330 Staatsrecht.

vorerst das kantonale Stenerbeschwerdeverfahren durchführen sollen.'_Sie
hat aber weder das eine, noch das andere getan. Nach dem einschlägigen
bernischen Gre setz über die Einkommenssteuer vom 18. März 1865 ging die
kantonale Steuerbeschwerde zunächst an dieBezirkssteuerkommission (g 18)
und sodann, je nach dem streitigen Steuerbetrag, weiter an die kantonale
Finanzdirektion oder an den Regierungsrat, denen derendgültige Entscheid
zustand (EUR 25). Diese letztere Kom petenzhestimmung ist jedoch durch
das kantonale Gre--

setz betreffend die Verwaltungsrechtspflege vom 31..si

Oktober 1909 dahin abgeändert werden, dass die Entscheidungen
der Bezirkssteuerkommissionen an eine kantonale Reknrskommission
weiterznziehen sind (Art.. 42), und dass gegen deren Entscheidungen als
letzte Instanz das Verwaltungsgericht angerufen werden kann

(Art. 11, Ziff. 6). Die Rekurrentin hätte somit jeden-' falls nach Empfang
des Steuerzettels vom 2. September 1918 (wenn anzunehmen Wäre. dass sie
zufolge ihrer

grundsätzlichen Bestreitung der Steuerpflicht in Biel;

Anspruch auf eine besondere Mitteilung ihrer Ein--

schätzung gehabt habe, dass ihr eine solche aber nicht schon
früher zugekommen sei) entweder den kantonalen Instanzenweg bis zum
Verwaltungsgericht durch-'laufen, oder aber unmittelbar innert der
60tägigen Frist des Art. 178 Ziff. 3 , OG an das Bundesgericht

gelangen sollen. Ihre Eingabe an die kantonale Finanz direktion vom
23. Oktober 1918 vermochte diese Rekurs si

frist nicht zu unterbrechen, da Finanzdirektion und

Regierungsrat seit der Einführung des Verwaltungs-'

gerichts in der Tat nicht mehr über Steuerbeschwerden zu entscheiden
haben, wie sich denn jene Eingabe auch gar nicht als förmliche Steuerb
e s c h w e r d e, sondem als blosses Steuern a e h l a ss g e s 11 c h
(das als. solches diebereits rechtskräftig-: Feststellung der steuer--

forderung voraussetzt) darstellt und vom Regierungs-; rate auch in diesem
Sinne behandelt werden ist. Die.ifabrikqesetz. N° 46 . Ludi

Verspä tungseinrede des Regierungsrates erweist sich demnach als
begründet.

Demnach erkennt das Bundesgericht : Auf den Rekurswird nicht eingetreten.

Vgl. auch Nr. 42. Voir aussi n° 42.

B. ST RAFBEGHT DHOlT PENAL

I. FABRIKGESETZ

LOI SUR LES FABRIQUES

46. Urteil des Kaasationshofes vom 7. Juli 1919 i. S. Schuhiabrik Baden
A.-G. u. Guggenheim gegen Rolle.

Das Fiskalstrafverfahren (BG vom 30. Juni 1849) findet bei Uebertretun'gen
des Fabrikgesetzes (FG) nicht Anwendung. Auch diekahrlässigeUebertretung
des Art. 2Abs. 3 n. 4 F G ist strafbar. Eine solche liegt vor bei einem
offenkundigen Mangel gebotener Schutzvorkehren. Straihar-

'keit der Aktiengesellschaft als solcher für Uebertretungen des
Fabrikgesetzes.

. Am 31. Oktober 1917 veruni'allte die Kassationsbeklagte Emma Rolle
als Arbeiterin der Schuhfabrik Baden-Ali. in der Weise, dass sie mit
der rechten Hand

zwischen die 7 ahnrader der von ihr bedienten sog. Egalisiermaschine
geriet, wobei ihr sämtliche Finger dieser ' Hand abgequetscht wurden. Eine
an der Maschine normalerWeise vorhandene Schutzv orrichtung, die den
Unfall ausgeschlossen hätte, war zum Zwecke ihrer Reparatur entfernt
Werden und fehlte am Uniallstag'e seit mehreren Wochen. Auf Veranlassung
der Vernniallten leitete die aar-

332 Strafrecht.

gauische StaatsanWaltsehatt gegen die Schuhfabrik resp. deren Direktor
Silvan Guggenheim eine amtliche Straluntersuchung ein, gelangte jedoch
dazu, sie wieder einzustellen, da ein strafrechtlich Verfolgbarer
Tatbestand nicht vor-liege. Hierauf erwirkte die Vernniallte gemäss § 10
des aargauischen ErgänzungsgesetZes betreifend die Straf-rechtspflege vom
7. Juli 1886 die gerichtliche Ueberweisung des Falles. Das Bezirksgericht
Baden als erste Instanz erkannte in der Hauptsache : Die Beanzeigte
und Ueberweisungsbeklagte wird wegen Zuwiderhandlung gegen Art. 2
des Bundesgesetzes betreffend die Arbeit in den Fabriken vom 22. März
1877 zu einer Busse von 50 Fr., im Falle der Nichteinbringlichkeit
derselben zu zehn Tagen Gefängnis, vollstreekbar gegen den Direk tor
Silvan Guggenheim,'geb. 1887, von Lengnau in Baden, gemäss Art. 19 des
erwähnten Bundesgesetzes verurteilt. Und das Obergericht des Kantons
Aargau (II. Abteilung) wies die von der Schuhfabrik und von Direktor
Guggenheim hiegegen ergriiîene Beschwerde mit Urteil Vom 14. Februar
1919 ab.

B. Dieses Urteil des Obergerichts haben die Schuhfabrik Baden lit.-G. und
Direktor Guggenheim gemeinsam an den Kassationshof des Bundesgerichts
weitergezogen und beantragt, es sei zu kassieren.

C. Die Kassationsbeklagte Rolle hat auf AbWeisung der Kassationsbesehwerde
angetragen. z

Der Kassationshof zieht in Erwägung:

1. Die Kassationskläger machen in erster Linie geltend, die angebliche
Zuwiderhandlung gegen Art. 2 FG qualifiziere sich als solche gegen
einen Verwaltungszweig des Bundes, und es hätte deshalb ihre Verfolgung
nach dem BG betreffend das Verfahren bei Uebertretungen fiskalischer und
polizeilicher Bundesgesetze vom 30. Juni 1849 durchgeführt werden sollen,
das durch Nichtbeachtung, speziell in seinen Art. 9 und 20, Verletzt
worden sei. Dieser Beschwerdegrund wird ohne weiteres widerlegt durch
die längst feststehende Praxis desFahrllcgesctz. N° 413. 333

Kassationshofes, wonach das sog. Fiskalstralv erfahren bei Vergehen
verwaltungspolizeilicher Natur, durch die nicht unmittelbare Rechte des
Bundes verletzt werden, und daher insbesondere bei Uebertretungen des
Fabrikgesetzes, nicht Anwendung findet (vergl. speziell AS 16 S. 283).

2. _ Im weitern wenden sich die Kassationskläger gegen die Annahme
des kantonalen Richters, dass die vorliegend in Frage kommende f ah
rl ä s s i g e Zuwiderhandlung gegen Art.2FG als solche strafbar sei,
indem sie darauf hinweisen, dass nach Art. 12 BStrR, dessen allgemeine
Norm auch für die Straftatbestände des Fabrikgesetzes gelte, die
bloss fahrlässige Erfüllung des Straftatbestandes nur bestraft werden
könne, wo der Gesetzgeber dies besonders vorschreibe, dass das aber im
Fabrikgesetz nicht geschehen sei. Auch diese Argumentation geht fehl. Die
allgemeinen Bestimmungen des Bundesgesetzes über das Bundesstralrecht
sind, wie der Kassationshol stets erklärt hat, auf Spezialgesetze mit
Stralvorsehriften ohne ausdrückliche Verweisung auf sie, zu denen das
Fabrikgesetz gehört, nicht schlechthin, sondern nur insoweit anwendbar,
als dies der Natur der Sache nach angeht (vergl. AS 43 I S. 231 f. und
die dortigen Zitate). Bei den hier in Betracht fallenden Vorschriften
des Art. 2, Abs. 3 und 4 FG (wonach Maschinenteile, die eine Gefährdung
der Arbeiter bilden , sorgfältig einzufriedigen und überhaupt zum
Schutze der Gesundheit und zur Sicherung vor Verletzungen alle jeweilen
zu Gebote stehenden Mittel anzuwenden sind), stellt die i a h r l ä s s
ig e Uebertretung der Natur der Sache nach den R eg elfall dar, und kann
daher schlechterdings nicht vom Bereiche der zugehörigen Strafbestimmung
des Art. 19 FG ausgeschlossen sein.

3. Endlich bestreiten die Kassationskläger auch zu Unrecht, dass ein
solches Verschulden vorliegend nachgewiesen sei. Nach feststehender Praxis
(vergl. z. B. AS 31 II S. 596 ff., sowie Urteil des Kassationshofes vom
27. Dezember 1917 in Sachen Clavel-Respinger gegen Staatsanwalt-scheut
Basel-Stadt, Erw. 3) kann wegen

334 Strafrecht.

_Missachtung der fraglichen Vorschriften unmittelbar, d. h. ohne
dass eine Mahnung des Fabrikinhabers durch die Aufsichtsbehörde
vorausgehen muss, bestraft Werden, sofern es sich um einen offenkundigen
Mangel der Anwendung gegebener Selmtzmittel handelt. Das ist aber
hier unzweifelhaft der Fall ; denn es ist klar, dass das Fehlen der
normalerweise vorhandenen Schutzvorrichtung der Egalisiermaschine, das
den Unfall der Kassationsbeklagten ermöglicht hat, als ein Mangel der
durch Art. 2 FG gebotenen Sicherung der Arbeiter für die Fabrikleitung
ohne Weiteres erkennbar war und dass ihr deshalb die WeitewerWendung
der Maschine, solange jene Sehutzvorkehr nicht zur Verfügung stand,
jedenfalls als Fahrlässigkeit anzurechnen ist. Und zwar konnte hiefür die
vom kantonalen Richter mit der ausgesprochenen Busse belegte Schuhfabrik
Baden A.-G. als Fabrikbesitzerin direkt verantwortlich gemacht werden,
dafür die Uebertretungen des Fabrikgesetzes auch eine Aktiengesellschaft
straffàhig ist (vergl. AS 41 I S. 538). Oh aber die eventuell verfügte
Umwandlung der Busse in Gefängnis (mit Vollstreckbarkeit gegenüber dem

Fabrikdirektor) zulässig war, obschon sie in Art. 19 FG s

nicht vorgesehen ist (vergl. Art. 151 OG), mag dahingestellt bleiben,
weil diese Bestimmung des kantonalen Urteils nicht speziell angefochten
und wohl auch praktisch belanglos ist, sodass der Kassationshof keine
Veranlassung hat, sich gemäss Art. 171 Abs. 2 OG von Amtes wegen damit
zu befassen.

Demnach erkennt der Kassalionshof : Die Kassationsbeschwerde wird
abgewiesen.

OHGANISATION _ DER nUNDESRECHTSPFMGE, (.)e(;.stls.-sx-1"10N JUDICIAIRE
EITHER-Uns-Vgl. Nr. 46. Voir n° 46.

OFDAG Offset- Formularund Fotodruck AG 3000 BernSTAATSBECHT DROIT PUBLIC

I. GLEICHHEIT VOR DEM GESETZ (RECHTSVBRWEIGERUNG) 'ÉGALITÉ DEVANT LA LO]
(DEN! DE JUSTICE)

47. Urteil vom 29. November 1919 i. S. Landwirtschaffliche
Maschinenzentrale A..-G. gegen Stà-Mi.

Reehtsverweigorung, wenn einer Fabrikunternehniung nicht das Recht
zucrkannt wird, ihre Arbeiter deswegen sofort zu entlassen, weil sie
während einiger Stunden gemeinsam die Arbeit niedergelegt haben, um an
einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen '?

A. Die Rekurrentin betreibt eine. Fabrik in Bümpliz. Das Verhältnis zu
ihren Arbeitern wird durch eine Fabrikordnung geregelt, die u. a. folgende
Bestimmunger enthält: . . .cc Art. 8. Kündigung. Gemäss schriftlichi Ver;
einbarung ist die gegenseitige Kündigung auf sech [' age festgesetzt und
kann nur auf einen Samstag erfolgen ..... Wer ohne Entschuldigung an drei
aufeinanderfolgenden Tagen fehlt, wird als ohne Kündigung ausgetreten
betrachtet Art. 14. Entlassung ohne Kündigung. . Die Direktion ist
zu sofortiger Entlassung eines Arbei- ters berechtigt bei bedeutender
Verletzung der Fabrik ordnung, insbesondere bei: a) Vfidersétzliehkeit,
. , . c) wiederholtem Blauenmachen ; ..... Montag den 7. Juli 1919
veranstaltete die Arbeiterunion Bern eine öffentliche Versammlung auf
dem Bahnhofplatz Bern, um dem zu einer Strafe verurteilten Arbeiterführer

AS 45 l 1919 23
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 45 I 331
Date : 07. Juli 1919
Published : 31. Dezember 1920
Source : Bundesgericht
Status : 45 I 331
Subject area : BGE - Verfassungsrecht
Subject : 330 Staatsrecht. vorerst das kantonale Stenerbeschwerdeverfahren durchführen sollen.'_Sie


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