisine stand deshalb plötzlich dem anfahrenden Güterzug Nr. 644
gegenüber und wurde durch den Zusammenprall mit der Lokomotive stark
beschädigt, während die Draisinenfahrer sich noch rechtzeitig in Sicherheit
bringen konnten. Der Kassationskläger wurde in Untersuchung gezogen und am 6.
Oktober 1927 überwies das eidg. Justiz- und Polizeidepartement die Sache
gemäss Art. 125 Abs. 2 OG dem Kanton Baselland zur Beurteilung. Am 29. Oktober
1927 erkannte das basell. Kriminalgericht, die objektiven und subjektiven
Voraussetzungen einer fahrlässigen Eisenbahngefährdung nach Art. 67 rev. BStR
seien erfüllt. Es habe die Möglichkeit bestanden, dass der Lokomotivführer zur
Vermeidung eines Zusammenstosses mit der Draisine Massnahmen

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ergriff, die die Sicherheit des Zuges erheblich hätten beeinträchtigen können.
Die ordnungsgemässe Fahrt des Zuges sei unterbrochen und erheblich gestört
worden. Vor allem aber sei die Draisine selbst in ihrer Fahrt entscheidend
gehemmt und zudem stark beschädigt worden. Die Fahrer hätten in Lebensgefahr
gestanden. Dem Kassationskläger sei zum Verschulden anzurechnen, dass er trotz
Kenntnis der gesamten Weichenanlage die unrichtige Weiche gestellt habe. Hätte
er sich wirklich die erforderlichen Kenntnisse für die Einlegung der
Draisinefahrt nicht zugetraut, so hätte er von jeder Tätigkeit absehen sollen.
Das Kriminalgerichtsurteil wurde am 16. Dezember 1927 auf Appellation hin vom
Obergericht Baselland geschützt.
B. - Gegen das Obergerichtsurteil hat Gerster die Kassationsbeschwerde am 21.
Dezember 1927 angemeldet und am 3. Januar 1928 eingereicht. Zur Begründung
wird ausgeführt: Das Obergerichtsurteil beruhe auf aktenwidrigen Annahmen. Der
Kassationskläger sei 1913 als ungelernter Bahnarbeiter in den Dienst der
Bundesbahnen eingetreten und bisher dort als Gramper verwendet worden. Weichen
habe er nur gelegentlich und zwar nur auf Veranlassung und unter Aufsicht
eines kompetenten Beamten gestellt. Am 10. Juni 1927 habe er nach längerem
Unterbruch den Abfertigungs- und Weichenwärterdienst zugleich versehen müssen.
Dem Ansuchen des Draisinenführers um Einlegung der Draisinefahrt habe er
entsprochen, nachdem er vom diensttuenden Beamten der Station Sissach dazu
angehalten worden sei. In der Aufregung darüber, dass ihm eine seine
Kompetenzen übersteigende Verrichtung zugemutet werde, habe er die unrichtige
Weiche gestellt. Ein Verschulden treffe ihn also nicht. Übrigens könne auch
objektiv von einer Eisenbahngefährdung nicht die Rede sein. Die
Draisinenfahrer seien nicht gefährdet gewesen und die Draisine sei nur wenig
zu Schaden gekommen. Nach der bundesrätlichen Verordnung vom

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11. November 1925 betreffend das bei (Gefährdung oder Unfällen im Bahn- und
Schiffbetrieb zu beobachtende Verfahren sei eine Gefährdung nur dann erheblich
im Sinne von Art. 67 BStR, wenn der Schadensbetrag 1000 Fr. übersteige.
C. ­ Die Staatsanwaltschaft Baselland schliesst auf Abweisung der
Kassationsbeschwerde, mit der Begründung: Der von den Gerichten angenommene
Tatbestand sei nicht aktenwidrig. Der Kassationskläger habe bei seiner
Einvernahme nie behauptet, er habe die Einlegung der Draisinenfahrt zuerst
verweigert. Die bundesrätliche Verordnung vom 11. November 1925 interpretiere
den Begriff der Eisenbahngefährdung nach Art. 67 BStR nicht. Die Gefährdung
einer Motordraisine sei wie die einer alleinfahrenden Lokomotive als
Eisenbahngefährdung zu behandeln.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1. ­ Die Strafuntersuchung hat ­ was von der Staatsanwaltschaft Baselland zu
Unrecht bestritten wird ­ ergeben, dass der Kassationskläger zuerst sich
geweigert hatte, die Draisinenfahrt nach Sissach einzulegen und dass er darin
erst einer Weisung des auf der Station Sissach diensttuenden Beamten Folge
leistete. Das folgt aus dem Bericht der Kreisdirektion II SBB an das
Eisenbahndepartement, der die Grundlage des späteren Verfahrens bildet und
wurde auch vom Kassationskläger bei seiner Einvernahme geltend gemacht. Diese
Tatsache scheint aber, obschon sie dort nicht ausdrücklich festgestellt wurde,
im Strafurteil berücksichtigt worden zu sein, sodass die Rüge der
Aktenwidrigkeit hierin nicht begründet ist. In allen andern Beziehungen ist
sie nicht substanziiert.
2.- Art. 67 Abs. 2 BStR in der Fassung des Bundesbeschlusses vom 5. Juni 1902
lautet:
«Wer durch Fahrlässigkeit die Sicherheit des Eisenbahn-, Dampfschiff- oder
Postwagenverkehrs erheblich

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gefährdet, wird mit Gefängnis bis zu einem Jahr und, wenn ein Mensch bedeutend
verletzt oder getötet, oder wenn sonst ein erheblicher Schaden verursacht
worden ist, mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft. Mit der Gefängnisstrafe
kann auch Geldbusse verbunden werden. In leichteren Fällen kann der Richter
auf Geldbusse allein erkennen.»
a) Bei der Beantwortung der Frage, ob eine erhebliche Gefährdung der
Sicherheit des Eisenbahnverkehrs vorliege, ist davon auszugehen, dass der
ursprüngliche Art. 67 BStR wie folgt lautete:
«Gegen Beschädigung und Gefährdung von Post- oder Eisenbahnzügen gelten
folgende Vorschriften:
a) Wer durch irgend eine Handlung absichtlich Personen oder Waren, die sich
auf einem zur Beförderung der Post dienenden Wagen oder Schiffe oder auf einer
Eisenbahn befinden, einer erheblichen Gefahr aussetzt, wird mit Gefängnis und
wenn ein Mensch bedeutend verletzt oder sonst ein beträchtlicher Schaden
verursacht worden ist, mit Zuchthaus bestraft.
b) Wer leichtsinniger oder fahrlässiger Weise durch irgend eine Handlung oder
durch Nichterfüllung einer ihm obliegenden Dienstpflicht eine solche
erhebliche Gefahr herbeiführt, ist mit Gefängnis bis auf ein Jahr, verbunden
mit Geldbusse und, wenn ein beträchtlicher Schaden entstanden ist, mit
Gefängnis bis auf drei Jahre und mit einer Geldbusse zu belegen.»
In der Botschaft des Bundesrates vom 26. Oktober 1900 an die Bundesversammlung
betreffend Abänderung des Art. 67 des Bundesgesetzes über das Bundesstrafrecht
vom 4. Februar 1853 (BBl 1900 IV S. 157 ff.) wurde folgende Fassung
vorgeschlagen:
«Gegen Beschädigung und Gefährdung des Verkehrs von Eisenbahnen, Dampfschiffen
und Postwagen gelten folgende Vorschriften:
a) wer durch irgend eine Handlung oder Unterlassung absichtlich die Sicherheit
des vom Bunde betriebenen

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bezw. konzessionierten Eisenbahn-, Dampfschiff- oder Postwagenverkehrs in
erheblicher Weise gefährdet, wird mit Gefängnis und, wenn dabei ein Mensch
bedeutend verletzt oder sonst ein erheblicher Schaden verursacht worden ist,
mit Zuchthaus bestraft;
b) wer leichtsinniger- oder fahrlässigerweise durch eine Handlung oder
Unterlassung oder durch Nichterfüllung einer ihm obliegenden Dienstpflicht
eine solche Schädigung bezw. eine derartige erhebliche Gefahr herbeiführt, ist
mit Gefängnis bis auf ein Jahr, verbunden mit Geldbusse, und wenn ein
beträchtlicher Schaden entstanden ist, mit Gefängnis bis zu drei Jahren und
mit einer Geldbusse zu belegen.
In leichteren Fällen von fahrlässiger Gefährdung oder Schädigung kann der
Richter auch blosse Geldbusse anwenden.»
Zur Begründung dieses Revisionsvorschlages wurde in der Botschaft ausgeführt:
«Diese (ursprünglichen) Gesetzesbestimmungen halten einer Prüfung auf ihre
Zulänglichkeit gegenüber den Bedürfnissen des Verkehrsschutzes nicht stand,
was sich bei der Beratung des Entwurfes für ein einheitliches schweizerisches
Strafgesetz nur zu deutlich gezeigt hat (vgl. STOOSS, Grundzüge II pag. 386
ff. und Verhandlungen der Expertenkommission zum Stooss'schen Vorentwurf Bd.
II pag. 235 ff. und 666 u. ff.). Nicht nur die Gefährdung von Eisenbahnzügen
oder von Dampfschiffen und Wagen, welche postalischen Zwecken dienen, sollte
bestraft werden, sondern die Gefährdung der Verkehrssicherheit überhaupt,
soweit dadurch das Schicksal von Menschen in Gefahr gebracht wird. Handelt es
sich dabei um Gefährdung des durch Eisenbahn oder Dampfschiffe vermittelten
Verkehrs, dann mag dieses Moment als strafschärfend in Wirksamkeit treten. Ob
eine Eisenbahn oder ein Dampfschiff oder gar ein gewöhnlicher Wagen daneben
auch zur Beförderung der Post dient, fällt für die Gemeingefährlichkeit von
Betriebsstörungen in

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keiner Weise in Betracht. Es war vielmehr, wie sich in dem Prozess betreffend
die Explosion auf dem «Mont-blanc» bei Ouchy und in andern Aufsehen erregenden
Fällen gezeigt hat, geradezu ein unheilvolles Bestreben des
Bundesgesetzgebers, die Strafbarkeit der Gefährdung davon abhängig zu machen,
ob das Fahrzeug Personen oder Warenpost fahre (STOOSS, Vorentwurf pag. 221). ­
Die jetzige Gesetzgebung zeigt sich auch darin unzulänglich, dass sie eine
Strafbarkeit nur dann annimmt, wenn Personen oder Waren gefährdet, resp.
beschädigt werden, die sich auf einer Eisenbahn, auf einem Schiffe oder
Postwagen befinden. Die Gefährdung und Schädigung der Geleiseanlagen, des
Rollmaterials der Eisenbahn, diejenige des Schiffskörpers, des Postwagens
fällt danach strafrechtlich nicht in Betracht, eine Rechtslage, die
entschieden dem wahren Willen des Gesetzgebers, wie auch den rechtlichen und
tatsächlichen Verhältnissen nicht entspricht, sondern einem Übersehen in der
Gesetzesredaktion zugeschrieben werden muss.»
Die Entstehung der heute geltenden Vorschrift ­ die gegenüber dem
bundesrätlichen Revisionsentwurf hierin nur redaktionelle Änderungen aufweist
­, lässt also darauf schliessen, dass der Gesetzgeber in Art. 67 BStR jedes
schuldhafte Verhalten unter Strafe stellen wollte, welches den technischen
Bahnbetrieb in irgend einer Beziehung derart in seinem planmässigen Verlaufe
stört, dass dadurch eine erhebliche Gefahr für irgend ein Rechtsgut begründet
wird. Die Strafbarkeit setzt also im Gegensatz zum ursprünglichen
Rechtszustand nicht mehr die Gefährdung von zum Zwecke des Transportes in
einem Postfahrzeug untergebrachten Menschen und Gütern oder auch nur solcher
Postfahrzeuge selbst voraus; Voraussetzung ist vielmehr nur, dass es sich um
eine der spezifisch dem technischen Bahnbetrieb inhärenten Gefahren für ein
erhebliches Rechtsgut handelt. Mit dieser Auslegung stimmen auch die
Materialien zu denjenigen Bestimmungen der Vorentwürfe

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zu einem schweizerischen Strafgesetzbuch überein, welche den ursprünglichen
Art. 67 BStR hätten ersetzen sollen. In den Motiven zum VE vom September 1893
führt Stooss zu den damaligen Art. 148 und 149 (Gefährdung des Eisenbahn- und
Dampfschiffbetriebes) aus: «Während das geltende schweizerische Recht den
postmässigen Personen- und Sachentransport auf Eisenbahnen und Dampfschiffen
strafrechtlich schützt, richten sich die Art. 148 und 149 des Entwurfes gegen
alle Gefährdungen des Betriebes einer Eisenbahn oder eines Dampfschiffes, ohne
Rücksicht auf den Postdienst. Denn ein Bedürfnis, den Eisenbahnen und
Dampfschiffen einen besonderen strafrechtlichen Schutz zu gewähren, liegt
deshalb vor, weil bei der Art ihres Betriebes durch elementare Kräfte jeder
sachwidrige Eingriff in denselben die entsetzlichsten Folgen nach sich ziehen
kann. Es ist nicht möglich, die einzelnen Gefährdungshandlungen zu nennen; der
Täter ist strafbar, wenn er eine Gefahr für den Betrieb vorsätzlich oder
fahrlässig herbeigeführt hat. Ob eine Eisenbahn oder ein Dampfschiff
Postdienst verrichtet, fällt für die gemeingefährlichen Störungen in keiner
Weise in Betracht und es war, wie sich an mehreren Aufsehen erregenden Fällen
gezeigt hat, ein unheilvolles Versehen des Bundesstrafgesetzgebers, die
Strafbarkeit der Gefährdung von Eisenbahnen und Dampfschiffen davon abhängig
zu machen, ob das Fahrzeug Personen- oder Sachenpost führe (S. 99); und in den
Verhandlungen vom Januar 1895 der vom eidg. Justiz- und Polizeidepartement
einberufenen Expertenkommission über den VE eines BStGB erklärte Stooss zum
damaligen Art. 166 («wer den Eisenbahn- und Dampfschiffbetrieb vorsätzlich
gefährdet»; Art. 167 behandelte dann die fahrlässige Gefährdung): «Der
Tatbestand des Art. 166 in seiner vorliegenden Fassung ist weiter als
derjenige der entsprechenden Bestimmungen der geltenden Strafgesetze. Die
geltenden Gesetze schützen den

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Transport, während der Entwurf als das zu schützende Objekt den Betrieb
bezeichnet. Dadurch wird z. B. auch die Gefährdung einer einzelnen Lokomotive
oder eines leeren Zuges getroffen. Den Begriff des Betriebes im Gesetze
festzustellen, ist äusserst schwierig. Der Richter wird in jedem Fall danach
zu entscheiden haben, ob die dem Eisenbahnbetrieb eigentümliche Gemeingefahr
herbeigeführt worden ist; Störungen, welche nicht den technischen Betrieb
betreffen, werden also nicht unter Art. 166 fallen.»
Die objektiven Voraussetzungen einer Eisenbahngefährdung im Sinne von Art. 67
BStR, so wie dieser nach dem Ausgeführten zu interpretieren ist, waren nun
zweifellos erfüllt. Durch die unrichtige Weichenstellung war der technische
Bahnbetrieb in seinem planmässigen Verlauf gestört, wodurch eine der diesem
Betrieb spezifisch inhärenten Gefahren (Zusammenstoss) begründet worden ist.
Auch muss diese Gefahr als erheblich im Sinne von Art. 67 BStR bezeichnet
werden. Denn mit dem Auslaufen der mit mehreren Personen und mit Gerätschaften
beladenen Motordraisine auf einem mit einem entgegenfahrenden Güterzug
besetzten Geleise war die Möglichkeit eines Zusammentreffens der Draisine mit
dem Zug an einem Ort geschaffen, wo infolge der Unübersichtlichkeit der
Bahnstrecke keine irgendwie sichernden oder mildernden Massnahmen mehr hätten
getroffen werden können. - Es bestand also neben der immerhin nicht völlig
ausgeschlossenen Gefahr einer Entgleisung des Güterzuges eine Gefahr für das
Leben der Draisinenfahrer und für die Draisine selbst. Diese letzteren
Gefahren allein schon sind erheblich im Sinne von Art. 67. Denn wenn bereits
die Tötung oder auch nur erhebliche Verletzung eines einzelnen Menschen oder
die Verursachung eines erheblichen Schadens allein zu Strafverschärfung führt,
so muss die Begründung der objektiven Möglichkeit des einen oder andern dieser
Schadensereignisse den einfachen Tatbestand der

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Eisenbahngefährdung erfüllen. Zudem lässt der Schlussatz von Art. 67 Abs. 2,
wonach in «leichtern Fällen» nur auf Geldbusse zu erkennen ist, darauf
schliessen, dass der Begriff der erheblichen Gefährdung nicht eng
interpretiert werden darf. Dass die Gefährdung einer Draisine den Tatbestand
des Art. 67 BStR zu erfüllen vermag, hat der Kassationshof schon in seinem
Urteil vom 20. März 1924 i.S. Spohn gegen Staatsanwaltschaft Glarus erklärt.
Nun beruft sich allerdings der Kassationskläger auf die bundesrätliche
Verordnung vom 11. November 1925 betreffend das bei Gefährdungen oder Unfällen
im Bahn oder Schiffsbetriebe zu beobachtende Verfahren, welche bestimmt:
Art. 1: «Folgende im Betriebe der Eisenbahnen und konzessionierten
Schiffahrtsunternehmungen eingetretenen Ereignisse sind anzuzeigen:
a) alle Eisenbahn- und Schiffsgefährdungen, das heisst, alle Handlungen und
Unterlassungen, durch welche die Sicherheit des Eisenbahn- oder
Schiffsverkehrs gefährdet wurde (Art. 67 des BStR, Novelle vom 5. Juni 1902);
b) alle Unfälle, die den Tod oder die erhebliche Verletzung von Reisenden,
Bahnangestellten, Schiffsbediensteten oder Drittpersonen zur Folge gehabt
haben;
c) andere Vorkommnisse, die eine wesentliche Betriebsstörung oder eine
erhebliche Beschädigung der Anlage oder des Materials der Transportanstalt
oder fremden Eigentums nach sich gezogen haben.
Art. 2: «Als erheblich im Sinne von Art. 1 lit. b ist eine Verletzung von
Personen dann anzusehen, wenn sie voraussichtlich eine Arbeitsunfähigkeit von
mehr als vierzehn Tagen zur Folge haben wird.
...
Eine Beschädigung im Sinne von Art. 1 lit. c gilt dann als erheblich, wenn der
Betrag des Schadens 1000 Franken übersteigt.»

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Der Kassationskläger ist der Meinung, durch Art. 2 der Verordnung würden die
Voraussetzungen der Erheblichkeit einer Eisenbahngefährdung abschliessend
aufgezählt. Vorliegend seien sie nicht erfüllt. Insbesondere betrage der an
der Draisine entstandene Schaden nur zirka 100 Fr. Dem ist aber vorerst
entgegenzuhalten, dass eine bundesrätliche Verordnung für das Bundesgericht
nicht verbindlich ist und ein von diesem anzuwendendes Bundesgesetz also auch
nicht verbindlich zu interpretieren vermag. Überdies ist, wie schon im BGE vom
8. Dezember 1926 i. S. Sauter u. Egger gegen Staatsanwaltschaft Aargau
ausgeführt wurde, Art. 2 der VO nicht im Sinne des Kassationsklägers zu
verstehen. Auf die Eisenbahngefährdung im Sinne von Art. 67 BStR bezieht sich
nur Art. 1 lit. a der Verordnung, während Art. 2 nur Art. 1 lit. b und c
interpretieren will, die ihrerseits nicht unter Art. 67 BStR fallende Tat
bestände beschlagen. Aus der bundesrätlichen Verordnung kann deshalb nichts
für die Auslegung der Erheblichkeit einer Eisenbahngefährdung hergeleitet
werden.
b) Es fragt sich mithin nur noch, ob die Eisenbahngefährdung vom
Kassationskläger fahrlässig verursacht worden sei. Hierbei ist zu bemerken,
dass für die Besorgung des Abfertigungs- und Weichenwärterdienstes bestimmte
Kenntnisse verlangt und hierüber Prüfungen abgenommen werden in der Meinung,
diese Kenntnisse seien für das Amt notwendig. Wenn also die Bahnverwaltung
einen hierfür nicht ausgebildeten Beamten mit der Besorgung dieser
Obliegenheiten betraut, so nimmt sie damit die Möglichkeit in Kauf, dass
infolgedessen einmal eine solche Obliegenheit nicht richtig erfüllt werden und
daraus eine erhebliche Gefahr für den Eisenbahnbetrieb entstehen könne. Sofern
die Gefährdung ausschliesslich auf die mangelnde Vorbereitung des betreffenden
Beamten zurückzuführen wäre, könnte sie jedenfalls nicht diesem zum
Verschulden angerechnet werden.

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Im vorliegenden Falle muss nun auch angenommen werden, dass einem richtig
ausgebildeten Beamten das dem Kassationskläger zur Last gelegte Versehen nicht
vorgekommen wäre, insofern also die mangelnde berufliche Ausbildung des
Letztern für den begangenen Fehler kausal gewesen ist. Allein es kann doch
nicht behauptet werden, dass das die alleinige Ursache des Vorfalles gewesen
sei. Der Kassationskläger bestreitet ja nicht, gewusst zu haben, welche Weiche
er hätte stellen müssen. Er hatte auch Zeit gehabt, um sich trotz seiner
offenbar zu geringen Gewandtheit in der Verrichtung dieser Funktionen darüber
ins Klare zu kommen. Der Vorfall ist also immerhin auf eine Fahrlässigkeit
seinerseits zurückzuführen. Sie erscheint allerdings umso geringer, als sie
den Umständen nach zu schliessen nicht auf einer Nachlässigkeit beruht,
sondern eher auf eine gewisse Aufregung darüber zurückzuführen ist, dass man
ihm eine Verrichtung zumutete, für die er sich als inkompetent erachtete. Das
alles ist aber schon von der ersten Instanz dadurch berücksichtigt worden,
dass er trotz der verhältnismässig schweren Gefährdung des Eisenbahnbetriebes
zu einer sehr geringen Busse verurteilt worden ist, die ihn in seiner Ehre in
keiner Weise zu mindern vermag.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Kassationsbeschwerde wird abgewiesen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 54 I 50
Datum : 01. Januar 1927
Publiziert : 16. Februar 1928
Quelle : Bundesgericht
Status : 54 I 50
Sachgebiet : BGE - Strafrecht und Strafvollzug
Gegenstand : Art. 67 rev. BStR. Eisenbahngefährdung ist die schuldhafte Auslösung einer dem technischen...


Gesetzesregister
OG: 125
BGE Register
54-I-50
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
schaden • obliegenheit • kassationshof • stelle • richtigkeit • gerste • schiff • aufregung • expertenkommission • wille • busse • kenntnis • gemeingefahr • eisenbahnverkehr • weisung • eisenbahn • abstimmungsbotschaft • entscheid • erfüllung der obligation • grund
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BBl
1900/IV/157