318 Staatsrecht.

IV. POLITISCHES STIMMUND W'AHLRECHT DROIT ÉLECTORAL ET DROIT DE VOTE

42. Urteil vom 22. Juni 1923 i. S. Gut und Genossen gegen Luzern,
Grossen Bat una Regierungsrat. Vorschrift eines kantonalen Gesetzes über
Wahlen und Abstimmungen, wonach jeder Stimmberechtigte vom Bureau ein
Stimmeouvert erhält und die Stimmkarte in diesem in die Urne zulegen
ist. Ordnungsoder wesentliche Verfahrensvorschrift ? Kriterien für
die Entscheidung dieser Frage. Lösung im letzteren Sinne. Verwirkung
des Rechts, das Abstimmungsergebnis wegen Nichtbeachtung der Vorschrift
anzufechten, wenn der Rekurrent eine in Verordnungsform publizierte, ihm
bekannte Anordnung des Regierungsrats, dass bei der dermaligen Abstimmung
keine Stimmcouverts verabfolgt werden , widerspruchslos hingenommen hat.

A. Am 22. September 1922 erliess der Grosse Rat des Kantons Luzern ein
neues Steuergesetz. Nachdem gegen dieses Gesetz das Referendum ergriffen
und zustandegekommen war (KV Art. 39), ordnete der Regierungsrat durch
Beschluss vom 6. Dezember, veröffentlicht im kantonalen Amtsblatt vom
8. Dezember, die Volksabstimmung auf den 28. Januar 1923 an, wobei er
u. a., abweichend vom Gesetz über Wahlen und Abstimmungen vom 31. Dezember
1918, bestimmte, dass bei der dermaligen Abstimmung keine Stimmeouverts
verabfolgt werden. § 47 des genannten Gesetzes schreibt in Art. 1 vor :
Am Bureau erhält jeder Stimmberechtigte ein verschliessbares Convert,
worauf der Gegenstand und der Tag der Verhandlung vorgemerkt sind,
sowie eine Stimmkarte mit entsprechendem Aufdruck. Nach § 48 darf, wer
Stimmkarte und Stimmcouvert bezogen hat, das Urnenlokal nicht verlassen,
bis er dieselben eingelegt hat. Die Stimmkarte wird vom

Politisches Stimmund Wahlrecht. N° 42. 319

Stimmberechtigten in das Convert gelegt : letzteres ist unter Kontrolle
des Bureaus in die Urne zu legen (5 49 Abs. 4). Stimmkarten, welche
nicht im Stimmcouvert in die Urne gelegt werden, haben keine Gültigkeit
(g 49 Abs. 5). Mehrere verschieden lautende Stimmkarteii in einem Convert
sind ungültig, mehrere gieichlautende zählen als eine Stimme (è 54).

Die Volksabstimmung vom 28. Januar 1923 ergab für das Steuergesetz
13.651 Ja und 13,688 Nein; 142 Stimmkarten waren leer und 51
ungültig. Einsehliesslich der leeren und ungültigen Karten war
das absolute Mehr 13,767. Durch Beschluss vom 2. Februar stellte
der Regierungsrat fest, dass nicht die absolute Mehrheit der an der
Abstimmung teilnehmenden Aktivbürger (KV Art. 40) sich für Verwertung
des Gesetzes ausgesprochen habe; dieses trete daher auf den in seinem
Schlussparagraphen vorgesehenen Zeitpunkt, den 1. Januar 1924, in Kraft
und sei in die amtliche Sammlung der Gesetze und Dekrete aufzunehmen.

Mit Eingabe vom 8. Februar 1923 stellten Louis Gut in Sursee und 6
weitere stimmberechtigte Bürger des Kantons Luzern beim Grossen Hat
das Gesuch : Es sei die Volksabstimmung über das Steuergesetz vom
22. September 1922, die am 28. Januar 1923 abhin stattgefunden hat,
infolge Nichtbeachtung gesetzlicher Vorschriften als ungültig zu erklären.
In der Begründung stützten sie sich darauf, dass bei der fraglichen
Abstimmung ein wesentliches gesetzliches Gültigkeitserfor-demis, nämlich
die Verwendung von Stimmeouverts, nicht beobachtet worden sei. Der
Regierungsrat beantragte in seinem Bericht vom 26. Februar, es sei
dem Kassationsgesuch, bezw. der Beschwerde keine Folge zu geben. Der
Grosse Rat beschloss in diesem Sinne am 7. März. Der Entscheid wurde den
Rekurrenten am 24. März mit schriftlicher Begründung zugestellt, aus der
hier folgendes hervorzuheben ist : Der Grosse Rat sei nicht kompetent,
die Eingabe der Rekurrenten als

320 Staatsrecht.

Kassationsbegehren zu behandeln. Aus § 85 Abs. 1 Wahlgesetz, wonach bei
Einsprüchen gegen die Wahl der Verfassungsund Grossräte, sowie gegen
die ordentliche Neuwahl der Regierungsräte, der Grosse Rat entscheidet,
lasse sich diese Kompetenz nicht durch ausdehnende Auslegung ableiten,
nachdem andererseits Abs. 2 desselben Paragraphen für die Wahlen der
Ständeräte, die Ersatzwahlen in den Regierungsrat usw. den Regierungsrat
als Rekursbehörde bezeichne und die gg 38 und 39 WahlG ihm die Erledigung
von Abstimmungsrekursen zsiuwîesen. Auch könne die Rekurskompetenz
des Grossen Rates nicht auf das ihm in Art. 51 Abs. 2 KV eingeräumte
Oberauisichtsrecht über den Regierungsrat und das Obergericht gestützt
werden. Abgesehen hievon seien auch keine gesetzlichen Kassationsgründe ,
geltend gemacht. Es werde nicht behauptet, dass in den einzelnen Gemeinden
oder bei Erwahrung des Abstimmung-skesultates durch den Regierungsrat
Unregelmässigkeiten vorgekommen seien und dass solche Unregelmässigkeiten
das Abstimmungsresultat beeinflusst hätten, was festgestellt sein müsste,
damit nach der bundesgerichtlichen Praxis Ungültigkeitsgründe angenommen
werden könnten. Die Eingabe der Rekurrenten könne nur als ,Bes chwerd e im
Sinne des kantonalen Verantwortlichkeitsgesetzes behandelt werden. Wiewohl
die Rekurrenten in dieser Beziehung schon die regierungsrätliche
Abstimmungsanordnung vom 6. Dezember 1922 hätten anfechten können und
nicht erst die Abstimmungsverhandlung vom 28. Januar 1923 nur auf die
erstere finde das Verantwortlichkeitsgesetz Anwendung so sei gleichwohl
zu der aufgeworfenen Frage materiell Stellung zu nehmen. Ob der Grosse
Rat der Beschwerde Folge zu geben habe, hänge auch hier davon ab, ob die
Nichtabgabe von Couverts auf das Ergebnis der Verbandlung von Einfluss
gewesen sei. Je mehr eine Vorschrift über das Wahlund Abstimungsverfahren
geeignet sei, ein von unerlaubten Beeinflussungen oder störenden Vor-

:-

Politisches Stimmund Wahlrecht. N° 42. 321

kommnissen freies Ergebnis zu sichern, um so mehr werde sie als solche
zwingender Natur aufzufassen sein. Die Bestimmung betreffend Abgabe
von Couverts habe zweifellos grosse Bedeutung bei Wahlen, bei denen
gedruckte Kandidatenlisten verwendet werden könnten; hier solle die
Verwendung des Couverts verhindern, dass ein Wälder mehr als eine
Liste einlege und hier habe daher das Stimmcouvert entscheidende
Bedeutung, um Missbräuche auszuschliessen. Anders liege die Sache
bei Abstimmungen, bei denen nur die amtliche Stimmkarte zulässig sei,
welche der Teilnehmer vom Bureau mit dem Stimmcouvert erhalte. Es sei
darum ausgeschlossen, dass ein Stimmender mit der Stimmkarte Missbrauch
treiben könne. Somit komme dem Convert bei Abstimmungen keine praktische
Bedeutung zu und der Regierungsrat sei berechtigt gewesen, auf die
Anwendung der bedeutungslosen Vorschrift zu verzichten. Es sei dies
aus Sparsamkeitsgründen geschehen und zwar bei der Abstimmung über das
Steuergesetz nicht. zum ersten Mal, sondern bei allen Abstimmungen seit
Herbst 1918. Irgend-weiche Störungen seien deshalb nicht vorgekommen; auch
die Rekurrenten könnten keine solchen anführen. Es sei auch auf § 39 WahlG
zu verweisen, welche Vorschrift selbst eigentliche Rechtsverletzungen bei
Wahlund Abstimmungsverhandlungennur dann als Voraussetzung der Kassation
behandle, wenn sie das Ergebnis der Verhandlungen beeinflusst hätten,
auf welchem Standpunkt auch die Praxis der Bundesbehörden stehe.

B. Am 29. März haben Louis Gut und Genossen den staatsrechtlichen Rekurs
gegen den Entscheid des Grossen Rates ergriffen, indem sie den Antrag
stellen : Es sei in Gutheissung des Rekurses die Volks-abstimmung vom
28. Januar 1923 als ungültig zu erklären und der Regierungsrat einzuladen,
über das Steuergesetz vom 22. September 1922 eine neue Volksabstimmung
anzuordnen und dabei die §§ 47 und 49 des

322 Staatsrccht .

Gesetzes über Wahlen und Abstimmungen vom 31. Dezember 1918 zu
beobachten. Es wird ausgeführt: Der Standpunkt, dass die in der
Nichtverwendung der Stimmcouverts bei der Abstimmung vom 28. Januar
liegende Gesetzesverletzung belanglos sei und keinen Einfluss auf das
Wahlresultat ausgeübt habe, sei willkürlich. Nach der bundesgerichtlichen
Praxis (BGE 42 I 57 ; SALIS Ill Nr. 1179) spiele die Frage eines solchen
Einflusses eine Rolle nur bei Beeinträchtigung des individuellen Stimmund
'Wahlrechts. Hier aber habe man es mit einer Verfahrensvorschrift zu tun,
deren Beachtung grundsätzlich als wesentliche Voraussetzung für das
Zustandekommen einer gültigen Wahl oder Abstimmung betrachtet werden
müsse, wie sich schon aus dem Wortlaut des WahlG und insbesondere
aus der Bestimmung in § 49 Abs. 5 ergebe. Ein Unterschied rischen
Wahlen und Abstimmungen dürfe dabei nicht gemacht werden, weil
auch das Gesetz ihn nicht mache.. Er Wäre auch nach der ratio der
Vorschrift nicht. berechtigt. Die Verwendung von Couverts solle vor
allem die Geheimheit der Stimmabgabe sichern. Dieser. Schutz sei
aber bei Abstimmungen ebenso Wichtig wie bei Wahlen. Dass bei den
letzteren, wo der Stimmende sich einer gedruckten Kandidatenliste
bedienen könne, dem Convert noch eine andere Funktion zukomme, sei
demgegenüber unerheblich. Als heilbar könnte der Verstoss unter diesen
Umständen nur angesehen werden, wenn die Möglichkeit der Beeinflussung des
Abstimmungsergebnisses durch ihn schlechterdings ausgeschlossen Wäre, was
man hier, angesichts des Ausgangs der Abstimmung, doch gewiss nicht sagen
könne. Dass auch schon bei früheren Abstimmungen aus Sparsamkeitsgründen
Stimmcouverts nicht verabfolgt worden seien, spiele keine Rolle. In
einem Bericht an den Grossen Rat vom Jahre 1922 über die Sanierung des
Staatshaushalts empfehle der Regierungsrat als eine der Sparmassnahmen
die Revision des Waldgesetzes in dem Sinne, dass bei blossen Ab-

Politisches Stimmund W_ahh'echt. N° 42. 323

stimmungen keine Couverts mehr verabfolgt würden. Auch er halte also
hierfür eine Änderung des Gesetzes für notwendig. Und für die Abstimmung
vom 15. April 1923 über das Armengesetz habe er die Verwendung von
Stimmcouverts wiederum angeordnet. Es wird sodann noch darzutun versucht,
dass der Grosse Rat seine Kompetenz als Rekursinstanz in wi l l k n r
l i c h e r Weise verneint habe.

C. Mit Ermächtigung des Grossen Rates hat dessen Bureau den Antrag
gestellt, es sei auf den Rekurs nicht einzutreten, eventuell sei er
als unbegründet abzuweisen. Die Anfechtung, so wird in der Begründung
ausgeführt, richte sich materiell allein gegen die Abstimmungsanordnung
des Regierungsrates vom 6. Dezember 1922. Der Regierungsrat sei in
kantonalen Abstimmungssachen einzige kantonale Rekursinstanz (W'ahlG §
39). Diese Instanz hätten die Rekurrenten nicht angegangen. Gegen den
genannten Beschluss des Regierungsrates habe den Rekurrenten auch die
Beschwerde nach dem Verantwortlichkeitsgesetz offen gestanden. Dabei sei
(& 27) der Regierungsrat selber wiederum erste Beschwerdeinstanz, und
der Grosse Rat könne erst angerufen werden, nachdem der Regierungsrat
gesprochen habe. In dieser Beziehung seien somit die Rekurrenten unter
Umgehung des Regierungsrates an den Grossen Rat gelangt. Daher sei
der kantonale Instanzenzug nicht erschöpft worden ; der Regierungsrat
als allein zuständige kantonale Rekursinstanz und als erstinstanzliche
Beschwerdeinstanz sei nicht begrüsst worden. Gegenüber dem materieli
angefochtenen Beschluss des Regierungsrates vom 6. (S.) Dezember wäre der
staatsrechtliche Rekurs auch verspätet. Die Anrufung einer unzuständigen
Behörde habe die Frist nicht unterbrechen können. Nachdem der Grosse Rat
sich als Rekursinstanz unzuständig erklärt habe, könnte zudem, falls
diese Auffassung sich als anfechtbar erwiese, höchstens die Aufhebung
seines Entscheides und die Rückweisung der

324 St aatsrecht.

Sache an ihn zur materiellen Erledigung in Betracht kommen, welcher Antrag
im staatsrechtlichen Rekurse gar nicht gestellt werde. Die materiellen
Ausführungen der Antwort decken sich im wesentlichen mit denjenigen des
grossrätlichen Entscheides.

Der Regierungsrat hat in seiner Vernehmlassung auf die Antwort für den
Grossen Rat verwiesen und die dort gestellten Anträge aufgenommen.

Das Bundesgerichi zieht in Erwägung :

1. Da die Rekursschrift am 29. März zur Post gegeben wurde, ist
die sechzigtägige Rekursfrist des Art. 178 Ziff. 3 OG gegenüber dem
Abstimmungsakte vom 28. Januar 1923, dessen Aufhebung beantragt wird,
auch dann gewahrt, wenn man sie vom Abstimmungstage und nicht erst
vom Entscheide des Grossen Rates fiber die Eingabe der Rekurrenten vom
8. Februar berechnet. Zu den Einwendungen, welche die Rekursantwort des
Grossen Rates im übrigen gegen die formelle Zulässigkeit des Rekurses
erhebt, braucht deshalb nicht Stellung genommen zu werden, weil dieser
auf alle Fälle aus einem anderen Grunde verworfen werden muss.

2. Zwar glauben der grossrätliche Beschluss und die Rekursantwort
zu Unrecht aus der angeblichen praktischen Bedeutnngslosigkeit der
in Betracht kommenden Vorschrift des Wahlgesetzes für Abstimmungen
bekleiten zu können, dass der Regierungsrat berechtigt gewesen sei,
auf deren Durchführung zu verzichten. Die Verwendung von Stimmcouverts
wird in Art. 47 ff. des Wahlgesetzes unbestrittenermassen allgemein,
sowohl für Wahlen als für Abstinunungen vorgeschrieben, ohne dass
Ausnahmen vorgesehen oder die Behörden ermächtigt würden in einzelnen
Fällen davon abzusehen. Ob die Bestimmung eine blosse Ordnungsvorschrift
oder aber eine wesentliche Verfahrensvorschrift sei, spielt in diesem
Zusammenhange keine Rolle. Auch als blosse Ordnungsvorschrift ist sie
für die vollziehendenPolitisches Stimmund Wahlrecht. N° 42. 325

Behörden als Befehl einer übergeordneten, der gesetzgebenden Gewalt
schlechthin verbindlich und von ihnen ohne Rücksicht auf die materielle
Berechtigung und Zweckmässigkeit der damit getroffenen Anordnung zu
beachten. Die Überzeugung, die Vorschrift habe bei Abstimmungen keinen
Wert, mag zu einer Revision des Gesetzes führen (die der Regierungsrat
denn bereits auch angeregt hat), kann aber die Behörden, solange die
Vorschrift besteht, nicht von ihrer Beobachtung entbinden.

War somit das Verfahren bei der Abstimmung vom 28. Januar 1923 insofern
offenbar gesetzwidrig, so folgt daraus freilich noch nicht ohne weiteres
die Ungiltigkeit der Abstimmung selbst. Nicht jeder Verstoss gegen das
gesetzliche Verfahren macht den aus diesem Verfahren hervorgegangenen
staatlichen Akt rechtsunwirksam. Hier wird vielmehr zu unterscheiden sein,
ob man es mit einer blossen Ordnungsvorschriftzu tun hat oder aber mit
einer wesentlichen Verfahrensvorschrift, die eine Voraussetzung für das
Zustandekommen des Aktes selbst bilden soll, und insofern wird daher
diese Frage auch im vorliegenden Falle von Bedeutung. Massgehend muss
dabei in erster Linie das kantonale Recht, die Tragweite sein, welche
es der Bestimmung heimisst, wobei wenn eine ausdrückliche ge-setzliche
Anordnung hierüber fehlt, auf die ratio der Bestimmung, den mit ihr
verfolgten Zweck zurückzugehen sein wird. Die Vorschrift, wonach dem
Stimmberechtigten neben der Stimmkarte ein Stimmcouvert zu verabfolgen,
die Karte von ihm in das Convert und letzteres in die Urne zu legen
ist, kann verschiedenen Zwecken dienen. Sie richtet sich zunächst gegen
den Wahlbetrug, indem sie verhindern will, dass jemand mehr als eine
Stimmkarte einlege. Insofern ist sie in der Tat bei Abstimmungen weniger
wichtig als bei Wahlen. Da bei jenen nur die eine, amtliche Stimmkarte
verwendet werden darf, die der Stimmberechtigte vom

AS 49 I 1923 23

326 Staatsrecht.

Bureau erhält, und der Empfänger einer solchen das Stimmlokal erst
verlassen darf, nachdem er die Karte eingelegt hat (è 48), ist die
Möglichkeit mehrfacher Stimmabgabe hier in der Tat sehr gering :
die Stimmberechtigten müssten sich die anderen Karten schon zuvor in
rechtswidriger Weise verschaffen und wer dies tut, kann sich gerade so gut
auch in den Besitz mehrerer Couverts setzen und diese einlegen. Hieraus
allein zu schliessen, dass der Bestimmung bei Abstimmungen lediglich die
Bedeutung einer Ordnungsvorschrift zukomme, geht indessen nicht an. Denn
einmal ist ihr Zweck offenbar nicht nur der eben erörterte, vielmehr
darf angenommen werden, dass sie daneben, wenn nicht vielleicht sogar in
erster Linie auch dem Schutze des Wahlund Abstimmungsgeheimnisses dienen,
dem Stimmberechtigten eine Gewähr dafür, dass die Art, wie er von seinem
Stimmrecht Gebrauch gemacht hat, unbekannt bleibe, bieten und damit der
Gefahr von Wiilensbeeinflussungen entgegentreten soll, wie denn schon der
Bundesrat die Vorschrift des früheren luzernischen Vahlgesetzes, wonach
die Couverts v e rs c h l o s s e n in die Urne gelegt werden mussten,
so aufgefasst und deshalb als wesentliche Verfahrensvorschrift erklärt
hat (Sans, 2. Aufl. III Nr 1179}. Es spricht dafür, dass das Gesetz auch
sonst auf die Verwirklichung jenes Postulates Gewicht legt, indem es
in § 50 für jedes Abstimmungslokai Zc geeignete Vorrichtungen, verlangt
durch die dafür (c gesorgt wird, re dass der stimmende das Beschreiben
der Stimmkarte ganz unkontrolliert vornehmen kann . Die Verwendung von
Couverts würde dann als weitere Garantie hinzutreten, um zu verhüten,
dass die Stimmabgabe beim Einlegen der offenen Karte den Mitgliedern
des Bureaus irgendwie bekannt wird. Von diesem Gesichtspunkte aus ist
aber die Bedeutung der Vorschrift bei Abstimmungen kaum geringer als
bei Wahlen. Sodann kann auch eine Betrachtung, wie die im grossrätlichen
Beschluss an-Politisches Stimmund Wahlrecht. N° 42. 327

gestellte offenbar nicht dazu führen, den Verstoss als materiell
unerheblich zu behandeln, wenn der Gesetzgeber selbst die Frage nach
den Wirkungen desselben positiv in einem ander-en, die Auffassung
der Bestimmung als blosse Ordnungsvorschrift ausschliessenden Sinne
geregelt hat. Dies trifft aber eben hier zu, indem § 49 letzter Absatz
des Wahlgesetzes ausdrücklich bestimmt, dass Stimmkarten, welche nicht im
StimmcouVert in die Urne gelegt werden, keine Gültigkeit haben und damit
der Einlegung der Karte ohne Couvert die Bedeutung einer rechtswirksamen
Stimmabgabe abspricht. Da die vorangehenden Vorschriften, welche die
Verwendung eines Stimmcouverts neben der Stimmkarte und die Einlegung
der letzteren im Couvert fordern, sich unbestrittenermassen nach der
Fassung des Gesetzes auf alle Abstimmungsakte, Wahlen wie Abstimmungen
im engeren Sinne beziehen, wie sie denn auch in dem vom Verfahren bei
Wahlen u n d Abstimmungen handelnden IV. Abschnitte des Gesetzes stehen,
muss auch die Sanktion des § 49 Abs. 5 mangels einer Einschränkung im
Gesetze selbst notwendigerweise auf beide bezogen werden. Der darin
unzweideutig zum Ausdruck kommende Wille aber, für beide Operationen
nicht nur hinsichtlich des Verfahrens selbst, sondern auch hinsichtlich
der Wirkungen seiner Nichtbeachtung in dieser Beziehung einheitliche
Vorschriften aufzustellen, muss auch dann massgebend sein, wenn man die
Sanktion in ihrer Anwendung auf die Abstimmungen im engeren Sinne als
zu rigoros und weitgehend ansehen wollte, was übrigens, sobald man der
Verwendung der Stimmcouverts ausser der vom Grossen Rat vorausgesetzten
noch die andere oben erörterte Funktion zuschreibt, keineswegs ohne
weiteres gesagt werden kann. Aus diesem weiteren Zweckgedanken der
Vorschrift und dem nahen Zusammengehen der Stimmen bei der vorliegenden
Abstimmung (das Gesetz konnte nur so als nicht verworfen erklärt werden,
dass zur

328 Staatsmht.

Berechnung des absoluten Mehrs die nngiltigen und leeren Stimmkarten
den Ja und Nein hinzugezählt wurden) folgt auch, dass die Beschwerde
nicht etwa deshalb abgewiesen werden kann, weil eine Beeinflussung
des Abstimmungsergebnisses durch den gerügten Verfahrensmangel nach
den Umständen schlechterdings als ausgeschlossen erscheine (nur unter
dieser Voraussetzung und nicht schon wegen mangelnden Beweises für
einen solchen Einfluss hat die bundesrechtliche Praxis bisher die
Anfechtung des Abstimmungsergehnisses wegen Verfahrensmängel als
unzulässig erklärt). Läge daher die Sache so, dass bei der Abstimmung
vom 28. Januar 1923 einfach Stimmcouverts von den Wahlbureaux mangels
Zurverfügungsstellung durch das Justizdepartement (è 65 des Vahlgesetzes)
nicht ausgeteilt worden waren, so müsste der staatsrechtliehe Rekurs,
heim Vorliegen der formellen Voraussetzungen für die Ergreifung
des Rechtsmittels, gutgeheissen werden. Der vorliegende Fall bietet
nun aber die Besonderheit, dass die Abweichung vom vorgeschriebenen
Abstimmungsverfahren vom Regierungsrat in der Abstimmungsordnung,
d. h. bei Anlass der Vollziehungsmassnahmen, die er für jede
Abstimmung zu treffen hat, von vorneherein ausdrücklich angekündigt
und für den ganzen Kanton angeordnet und mit dem übrigen Inhalt jenes
Beschlusses im kantonalen Amtsblatt am 8. Dezember 1922, 7 Wochen vor
dem Abstimmungstage, bekannt gemacht worden ist. Wenn auch eine solche
Anordnung nach dem Gesagten unzulässig und materiell gesetzwidrig war, so
würde es doch zu weitgehen, ihr deshalb jede Rechtswirkung abzusprechen,
auch da, wo sich die verfügte Abweichung vom gesetzlichen Verfahren,
wie hier, nicht auf Formalitäten bezieht, die als unerlässliche
Voraussetzungen betrachtet werden müssen, um der Abstimmung überhaupt
die Bedeutung einer Feststellung des Volkswillens beimessen zu können,
sondern bloss auf eine Vor-Politisches Stimmund Wahlrecht. N ° 42. 329

schrift, die obschon sie dazu beitragen mag, diesen Willen noch
sicherer hervortreten zu lassen, doch nicht als schlechtweg notwendige
Garantie dafür betrachtet werden kann (wie schon die Umgangnahme
davon in zahlreichen anderen Kantonen beweist). Vom Bürger, der von
einer solchen Weisung erfährt und die Rekurrenten behaupten nicht,
dass sie um die fragliche Bekanntmachung nicht gewusst hätten, weshalb
ununtersucht bleiben kann, ob nicht auch in diesem Falle die durch die
amtliche Veröffentlichung gebotene Möglichkeit der Kenntnisnahme die
wirkliche Kenntnis ersetzen müsste muss vielmehr verlangt werden, dass
er im Falle seines Nichteinverständnisses mit der betreffenden Anordnung
zum mindesten bei der Behörde, von der sie ausgeht, dagegen Einsprache
erhebt und ihr so Gelegenheit gibt, darauf zurückzukommen. Unterlässt
er dies, so gibt er damit zu erkennen, dass er auf die Beachtung der
betreffenden Formvorschriften selbst kein Gewicht legt, ihnen keine
Bedeutung zumisst und kann es ihm, nachdem er so in der Behörde die
Überzeugung allgemeinen Einverständnisses mit ihrem Vorgehen hervorgerufen
hat, nicht mehr zustehen, hinterher die Abstimmung wegen Formmangels
anzufechten, weil ihm deren Ergebnis nicht passt. Es handelt sich dabei
nicht sowohl um den Verzicht _auf einen öffentlichrechtlichen An-spruch
als um eine prozessuale Bedingung für die Geltendmachung desselben, deren
Nichterfüllung die Verwirkung des Anspruchs im einzelnen Falle nach sich
zieht. Gleichwie die Verletzung wesentlicher Verfahrens-vorschriften
nicht die absolute Nichtigkeit der betreffenden kantonalen Verfügung
zur Folge hat, sondern diese vom Standpunkte des Bundesrechts aus
unanfechtbar wird, wenn sie nicht innert der Frist des Art. 178 OG durch
staatsrechtlichen Rekurs angefochten wird, so kann eine solche Verwirkung
des Anfechtungsrechtes aber auch schon aus vorhergehenden Unterlassungen
folgen, falls ein Handeln zur Geltendmachung des Rechtes

330 Staatsreeht.

vom Berechtigten zu erwarten war und nach der Natur der Sache gefordert
werden muss. Im übrigen ist in der Verwaltungsrechtswissenschaft
anerkannt, dass wenn ein allgemeiner Verzicht des Bürgers auf ein
öffentliches Recht, die Beobachtung einer öffentlichrechtlichen Vorschrift
ihm gegenüber nicht möglich ist, der Berechtigte doch die Möglichkeit hat,
von der Ausübung dieses Rechts im einzelnen Falle abzusehen und dadurch
auf den einzelnen aktuellen Anspruch zu verzichten (s. das Urteil in
Sachen Elektrizitätswerk Lonza gegen Kanton Wallis vom 10. März 1923
insbes. Erw. 3 mit Zitaten).

Demnach erkennt das Bundesgericht : Die Beschwerde wird abgewiesen.

V. NIEDERLASSUNGSFREIHEIT

LIBERTÉ D'ÉTABLISSEMENT

43. Urteil vom 28. April 1923 i. S. Bern gegen Solothurn.

Unzulässigkeit der Heimschaffung einer Familie in den Heimatkanton,
weil sie infolge gewisser Charaktereigenschaften der Familienglieder
und grosser Kinderzahl am bisherigen Wohnort keine Wohnung mehr
findet. Pflicht der Niederlassungsgemeinde für die Unterkunft der
Familie zu sorgenRecht des Heimatkantons, sich einer nach Art. 45 u . 43
BV unzulässigen Heimsehaffung durch Klage nach Art. 175 Ziff. 2 OG
zu Widersetzen.

A. Durch Zuschrift vom 26. Januar 1923 teilte der Regierungsrat von
Solothurn demjenigen von Bern mit, dass er sich erlauben werde, die in
Trimbach niedergelassene Familie Ernst Steiner von Arx, von Oeschenbach
Kantons Bern am 15. Februar 1923 zwecksNiederlassungsù-eiheit. N° 43. 331

heimatlicher Versorgung den bernischen Behörden zuzuführen.

Die Familie Steiner so wird in dem Schreiben ausgeführt - welche heute
aus den Eltern und elf Kindern im Alter von 2 bis 18 Jahren besteht,
kam im Jahre 1916 nach Trimbach. Seit ihrem dortigen Aufenthalt ist sie
bereits bei fünf verschiedenen Hauseigentümern in Miete gewesen. Mit
Ausnahme eines einzigen Falles, in welchem das von ihr bewohnte Haus
weiterveräussert wurde, führte jeweilen das unerträgliche Benehmen
der Familie Steiner zur Auflösung des Mietverhältnisses. Die zuletzt
innegehabte Wohnung ist ihr bereits im Jahre 1921 gekündigt werden. Da
"damals keine Möglichkeit zu einer anderweitigen Unterbringung dieser
Familie bestand, wurde die Kündigung durch die Mieterschutzkommission
von Olten nicht gutgeheissen. Schliesslich musste jedoch dem berechtigten
Begehren des Vermieters um Exmission der missliebigen Mietfamilie, deren
Angehörige die Hausbewohner sowie Nachbarn und Passanten mit
unflätigen Beschimpfungen überhäuften, entsprochen werden, dies umsomehr,
als zu jener Zeit in Trimbach mehrere Wohnungen leer standen. Die
Exmission erfolgte am 6. Dezember 1922; auf diesen Zeitpunkt fand die
Familie Steiner keine Unterkunft. Es wird ihr nach übereinstimmenden
Berichten des Oberamtes von Olten-Gösgen, der Gemeindebehörden und der
Kantonspolizei von Trimbach nicht mehr möglich sein, in der Gemeinde
Trimbaeh oder deren Umgebung ein Logis zu mieten, da sich voraussichtlich
kein Hauseigentümer bereit erklären wird, die wegen ihrer schlechten
Aufführung und Streitsucht überall bekannte Familie in sein Haus
aufzunehmen. Die Gemeinde Trimhaeh sah sich vorläufig gezwungen, der
Familie Steiner zur Unterbringung ihrer Möbel ein Schulzimmer im alten
Schulhaus zur Verfügung zu stellen. Steiner erweiterte jedoch sofort
die ihm eingeräumte-n Rechte; er richtete sich im Schullokal häuslich ein.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 49 I 318
Date : 22. Juni 1923
Published : 31. Dezember 1924
Source : Bundesgericht
Status : 49 I 318
Subject area : BGE - Verfassungsrecht
Subject : 318 Staatsrecht. IV. POLITISCHES STIMMUND W'AHLRECHT DROIT ÉLECTORAL ET DROIT DE


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42-I-52
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