546 " Familienrecht. N° 87.

87. Urteil der II. Zivilabteilung vom 21. Dezember 1916 i. S. Hubert,
Kläger, gegen Binda-rt, Beklagte.

Art. 158 Ziff. 3 ZGB schränkt die freie Disposition der Parteien
darüber, ob und inwieweit sie ein Scheidungsurteil an den obern Richter
weit-,erziehen wollen, nicht ein.

A. Die Parteien verehelichten sich am 4. September 1911 in Eich in
Luxemburg. Ihrer Ehe entsprang ein Knabe Reiner Karl, geboren den
15. August 1912. Bei Kriegsausbruch nahmen die Parteien ihren Wohnsitz
in Emmishofen im Kanton Thurgau, wo der Kläger am 28. Oktober 1915 die
vorliegende Klage gegen die Be--

klagte einleitete, mit den Begehren, die Ehe sei in An-'

wendung von Art. 142 ZGB und § 1568 BGB sofort und definitiv zu scheiden,
das aus der Ehe hervorgegangene Kind Reiner Karl dem Kläger dauernd
zur Pflege und Erziehung zuzusprechen und die Beklagte als der an der
Zerrüttung der Ehe schuldige Teil zu erklären. Die Beklagte hat sich mit
der Scheidung einverstanden erklärt, dagegen Zusprechung des Knaben an
sie und Bezeichnung des Klägers als schuldiger Teil verlangt.

B. Durch Entscheid vom-12. Juli 1916 hat das Bezirksgericht Kreuzlingen
die Ehe der Parteien gestützt auf Art. 142 ZGB und § 1568 BGB geschieden,
den Knaben Reiner Karl definitiv dem Vater zur Pflege und Erziehung
zugesprochen und die Regulierung der Oeconomica ad separaium verwiesen .

Gegen dieses Urteil appellierte die Beklagte an das Obergericht des
Kantons Thurgau mit dem einzigen Antrag, das Kind Reiner Karl sei ihr
zur Pflege und E1ziehung zu überlassen. Durch Entscheid vom 10. Oktober
1916 hat das Obergericht das erstinstanzliche Urteil aufgehoben, die
Scheidungsklage abgewiesen, der Beklagten die Gerichtskosten auferlegt und
die Parteikosten wettgeschlagen._ Famiiienrecht. N° 87. ss 547 c.ss Gegen
diesen Entscheid haben beide Parteien die Berufung an das Bundesgericht
ergriffen : ss '

a) der Kläger mit dem Antrag, die Ehe sei gänzlich zu scheiden und der
Knabe ihm zur Pflege und Erziehung zuzusprechen ,

b) die Beklagte mit dem Antrag, die Ehe sei gänzlich zu scheiden und
der Knabe ihr zur Pflege und Erziehung zu überlassen.

D. In der heutigen Verhandlung haben beide Parteien diese Anträge
wiederholt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung :

1. Da die Beklagte das die Klage gutheissende Urteil der ersten Instanz
vor der zweiten Instanz nur in Bezug auf die Zuteilung des Knaben Reiner
Karl angefochten hat und da nach der eigenen Feststellung des Obergerichts
der thurgauische Richter gemäss der Zivilprozessordnung des Kantons
Thurgau an die Anträge der Parteien gebunden ist, war vor zweiter Instanz
nur noch die Frage der Gestaltung der Elternrechte streitig. Trotzdem ist
das Obergericht auch auf die Prüfung der Frage der Scheidung eingetreten,
weil es gestützt auf Art. 158 Ziff. 3 ZGB annahm, dass wenn einmal die
Berufung erklärt werden sei, die Appellaticnsinstanz das Recht habe,
das angefochtene Urteil in toto zu überprüfen und auch in solchen
Punkten abzuändern, in denen es vonden Parteien unangefochten geblieben
sei. Dieser Auffassung kann nicht heigepflichtet werden. Art. 158 Ziff. 3
ZGB bestimmt grundsätzlich nichts anders als die Zifî. 1 des gleichen
Artikels, wonach der Richter Tatsachen, die zur Begründung einer Klage auf
Scheidung oder Trennung dienen, nur dann als erwiesen annehmen darf, wenn
er sich von deren Vorhandensein überzeugt hat. Gestützt hierauf hat zwar
der Scheidungskläger die den Scheidungsgrund bejahenden Tatsachen nach
den Regeln der Verhandlungsmaxime vorzubringen ; da im scheid ungsver-"

AS 42 n 1916 37

548 s FMenrecdt. N° 87.

fahren neben dem Einzelinteresse der Parteien auch das
Allgemeininteressedes staates im Spiele steht, hat aber der Richter alle
diese Tatsachen als bestritten zu behandeln und den Kläger auch dann
zu deren Beweis zu veranlassen, wenn der scheidungsheklagte Ehegatte
ss sie nicht bestreiten oder gar ausdrücklich zugestehen sollte weil
sonst im Falle von Zugeständnissen unwahrer Tat- sachen durch den
beklagten Teil entgegen dem Allgemeininteresse ohne Vorliegen eines
gesetzlichen Scheidungs-v grundes geschieden werden könnte. Art. 158
Zifi. 3 ZGB geht nun höchstens insofern über diesen Grundsatz hinaus,.
als er das gleiche Prinzip nieht nur für die Scheidung und Trennung,
sondern auch für diejenigen Nebenfolgen der Scheidung aufstellt,
die, wie die Kinderzuteilung, der Parteidisposition ebenfalls nicht
schlechtweg überlassen werden können. Soweit es sich dagegen nicht um
Parteierklärungen über den tatsächlichen Prozesstcfi, sondern um die
Rechtsbegehren der Parteien handelt, wird diefreie Parteidisposition
durch Art. 158 Ziii. 3 ZGB nicht eingeschränkt. Wie die Erhebung und der
Rückzug der Klage, so steht auch die Weiterziehung des Scheidungsurteils
den Parteien frei. Liegt ein die Scheidung aus-

sprechendes Urteil vor, so ist daher der obere Richter,. '

an den das Urteil nur in Bezug auf die Nebenfolgen der Scheidung
weitergezogen wird, an die Parteianträge gebunden und zur Beurteilung
der Scheidungsfrage nicht mehr hefugt. Andernfalls müsste sich
der Berufungsrichter auch dann, wenn gegen ein unterinstanzliches
Scheidungs-urteil überhaupt nicht appelliert Würde, von Amtes wegen
mit diesem Urteil befassen oder er wäre selbst dann zurFällung eines
Entscheides gehalten, wenn die an ihn weitergezogene Scheidungssache
vom Berufungskläger zurückgezogen werden wäre, wovon natürlich keine
Rede sein kann. Ist aber die Vorinstanz gestützt auf eine unrichtige
Interpretation des Art. 158 Ziff. 3 ZGB auf die Beurteilung der
Scheidungsirage eingetreten, so muss ihr die Klage abweisendes Urteil
aufgehoben und das Urteil.Familienrecht. N° Ss. : 549

der ersten Instanz, das nach den Bestimmungen des kantonalen
Zivilprozessrechtes rechtskräftig geworden war, in diesem Punkt ohne
weiteres wieder hergestellt werden.

2. Dagegen ist zu prüfen, ob der Knabe Reiner Karl, gemäss dem vor der
Vorinstanz noch streitig gewesenen Antrag der Beklagten, der Mutter oder
dem Vater zur Pflege und Erziehung zu überlassen sei .....

Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Die Berufung des Klägers wird gutgeheissen, das Urteil des
Obergerichts des Kantons Thurgau vom 10. Oktober 1916 mit Ausnahme
des Kostendispositivs aufgehoben und der Entscheid des Bezirksgerichts
Kreuzlingen vom 12. Juli 1916 Wieder hergestellt, mit dem Beifügen, dass
die Beklagte berechtigt ist, den Knaben Reiner Karl jedes Jahr während
den Sommerferien für vier aufeinanderfolgende Wochen zu sich zu nehmen.

88. Urteil der II. Zivilabteilung vom 21. Dezember 1916 i. S. E.,
Beklagter, gegen G., Klägerin.

Art. 31
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 31 - 1 Die Persönlichkeit beginnt mit dem Leben nach der vollendeten Geburt und endet mit dem Tode.
1    Die Persönlichkeit beginnt mit dem Leben nach der vollendeten Geburt und endet mit dem Tode.
2    Vor der Geburt ist das Kind unter dem Vorbehalt rechtsfähig, dass es lebendig geboren wird.
5 ZGB; Einrede des unzüchtigen Lebenswandels im Fall der Annahme
eines pretz'um stupri durch die Kindsmutter.

A. Am 24. Oktober 1915 gebar die Klägerin in Laehen-Vonwil ein
aussereheliches Kind Paul G., als dessen Vater sie den Beklagten auf
Bezahlung eines Betrages von 250 Fr. gemäss Art. 317
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 317 - Die Kantone sichern durch geeignete Vorschriften die zweckmässige Zusammenarbeit der Behörden und Stellen auf dem Gebiet des zivilrechtlichen Kindesschutzes, des Jugendstrafrechts und der übrigen Jugendhilfe.
ZGB sowie eines
Beitrages von monatlich 30 Fr. an die Kosten der Erziehung und Pflege
des Kindes, bis zu seinem zurückgelegten 18. Altersjahr, einklagte. Zur
Begründung der Klage machte die Klägerin geltend, sie habe den Beklagten
bei einer Frau B. kennen gelernt, wo sie öfters
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Document : 42 II 546
Date : 21. Dezember 1916
Published : 31. Dezember 1916
Source : Bundesgericht
Status : 42 II 546
Subject area : BGE - Zivilrecht
Subject : 546 " Familienrecht. N° 87. 87. Urteil der II. Zivilabteilung vom 21. Dezember 1916


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ZGB: 31  142  158  317
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